Harter Angriff im Bundestag - Scholz stellt Charakterfrage: Merz-Kenner enthüllen die zwei Gesichter des CDU-Chefs

Es war für Olaf Scholz eine politische Niederlage, dass der Bundestag am Mittwoch gegen seine Regierung für Verschärfungen in der Migrationspolitik gestimmt hat. Doch für den Wahlkampf des SPD-Kanzlerkandidaten war könnte es ein Gewinn gewesen sein. Er hat vor großem Publikum die Charakterfrage bei Friedrich Merz gestellt: Der CDU-Konkurrent ist in seinen Augen ein Populist, Spieler und Wortbrecher.

Am Abend bei „Maischberger“ wiederholte Scholz die harten Vorwürfe gegen Merz, andere SPD-Politiker schlagen in eine ähnliche Kerbe. All das scheint auf die schon seit Wochen bestehende Wahlkampfstrategie der SPD einzuzahlen, Merz persönlich zu diskreditieren. Aber welche Vorwürfe gegen Merz sind überzogen – und wo ist der CDU-Chef womöglich tatsächlich übers Ziel hinausgeschossen?

Im Sauerland, wo Merz‘ Heimatstadt Brilon und sein aktueller Wohnort Arnsberg liegen, erhält man vor allem zwei Arten von Reaktionen, wenn man nach dem CDU-Chef fragt. Die einen wollen lieber gar nichts sagen. Dabei verrät ein Stirnrunzeln oder ein kurzes Lachen, dass diese Menschen von Merz wenig halten. Die anderen hingegen sind redefreudig – und ziemlich begeistert.

Merz blickt auch als Familienmensch auf Aschaffenburg

Ein junger Familienvater schwärmt von einer Begegnung mit Friedrich Merz vor einiger Zeit auf dem Marktplatz in Brilon. Als der Politiker das Kind gesehen habe, hätten seine Augen gestrahlt. Er habe sich nett mit Vater, Mutter und Tochter unterhalten, ganz ohne die Allüren, die manch anderer Spitzenpolitiker hat.

Merz ist durch und durch Familienmensch. Er hat drei Kinder und sieben Enkel. Wohl auch an die hat er gedacht, als er am 22. Januar von dem grausamen Attentat auf eine Kindergartengruppe in Aschaffenburg erfahren hat. Anders als bei manch abgestumpftem Politikern haben bei Merz die nach der Tat entstandenen Emotionen möglicherweise auch eine Rolle bei der harten Reaktion gespielt. Die hat selbst einen langjähriger politischer Freund überrascht.

„Besser für Merz, seine Emotionen zu zügeln“

Daniel Goffart, der 2024 eine Merz-Biografie veröffentlicht hat, glaubt, dass die Entscheidung, im Notfall auch mit den Stimmen der AfD zu einer Änderung der Asylpolitik zu kommen, durch Merz‘ Gefühle begründet war. „Er reagiert oft spontan und emotional“, erklärt der Journalist der „Wirtschaftswoche“ im Gespräch mit FOCUS online. Das ist eine Eigenschaft, die man durchaus auch positiv bewerten kann, insbesondere im Vergleich zu einem meist roboterhaften Kanzler Olaf Scholz.

Goffart meint: „In diesem Fall ist es nachvollziehbar, dass er sich sehr direkt und entschieden geäußert hat.“ Denn tatsächlich sei Deutschland in der Asylpolitik in den vergangenen Jahren kaum vorangekommen. „Aber als Spitzenpolitiker wäre es besser für Merz, seine Emotionen zu zügeln und die Dinge in Ruhe zu durchdenken“, mahnt Goffart, der in dem Migrationskurs auch ein Risiko sieht.

Das ist das Problem bei Merz‘ Emotionalität: Er neigt offenbar zu impulsiven Entscheidungen und schießt manchmal über das Ziel hinaus. Der „Spiegel“ schrieb im vergangenen Jahr von den „Dämonen des Friedrich Merz“. Unter anderem soll der CDU-Chef wegen eines kritischen Gastbeitrags von Parteifreund Henrik Wüst kurz vor einem spontanen Rücktritt gestanden haben. Und weil eine Abgeordnete im Bundestag bei einer Abstimmung von der Unionslinie abgewichen ist, soll Merz sie hart angegangen und bis an den Rand der Tränen gebracht haben. 

