Als Maria überlebte: Tieffliegerunglück kostete zwei Kinder das Leben und ein Mädchen den Arm
Das waghalsige Manöver eines Wehrmachtspiloten über Lorenzenberg bei Aßling kostet 1939 zwei Kinder das Leben, ein weiteres Mädchen verliert einen Arm. Heute, 84 Jahre danach, ist dieser dramatische Flugunfall weitgehend in Vergessenheit geraten. Nun kommen Zeitzeugnisse ans Licht.
Lorenzenberg – Als der Hilfslehrer Kurt Wagner auf den Tag genau vor 84 Jahren pünktlich um 7.15 Uhr das Lorenzenberger Schulhaus aufsperrt, weiß er noch nicht, dass er gleich Zeitzeuge eines tödlichen Unglücks wird, das vom Himmel über den Ort hereinbricht. Wir schreiben den 29. Juni 1939. Zum ersten Mal ist Peter und Paul für ihn kein Feier-, sondern Schultag. Der Zweite Weltkrieg wird in zwei Monaten von Hitlerdeutschland entzündet. Und auf einem Wiesenbuckel westlich von Aßling beobachtet eine Handvoll Schulkinder gebannt die Flugmanöver eines Militärfliegers vom nahe gelegenen Luftwaffenstützpunkt Mietraching bei Bad Aibling. „Kein Kind benutzte die Gelegenheit, das Schulhaus zu betreten“, notiert Hilfslehrer Wagner in seinen „Schulgeschichtlichen Aufzeichnungen“.
Unter den Kindern auf dem Hügel ist auch Maria Spindler, neun Jahre alt und daheim beim Schmied z‘Dorfen, wie Lorenzenberg inzwischen ein Ortsteil von Aßling. Wenn Maria Zehetmair (68) heute von ihrer Mutter spricht, kommen ihr die Tränen. „Sie war eine super Mama“, sagt Zehetmair. „Ich war immer stolz auf sie!“
Als kleines Mädchen ahnt Maria nichts von ihrem Schicksal
An diesem Junimorgen 1939 auf dem Wiesenbuckel bei Lorenzenberg ahnt die kleine Maria Spindler nicht, dass sie einmal ihre große Liebe finden und fünf Kinder zur Welt bringen wird. Sie ahnt nicht, dass sie einmal im Jahr 2015 umsorgt von ihrer Familie im Alter von 85 Jahren friedlich für immer einschlafen wird. Und sie ahnt schon gar nicht, dass ihr Leben in wenigen Sekunden für immer ein anderes sein wird.
Der Hilfslehrer Kurt Wagner, zurück in seiner Dienstwohnung, ärgert sich gerade gegenüber seiner Frau über die ausbleibenden Schulkinder und die wilden Manöver des Jagdgeschwaderpiloten wenige Meter über dem Boden. Er werde den Fliegerhorst anrufen und sich beschweren. „Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als es heftig an der Eingangstüre zur Dienstwohnung schellte“, schreibt er in seinen Aufzeichnungen. „Ein Unheil ahnend, eilte ich zur Türe und fand an derselben die Schulkinder, furchtbar erregt und vollkommen von einem ungeheuren Schrecken überwältigt.“
Ein Unheil ahnend, eilte ich zur Türe und fand an derselben die Schulkinder, furchtbar erregt und vollkommen von einem ungeheuren Schrecken überwältigt.
Was er den unzusammenhängend hervorstoßenden Kinderstimmen entnimmt: Der Flieger ist in die gebannt zuschauende Kinderschar gestoßen. Die Moar Anni, der Mesner Hans und die Schmied Maria seien tot. „Ich lief sofort auf die nahe Wiese und sah das ganze Unglück.“
Als das Flugzeug davonfliegt, sind zwei Kinder tot: Pilot vorm Kriegsgericht
In seinem Monatsbericht zur innenpolitischen Lage schreibt ein paar Tage später der Regierungspräsident an die Münchner Staatskanzlei: „Die Stimmung der Bevölkerung ist trotz der Verschärfung der außenpolitischen Beziehungen unverändert zuversichtlich.“ Unter „Besondere Vorkommnisse“ folgen ein paar dürre Zeilen zu einem schweren Flugunglück, bei dem „bei einer Bodenberührung zwei Kinder der dortigen Gegend von einem Flügel erfasst und getötet wurden“. Weiter heißt es: „Der Täter ist festgestellt und dem Kriegsgericht überwiesen worden. Die Bevölkerung ist von dem Vorfall tief beeindruckt“.
