Gastbeitrag von Henning Beck - Der rot-grün-schwarze Befindlichkeits-Wahlkampf ist der Untergang echter Politik

Wenn Sie heute eine Diskussion beenden wollen, dann argumentieren Sie gar nicht erst. Sagen Sie lieber so etwas wie: „Hören Sie auf damit, ich fühle mich nicht wohl dabei.“ Schon können Sie selbst das vernünftigste Argument aus den Angeln heben. 

Früher musste man Belege liefern, Begründungen nachvollziehbar machen, substanziell argumentieren. Als würden Fakten reichen, um sein Gegenüber umzustimmen. Was für ein Irrtum. Heute übertrumpft jede Befindlichkeit ein Sachargument.

Belohnung oder Angst: Das sind unsere Triebfedern

Denn Menschen entscheiden nicht rational und vernünftig – so sehr wir uns auch unseres „gesunden Menschenverstands“ rühmen. Praktisch jede einzelne Entscheidung, die wir treffen, ist emotional eingefärbt. Bevor wir uns unserer Entscheidung bewusstwerden, wurde sie in unserem Kopf schon emotional begründet. 

Und zwar nach zwei Kriterien: Freuen wir uns auf etwas? Oder versuchen wir, eine Verschlechterung zu vermeiden? Einfach gesagt: Belohnung oder Angst – das sind die beiden stärksten Triebfedern des menschlichen Handelns. Und gegen ein solches Gefühl kommen Sie mit keinem Argument der Welt an.

Der emotionale Zeitgeist zieht sich durch alle Debatten

Da können Sie noch so viel mit faktisch begründbaren Statistiken argumentieren, dass die Inflation nachlässt. Wenn die „gefühlte Inflation“ weiter hoch liegt, ist allein das für die Menschen entscheidend. Die „gefühlte Sicherheit“ leidet? Keine Chance, es damit zu relativieren, dass wir heutzutage extrem sicher leben. Selbst im Wetterbericht hat die „gefühlte Temperatur“ Einzug gehalten. Die Bankrotterklärung einer der Objektivität verpflichteten Wissenschaft.

Dieser emotionale Zeitgeist zieht sich auch durch alle Politik-Talkshows und Wahlkampf-Debatten. Niemand punktet heute mit sauber belegbaren Argumenten, sondern mit dem schlagkräftigsten aller rhetorischen Mittel: der persönlichen Betroffenheit. Auch jetzt wird wieder mit solchen Gefühlen „argumentiert“ – und der politische Gegner dominiert.

Auch Grüne nutzen emotionale Betroffenheit im Wahlkampf

Da können die Grünen noch so sehr statistisch begründen, dass es weniger ausländische als deutsche Straftäter gibt und dass wir eine Nettozuwanderung brauchen, um Bevölkerungsschwund und Fachkräftemangel auszugleichen. Es nützt nämlich nichts, wenn gleichzeitig die gefühlte Sicherheit mit jedem medial intensiv bebilderten Messerangriff leidet.

Henning Beck, Jahrgang 1983, studierte Biochemie in Tübingen und wurde im Fach Neurowissenschaften promoviert. Er arbeitete an der University of California in Berkeley und publiziert regelmäßig unter anderem in der „Wirtschaftswoche“ und bei Deutschlandfunk Nova. Er hält Vorträge zu Themen wie Hirnforschung und Kreativität. Zuletzt erschien von ihm der Bestseller „12 Gesetze der Dummheit. Denkfehler, die vernünftige Entscheidungen in der Politik und bei uns allen verhindern“. Gemeinsam mit Quiz-Champion Sebastian Klussmann diskutiert Beck jeden Dienstag aktuelle Debattenthemen im Podcast „Das Duell der Besserwisser“.

Gleichzeitig wissen die Grünen allzu genau, wie man emotionale Betroffenheit als wahlkampfentscheidendes Mittel nutzt. Als sich nach dem Fukushima-Unglück 2011 auf einmal ganz Deutschland vor dem atomaren GAU gruselte, nutzte das Winfried Kretschmann aus, um zum ersten Mal grüner Ministerpräsident zu werden. Ein Dürresommer genügte sieben Jahre später, um eine gesellschaftliche Debatte für Umweltthemen zu emotionalisieren – die Grünen errangen wenige Monate danach ihr bestes Ergebnis bei einer Europawahl.

CDU will Migrationsdebatte für politisches Kapital nutzen

Gerade erleben wir live, wie die CDU ein äußerst emotionales Thema für politisches Kapital nutzen will, nämlich die Angst vor Ausländerkriminalität. Ob es am Ende erfolgreich ist, wissen wir nicht. Wohl aber, dass politische Debatten Schaden nehmen können, wenn die Emotionen über Sachargumente gestellt werden. 

Dass die von Friedrich Merz geforderten Maßnahmen rechtlich vielleicht nicht durchsetzbar sind und die europäischen Nachbarn vor den Kopf stoßen? Egal, solange man das Momentum der emotionalen Betroffenheit nutzen kann.

Jede Partei zeichnet ihr Schreckensbild

Eine klassische Methode, um die emotionale Debatte maximal aufzuladen, ist dabei die Fokussierung auf den Worst-Case, den GAU. Denn mit einem Schreckensbild lässt sich die Gefühlswelt besonders stark beeinflussen. 