Merz liegt die Defensive nicht: „Ist sehr empfindlich“

Möglicherweise ist also an der immer wieder attestierten Impulsivität von Merz etwas dran. Sie scheint vor allem dann aufzutreten, wenn Merz in der Defensive ist: durch den Gastbeitrag, die Abweichlerin – und vielleicht auch vor seiner Migrations-Entscheidung. Denn davor sanken die Umfragewerte, der Wahlkampf wurde auch in der Union kritisiert.

Dass die Defensive nicht Merz' Lieblingsposition ist, bestätigt auch Karl Schneider. Er ist heute für die CDU Landrat im Hochsauerlandkreis und begann seine politische Karriere zusammen mit Friedrich Merz in der dortigen Jungen Union. Im Gespräch mit FOCUS online sagt er: „Manchmal ist Friedrich sehr empfindlich. Aber Angriffe muss er aushalten können. Wer austeilt, muss auch einstecken können.“

Möglicherweise war Merz deshalb im Wahlkampf lange Zeit nicht so präsent wie heute. Aus Angst zu überziehen und sich dann rechtfertigen zu müssen, verzichtete er auf Zuspitzung, glaubt Schneider. Zu diesem Zeitpunkt riet er Merz zu gezielten Angriffen gegen die politische Konkurrenz auf seinem Fachgebiet: „Ich habe Friedrich mehrfach ermuntert, dass wir gegenüber SPD und Grünen kämpferischer auftreten müssen. Wir dürfen der Ampel ihre kapitalen Fehler in der Wirtschafts- und Energiepolitik nicht durchgehen lassen."

In der CDU erzählt man Geschichten vom entspannten Merz

Merz kann aber auch tiefenentspannt sein, so zumindest erzählen es Vertraute aus der Parteiführung. Er könne auch mal das Handy weglegen und auf eine seiner Wandertouren gehen. Merz würde dann gelassen losziehen, ganz nach der Devise: Wenn die Welt untergeht, kommt die Nachricht schon irgendwie bei mir an, man muss ja nicht immer sofort reagieren. 

Nach dem Attentat in Aschaffenburg soll Merz ebenfalls versucht haben, kurz durchzuatmen. Aber auch nachdem er eine Nacht geschlafen hatte, äußerte er sich emotional. „All in“ wolle er gehen, hatte Merz gesagt und damit auch seine eigene Aussage aus dem vorigen Jahr abgeräumt, im Bundestag nicht mit der AfD zu einer Mehrheit zu kommen.

Zickzack-Kurs oder klare Linie?

Kanzler Scholz wirft Merz deshalb – aber auch darüber hinaus – einen Zickzack-Kurs vor. „Politisch kann ich keinen Zickzack-Kurs bei Merz erkennen“, entgegnet Biograf Goffart. „Merz hat seine Punkte immer sehr klargemacht, bei ihm weiß man, woran man ist.“ Auch Konkurrenten in Berlin schätzen Merz eigentlich für seine klare Linie. Gleichwohl gibt es tatsächlich Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, bei denen Merz Positionsverschiebungen vorgenommen hat. 

Im vergangenen Jahr hatte Merz zunächst geschrieben, dass wenn Russland den Terror gegen die ukrainische Bevölkerung nicht binnen 24 Stunden beende, würden unter ihm Taurus-Marschflugkörper geliefert werden. Später erklärte Merz entgegen der Wahrnehmung vieler, er habe zu keinem Zeitpunkt ein Ultimatum gestellt. 

Auch bei der Rente hat sich die Linie geändert: Im CDU-Grundsatzprogramm steht nämlich eine Erhöhung des Eintrittsalters, auch der Parteichef selbst hat das bekräftigt. Zuletzt betonte Merz jedoch, dass so etwas nicht zur Debatte stünde. 

Die Konkurrenz mit Merkel hat Spuren hinterlassen

Merz erinnert damit – zumindest in Ansätzen – an Scholz und an Angela Merkel, seine Vor-Vor-Vorgängerin als Parteivorsitzende. Beide haben immer wieder Positionsverschiebungen vorgenommen, wenn das politisch opportun war.  Merz will sich davon eigentlich weitestmöglich abgrenzen. Denn vor allem mit Merkel hat gleich ein doppeltes Problem.