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Eine bemerkenswerte Wortwahl für das Unheil, das Lorenzenberg getroffen hat. Das Flugzeug ist davongeflogen. Zwei Kinder, Anni Huber und Willi Schleipfer, liegen mit zerschmetterten Köpfen tot auf der Wiese, schildert Hilfslehrer Wagner. Auf der Hausbank des Krämerladens sitzt ein Schüler, „dem ein Teil der Kopfschwarte aufgerissen war“. Und der neunjährigen Maria Spindler fehlt der rechte Arm, offenbar in den Sog des Propellers gezogen und abgerissen.
Unglück gerät in Vergessenheit – bis ein Historiker fündig wird
Heute, 84 Jahre später, ist das Unglück, das zwei Kinderleben kostete, in der Region weitestgehend vergessen, die Quellenlage dünn. Doch als die EZ den Ebersberger Landkreishistoriker Bernhard Schäfer auf die Erzählung aufmerksam macht, findet der die in diesem Artikel zitierten Schriftstücke und ermöglicht ein Erinnern an das Schicksal der Opfer unter den Schulkindern. Und mit der Redaktion spricht Maria Zehetmair, die Tochter jener Maria Spindler, die an Peter und Paul 1939 einen Arm verliert.
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Bis das Mädchen an Mariä Verkündigung, dem 25. März 1940, aus dem Haunerschen Kinderkrankenhaus in München entlassen wird, vergehen neun Monate mit Entzündungen, Infektionen und Operationen. Deutschland hat zusammen mit der Sowjetunion Polen überrannt, befindet sich mit Großbritannien und Frankreich im Kriegszustand. Die Wehrmacht wird bald in Belgien einmarschieren. Maria Spindler überlebt. Ihren Arm ersetzt nun eine Prothese, die nicht mehr als eine optische Funktion erfüllt.
Marias Tochter: „Sie hat ihr Leben gut bewältigt.“
„Damit war sie zufrieden“, sagt ihre Tochter Maria Zehetmair heute. „Sie hat ihr Leben gut bewältigt.“ Und über ihren Vater Stefan sagt sie im übertragenen und im Wortsinn: „Er war ihre rechte Hand.“ In der Schule sei Zehetmair von Mitschülern aufgezogen worden, ihrer „behinderten“ Mama wegen. „Ich habe das nicht so empfunden“, sagt sie über die Frau, die gemeinsam mit der Familie Haushalt und Bauernhof auch einhändig im Griff gehabt habe. „Damit muss ich leben. Ich stehe meine Frau“, habe ihre Mutter schlicht gesagt.
Der Pilot, der offenbar mit seinen tollkühnen, schließlich tödlichen Manövern über Lorenzenberg eine Geliebte im Ort beeindrucken wollte, sei an die Front versetzt worden, wo er bald gefallen sei, heißt es in Martin Zillers Loitersdorfer Ortschronik. Dieser „besonders wagemutige, aber auch pflichtvergessene und ungehorsame Flugzeugführer“, so beschreibt ihn Hilfslehrer Wagner. Von der Beerdigung der getöteten beiden Schulkinder berichtet er von den Worten eines Offiziers der Flieger an die trauernden Angehörigen. Worte, die vor dem Zynismus der Nazizeit triefen. Bei allem Mitgefühl müsse man schließlich bedenken, „daß ein tollkühner Geist gerade bei den Fliegern herrschen müsse“, diese hätten ja die „harte und unerbittliche Aufgabe“, ihr „Leben einzusetzen im Kampf gegen die Feinde des deutschen Volkes“.