„Garantie für wirkliche Wende“ - Befreiung nach Abstimmungsdebakel? Das sagen Experten zu Merz' großem Kanzlerprogramm
Für Friedrich Merz war es ein grausames Wochenende. Am Freitag scheiterte sein Versuch, im Bundestag mit den Stimmen der AfD eine Asylwende zu beschließen. Samstag und Sonntag gingen dann Zehntausende in ganz Deutschland gegen diesen Versuch auf die Straße.
Mit einem Sofortprogramm für die Zeit nach der Regierungsübernahme will der Kanzlerkandidat der Union nun in die Offensive kommen. „Ich gebe den Wählerinnen und Wählern in Deutschland die Garantie, dass es in der Wirtschaftspolitik und in der Asylpolitik eine wirkliche Wende gibt“, sagte Merz der „Bild am Sonntag“. Beschließen soll das 15-Punkte-Programm am Montag der Parteitag der CDU in Berlin.
Das plant Merz in der Sicherheitspolitik
Um die Sicherheit für die Menschen rasch zu erhöhen, will Merz demnach das Zustrombegrenzungsgesetz doch noch verabschieden, das der Bundestag am Freitag abgelehnt hat.
Damit würden der Familiennachzug für subsidiär schutzberechtigte Flüchtlinge abgeschafft und die Befugnisse der Bundespolizei erweitert. Auch seinen Fünf-Punkte-Plan zur Begrenzung der irregulären Migration will Merz unverzüglich umsetzen.
„Der Plan war weniger gut vorbereitet als ein normaler Kindergeburtstag“
Zentrale Forderungen darin sind dauerhafte Grenzkontrollen, Zurückweisungen an den Grenzen und ein zeitlich unbefristeter Ausreisearrest für ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder.
Im Bundestag hat Merz dafür dank der AfD am Mittwoch bereits eine Mehrheit bekommen, aber nur in einem unverbindlichen Beschließungsantrag. Nun plant er eine gesetzliche Umsetzung.
- Gerald Knaus leitet die Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI).
Der Migrationsforscher Gerald Knaus hält das für einen schweren Fehler. „Der Plan war weniger gut vorbereitet als ein normaler Kindergeburtstag“, sagt er dem Tagesspiegel. Er werde vor Gerichten in Europa scheitern, „was nur die AfD freuen kann“.
Knaus warnt Merz davor, mit einer nationalen Notlage dauerhafte Grenzkontrollen zu begründen. Der Europäische Gerichtshof werde das nie als Grund für eine Aussetzung des Schengen-Abkommens zulassen, sagt er.
Die Hoffnung auf eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung sei „magisches Denken“, so Knaus. Ein solcher Vorstoß könne in Europa Schule machen und „letztlich das Ende des europäischen Projekts bedeuten“, warnt er.
Merz möchte außerdem, wie angekündigt, die Cannabis-Legalisierung und schnellere Einbürgerungen wieder abschaffen und die Vorratsdatenspeicherung erneut einführen. „Damit bekämpfen wir wirksam sexuellen Missbrauch von Kindern“, heißt es in dem Papier.
Merz will Lieferkettengesetz wieder abschaffen
Der Jurist Dennis-Kenji Kipker vom cyberintelligence institute in Frankfurt hält das für möglich. Der Europäische Gerichtshof habe die Anwendung der Voratsdatenspeicherung inzwischen sogar zugelassen, um Urheberrechtsvorstöße zu verhindern, sagt er dem Tagesspiegel. Damit sei es zur Bekämpfung schwerer Straftaten ebenso zulässig.
- Dennis-Kenji Kipker ist wissenschaftlicher Direktor des cyberintelligence institute in Frankfurt am Main.
Er sieht aber nur einen geringen Nutzen. „Die Vorratsdatenspeicherung wirkt nicht präventiv, sie hält Kriminelle nicht ab“, sagt Kipker. „Sie wirkt aber repressiv, indem sie die Aufklärung von Verbrechen erleichtern kann.“ Der Effekt sei jedoch gering.
Laut früherer Studien verbessere sich die Aufklärungsquote nur um 0,006 Prozent. Der Aufwand etwa für Telekommunikationsunternehmen sei dafür sehr hoch. „Er liegt im dreistelligen Millionenbereich.“
Unter anderem mit niedrigen Strompreisen soll Deutschland aus der Rezession kommen. Dafür sollen Netzentgelte und Stromsteuer gesenkt werden. Für weniger Bürokratie sollen die Bonpflicht und das deutsche Lieferkettengesetz abgeschafft werden.
„Das Papier der Union mutet an wie ein Schrotschuss schmissiger Ideen“
Um den Arbeitskräftemangel zu bekämpfen, möchte die Union Überstundenzuschläge steuerfrei stellen und arbeitenden Rentnern ein Gehalt von bis zu 2000 Euro steuerfrei stellen.
- Bert Rürup ist Ökonom und früherer Wirtschaftsweise der Bundesregierung.
Der frühere Wirtschaftsweise Bert Rürup hält das für ungenügend. „Das Papier der Union mutet an wie ein Schrotschuss schmissiger Ideen“, sagt er dem Tagesspiegel.
Die einzelnen Vorschläge seien keineswegs falsch, aber das Papier liefere keine substanziellen Antworten auf zentralen Herausforderungen des Landes und damit der nächsten Regierung.
„Wir haben keine Konjunkturkrise, unsere Volkswirtschaft ist mit einer doppelten Strukturkrise konfrontiert“, erläutert Rürup. Die Alterung der Gesellschaft und weniger Globalisierung führen dazu, dass Deutschlands Wachstumsaussichten sehr gering sind. „Auf diese Herausforderungen gibt das Sofortprogramm der Union keine Antworten“, urteilt Rürup.
Von Caspar Schwietering, Dennis Pohl
Das Original zu diesem Beitrag "Befreiungsschlag nach Abstimmungsdebakel?: Das sagen Experten zum Sofortprogramm der Union" stammt von Tagesspiegel.