Zum einen wurmt es Merz, dass sie ihn nach der Bundestagswahl 2002 als Fraktionsvorsitzenden absägte, um das Amt selbst zu übernehmen. „Das hat bei Friedrich Spuren hinterlassen“, erklärt Parteifreund Schneider. Zum anderen hält Merz Merkels offene Migrationspolitik für einen kapitalen Fehler. Die Wende nach Aschaffenburg sollte auch explizit ein „Befreiungsschlag“ von der Merkel-Politik sein, wie es in der Union heißt.

Die Ex-Kanzlerin hat das offenbar auch genau so verstanden und Merz‘ Vorgehen deshalb in einem Statement als Fehler bezeichnet. „Dass sich eine ehemalige Kanzlerin und CDU-Vorsitzende so kurz vor der Wahl in so einer wichtigen Frage gegen Merz positioniert, wird sicher eine schmerzhafte Wirkung auf ihn haben“, glaubt Goffart. Dabei habe sich das Verhältnis der beiden zuletzt eigentlich etwas gebessert. Merz war es wichtig, als CDU-Chef eine Feier zu ihrem 70. Geburtstag zu organisieren. 

Nähert sich Merz dem Trump-Vorgehen an?

Trotz der Merkel-Attacke dürfte Merz wohl unbeirrt am Freitag in eine Abstimmung über das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz gehen. Er will für seine Überzeugung kämpfen, geht eben "All in". Dann wird es wahrscheinlich erneut zu einer Mehrheit mit der AfD kommen. Für Scholz und andere bei SPD und Grünen ist das ein Zeichen, dass da einer offenbar die demokratischen Gepflogenheiten nicht ernst nimmt. 

Ihnen dürften auch Medienberichten sauer aufstoßen, nach denen es in der Union Überlegungen gibt, zumindest Teile des Auftretens von Donald Trump zu übernehmen. Wie der US-Präsident am ersten Tag seiner Amtszeit Dekrete unterschrieb, kündigte Merz an, an seinem ersten Tag als Kanzler per Richtlinienkompetenz die Migrationspolitik zu ändern.

SPD-Politiker aus Merz‘ Heimat berichtet von „ernstem“ Vorfall

Die SPD holt natürlich in dieser Wahlkampf-Phase gerne alte Geschichten über Merz hervor, die ein problematisches Bild von Merz zeichnen sollen. Franz Schrewe, der 15 Jahre lang Bürgermeister in Brilon war, erzählt von einem „ernsten“ Vorfall, der sich bei ihm eingebrannt hat: Am Ende der ersten Amtszeit verstieg sich Merz in einer Wahlkampfveranstaltung zu einem Aufruf zum „Sturm auf das rote Rathaus“. 

„Der Begriff und dessen tatsächliche Durchführung stammt aus den Monaten nach der Machtübernahme der Nazis 1933“, erklärt Schrewe im Gespräch mit FOCUS online. Das sei in vielen Archiven deutscher Städte, in denen Bürgermeister aus ihren Ämtern entlassen wurden, nachlesbar. Schrewe findet es „enttäuschend, dass einer der wichtigsten Politiker solche Worte offen ausspricht“.

Merz kommt bei Frauen schlechter an als bei Männern

Immer wieder wird Merz von Linken vorgeworfen, rückwärtsgewandt oder sogar reaktionär zu sein. Als Beispiel wird dann oft angeführt, dass er 1997 gegen einen Gesetzentwurf stimmte, der die Vergewaltigung in der Ehe ins Strafgesetzbuch aufnehmen sollte. Gerne außen vor gelassen wird dabei, dass Merz seine Meinung mittlerweile geändert hat und das auch klar kommuniziert. Solche Vorwürfe dürften trotzdem ein Grund sein, warum viele Frauen skeptisch auf Merz blicken. Dass er bei ihnen schlechter ankommt als bei Männern, zeigen Umfragen immer wieder.