Während bei den Grünen in diesem Wahlkampf die Angst vor der Klimakatastrophe oder wahlweise auch vor dem atomaren GAU dominiert, ist es bei der SPD die Angst vor dem Krieg, bei der AfD die Angst vor Zuwanderung, bei der FDP die Angst vor wirtschaftlichem Abstieg und bei den Linken die Angst vor kapitalistischer Ungerechtigkeit.

Über Gefühle verhandelt man nicht – man hat sie

Dass Friedrich Merz das Migrationsthema lange aus dem Wahlkampf herausgehalten hat, um nicht der AfD in die Hände zu spielen, gab er aus taktischen Gründen auf – um daraufhin gleich das nächste emotionale Feuer zu entfachen. So treibt man politische Auseinandersetzungen jedoch an den Rand des Shitstorms, bei dem sich die Anhänger der jeweiligen Parteien nur noch mit Vorwürfen überziehen. 

Um möglichst klar erkennbar für die eigene Wählerschaft zu werden, schärft man seine eigene Position emotional derart, dass sie zu einer Haltungs- und Wertefrage wird. So steht man sich am Ende jedoch unversöhnlich gegenüber. Denn Haltung ist keine politische Verhandlungsmasse.

Gefühle sind wichtig. Gerade in gesellschaftlichen Debatten. Aber Gefühle dürfen niemals die Hoheit in einer Diskussion erlangen. Denn über Gefühle verhandelt man nicht. Man hat sie.

Die USA sind ein mahnendes Beispiel

Wohin es führen kann, wenn man den Boden des Belegbaren verlässt und ausschließlich Ressentiments oder Befindlichkeiten die politische Schlagzahl bestimmen, sieht man in den USA. Es hat neun Jahre gedauert, bis der Begriff „postfaktisch“ – damals immerhin Wort des Jahres – zur politischen Realität geworden ist. 

Heute spielt Donald Trump die Klaviatur der Hyperemotionalisierung einer politischen Auseinandersetzung perfekt. Sein Narrativ, dass es den US-Amerikanern schlecht geht und zu „alter Größe“ zurückgeführt werden müssen, verfängt, weil es den Leuten etwas verspricht: den Aufstieg nämlich. Dabei haben die USA praktisch Vollbeschäftigung, während sich ihre Wirtschaftskraft in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt hat. Allzu schlecht geht es „Joe Sixpack“, dem Otto Normalbürger der USA, statistisch keineswegs.

Wegen Trump-Emotionen ist es fast egal, was er macht

Dass sich Donald Trump dennoch als „Anwalt der kleinen Leute“ inszeniert, ist an kognitiver Dissonanz nicht zu überbieten. Ein mit allen Wassern gewaschener, der Pornobranche nicht abgeneigter, Immobilien-Milliardär, der gleichzeitig eigene Bibeln verkauft und sich für die Arbeiterschaft auf dem amerikanischen Land einsetzt – nur für US-Amerikaner ist diese Story „zu schön, um nicht wahr zu sein“. 

Das Geniale dabei: Wenn man sich mit einer Person emotional identifiziert, wird es irgendwann fast egal, was sie macht. Selbst wenn Trump seine pompösen Versprechen nicht einhält, wird es seine Anhänger nicht kümmern. Denn wer Debatten erst maximal emotionalisiert, politische Sachthemen anschließend zur Identitäts- oder Haltungsfrage erklärt und schließlich (egal, was passiert) bei seiner Position bleibt, der wird vom Politiker zum Guru. Die Zerstörung eines politischen Diskurses ist der Kollateralschaden auf dem Weg zum totalen emotionalen Triumph.

Es fehlt an ausgleichenden Politikern

Kurzum: Wir erleben gerade die politische Machtübernahme des Gefühls. „Take back control“, riefen die Brexiteers vor einigen Jahren, um jetzt im Post-Brexit-Kater zu enden. Egal, europaweit trommeln nationalistische Bewegungen weiterhin für einen Neo-Patriotismus, während gleichzeitig linke Umweltbewegungen emotional erschüttert in die Zukunft blicken. 

Es fehlt an ausgleichenden Politikern, die zwar gleichsam emotional ihre Position vertreten, aber dennoch Raum für politischen Ausgleich lassen. Wobei: Robert Habeck lässt interessanterweise jede Hintertür zur Aussprache mit der CDU offen. Immerhin ist er geschickt genug zu wissen, dass Schwarz-Grün seine einzige Machtoption ist (sollte es nicht zu einem BSW-links-rot-grünen Bündnis reichen). Doch ob Friedrich Merz durch sein Pokerspiel im Bundestag nicht endgültig erledigt ist für rote oder grüne Mehrheiten?

„Die Menge schwankt im ungewissen Geist, dann strömt sie nach, wohin der Strom sie reißt“, schrieb Goethe in Faust II. Diese Strömung lässt sich nur emotional steuern. Hoffen wir, dass unsere Politiker nach der momentanen Wahlkampfhysterie weise genug sind, zumindest dann vernünftige Kompromisse zu schließen. Auch wenn keine Entscheidung emotionsfrei sein wird – zumindest dem souveränen Miteinander sollte sie dienen.