Mit Anti-Merz-Taktik aus Tief? - Öffentlich hetzt die SPD-Spitze über Merz und die AfD, heimlich aber freut sie sich
Hamburg-Eimsbüttel, Curio-Haus, SPD-Wahlkampf in der Heimat des Kanzlers, Samstagabend. Etwa 350 Menschen sind gekommen, um Olaf Scholz zu hören, ein paar Stühle sind frei geblieben. Erst haben sieben SPD-Bundestagskandidaten das Wort, fast alle von ihnen widmen sich dem Unions-Kanzlerkandidaten.
Dorothee Martin heizt die Stimmung im Saal an. „Friedrich Merz“, ruft sie empört, „hat weder die moralische noch die fachliche Eignung, jemals im Kanzleramt Verantwortung zu tragen.“ Donnernder Applaus. Sie wettert gegen „den Pakt der CDU mit der AfD“.
Scholz hält es ebenso. Kaum dass er die Bühne betreten hat, widmet er sich dem „furchtbaren Tabubruch“ in dieser Woche im Bundestag. Applaus.
Adenauer, sagt Scholz, „hätte das nie gemacht“, Kohl und Merkel auch nicht, wohl aber „der Merz“.
Scholz hält es sogar für möglich, dass sich Merz mit Stimmen der AfD im Bundestag zum Kanzler wählen lassen wird. „Man kann das nicht ausschließen“, sagte Scholz am Samstagabend in Hamburg auf eine entsprechende Tagesspiegel-Frage: „Er hat im November noch sehr wörtlich und detailreich beschrieben, wie und wie genau nicht die Zusammenarbeit zwischen den demokratischen Parteien im Bundestag und der AfD stattfinden soll.“ Merz habe sich „über seine eigene Ansage hinweg gesetzt.“
Deshalb sei „die Frage, was das wert ist“, wenn Merz jetzt sage, er sich nach der Bundestagswahl nicht mit den Stimmen der AfD zum Kanzler wählen lasse.
„Die Wählerinnen und Wähler müssen jetzt alles dafür tun, dass es keine schwarz-blaue Mehrheit im nächsten Bundestag geben wird“, sagte Scholz.
Klammheimliche Freude bei der SPD
Natürlich, ganz empört gibt sich die SPD über das gemeinsame Abstimmen von Union und AfD im Bundestag in dieser Woche. Heimlich aber freuen sich die Genossen und meinen endlich, ein geeignetes Wahlkampfthema gefunden zu haben.
Bundestag, Fraktionsebene, am Freitagmittag. Die SPD-Fraktion wartet auf Rolf Mützenich, schon seit gut zwei Stunden ist die Plenarsitzung unterbrochen. Fröhlich schlendert ein SPD-Abgeordneter Richtung Fraktionssaal. Hilft Merz Ihrem Wahlkampf? „Wer denkt denn schon an den 23. Februar?“, antwortet er ironisch und grinst.
Genugtuung und ein Schimmer Hoffnung für die SPD
Na klar, das ungeschickte Agieren von Merz und sein Wortbruch verschaffen der SPD drei Wochen vor der Wahl Genugtuung und wenigstens einen Schimmer Hoffnung.
Gleich am Donnerstagmorgen, um kurz nach 8 Uhr, kurz nach den Abstimmungen vom Mittwoch, versandte die SPD eine E-Mail an ihre Unterstützer. „CDU reißt die Brandmauer ein“, war die Mail überschrieben.
„Für viele Menschen ist die Union unwählbar geworden. Unsere Aufgabe ist es, sie jetzt zu überzeugen, jetzt SPD zu wählen.“ Es folgte ein Spendenaufruf.
Ebenfalls Donnerstagfrüh kursierte ein Video zum Thema Brandmauer, in dem die SPD Vorwürfe an die Union richtete. Die Parole „Seit 1863 gegen Nazis“ führte in der SPD zu der berechtigten Frage, ob es im 19. Jahrhundert schon Nazis oder die NS-Ideologie gegeben habe.
Mit dem Verweis auf die eigene stolze Geschichte macht die SPD, verständlicherweise, gern Wahlkampf. Doch kann sie sich mit einem Anti-Merz-Wahlkampf aus dem 15-Prozent-Loch befreien? Ist das Image des unbeliebten Kanzlers Olaf Scholz nicht irreparabel beschädigt?
Hoffnung auf die Aufholjagd
Bisher blieb die von Scholz immer wieder versprochene Wiederholung der Aufholjagd von 2021 aus; 2021 hatte die SPD einen Endspurt in den Umfragen hingelegt und holte am Wahlabend 25,7 Prozent. Aber: Drei Wochen vor der Wahl 2021 lag die SPD in Umfragen bereits bei 25 Prozent, und stets vor der Union. Heute hingegen liegt die Union in der für die SPD vorteilhaftesten Umfrage 13 Prozentpunkte vor der SPD.
„Wir müssen die Charakterfrage stellen“, sagt ein anderer SPD-Bundestagsabgeordneter, gemünzt auf Merz. Der könne nicht führen, breche sein Wort, habe keine Regierungserfahrung, während Scholz erfahren und nervenstark sei.
Aber ob derlei Vergleiche Scholz nun nach oben hieven? Die Umfragen der kommenden Woche gäben Aufschluss, wie es um die Wahlchancen stehe, heißt es in der SPD. Und dann sind da noch die TV-Debatten zwischen Scholz und Merz, beginnend mit dem ARD/ZDF-Duell am 9. Februar.
Man möge, sagte Merz am Freitag im Bundestag Richtung SPD, nicht nur auf den 23. Februar schauen, sondern auch auf den 24. Februar: „Da müssen wir gesprächsfähig sein und bleiben.“ Zwischenrufe und Gebrüll bei der SPD. Parteichef Lars Klingbeil hielt sich während Merz’ Rede mit (gespielter) Empörung zurück. Er wird im Zweifel schon in gut drei Wochen mit Merz über ein gemeinsames Regieren verhandeln.
Am Freitagabend, im Curio-Haus in Hamburg-Eimsbüttel, schließt übrigens keiner der sieben SPD-Bundestagskandidaten aus, mit seiner Stimme Friedrich Merz zum Kanzler zu wählen.
Von Daniel Friedrich Sturm
Das Original zu diesem Beitrag "Öffentlich empört sich SPD über Merz, doch heimlich wird gejubelt" stammt von Tagesspiegel.