Unterwegs in seiner Heimat Brilon ist davon aber nichts zu spüren. Spricht man dort mit Mitgliedern oder Sympathisanten der CDU – auch weiblichen – kommen viele ungefragt auf das Thema zu sprechen und beteuern, wie gut Merz doch mit Frauen umgehen könne. Offenbar ist man dort kritische Nachfragen schon gewohnt und räumt das Thema lieber gleich ab.

Merz setzt sich für mehr Frauen beim Parteinachwuchs ein

Merz scheint im Sauerland aber auch etwas anders an die Sache heranzugehen als in Berlin. In einem Interview im vergangenen Jahr wollte er keine paritätische Besetzung eines möglichen Kabinetts garantieren. Dabei verwies er auf die zurückgetretene SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Mit solchen Fehlbesetzungen mache man „auch den Frauen keinen Gefallen“. Die Empörung bei SPD und Grünen war daraufhin groß.

Im Sauerland hingegen, so erzählt es ein Kommunalpolitiker, sei Merz durchaus etwas an der Parität gelegen. Da die Junge Union dort ziemlich männlich gewesen sei, habe er unmissverständlich klargemacht, dass man auch mal Frauen für ein Engagement in der Partei gewinnen müsse. Eine zumindest unideologische Haltung.

„Friss oder stirb: So kann man keine Politik machen“

Sollte Merz tatsächlich Kanzler werden, wird es für ihn wichtiger denn je, auch Konflikte moderieren zu können. In einer Koalition sind diese quasi vorprogrammiert – möglicherweise auch wieder in der Asylpolitik. Viele, die den CDU-Chef kennen, trauen ihm zu, eine Koalition besser als Scholz zusammenhalten zu können. Er erkenne Probleme schon früh, erzählt ein Parteifreund aus dem Sauerland. Und auch Landrat Schneider bestätigt, dass Merz immer „hervorragend“ zwischen den unterschiedlichen Interessen in der Kreispartei vermittelt habe.

Merz-Biograf Goffart sieht die aktuelle Asyldebatte hingegen als Beispiel, wie der CDU-Chef es künftig besser nicht machen soll: „Merz ist mit einer kompromisslosen Art aufgetreten. SPD und Grünen hat er im Grunde gesagt: Friss oder stirb. So kann man keine Politik machen.“ Das Vorgehen sei unklug, weil es eine Koalition nach der Wahl erheblich erschwere.

Goffart weist auch darauf hin, dass Merz bisher meist als Einzelkämpfer unterwegs gewesen sei: als Anwalt, als Manager, als Lobbyist. „Er war kein Teamplayer und musste das auch nicht sein“, betont der Journalist. „Merz kann führen und vorangehen, aber ein Kanzler kann nur dann erfolgreich sein, wenn er auch teamfähig ist und Kompromiss finden kann.“

Merz muss zuspitzen, darf aber keine Verletzungen hinterlassen

Auch Merz‘ Parteifreund Schneider warnt davor, im politischen Kampf zu überziehen: „Auf der einen Seite muss Friedrich zuspitzen, auf der anderen Seite darf er keine Verletzungen bei den politischen Kontrahenten hinterlassen, weil er auf eine Zusammenarbeit mit ihnen noch angewiesen sein könnte.“

Glaubt man Scholz und den Aussagen aus SPD und Grünen, hat Merz mit seinem Vorgehen bei der Migrationspolitik aber genau solche Verletzungen hinterlassen. Das politische Geschick, das ihm viele zuschreiben, wird er wohl brauchen, wenn er nach der Wahl mit diesen Parteien am Verhandlungstisch sitzen wird.

Denn dass Merz trotz der heiklen Lage am Ende die Wahl gewinnen wird, bezweifelt im Moment kaum jemand in der Union. Auch sein Biograf Goffart glaubt, dass die von Scholz gestellte Charakterfrage nicht verfangen wird. „Das Scholz-Lager hat Merz ohnehin nie gemocht, das Merz-Lager lässt sich von so etwas nicht beeindrucken.“ Die Reaktion der Unentschiedenen sei schwer hervorzusagen. „Aber möglicherweise nervt es sie, dass es jetzt nicht mehr um die sachliche Auseinandersetzung in der Migrationspolitik geht, sondern um die Brandmauer und Charakterfragen.“