Emil Büge aus Freising: Der Schmuggler der Totenlisten
Alle drei Stunden ein Toter, das notierte Emil Büge einst im KZ Sachsenhausen. Seine heimlichen Aufzeichnungen bieten bis heute wertvolle Einblicke in die dunkelste Zeit Deutschlands. Vor seiner Inhaftierung lebte und arbeitete Büge in Freising.
Freising – „Sah ich nicht noch heute Morgen einen gesunden Blockkameraden? Heute Mittag fehlt er am Tisch und abends sagt man mir, dass er tot ist. Erschlagen.“ So schrieb es Emil Büge kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nieder, um das Unaussprechliche für alle Zeit und für alle Generationen unvergessen zu machen. Büge, der vier Jahre lang im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert war, gilt nach wie vor als einer der wichtigsten Chronisten von NS-Gräueltaten hinter dem Stacheldraht.
Was allerdings die wenigsten wissen dürften: Büge wohnte und arbeitete jahrelang in Freising, wo auch seine Tochter zur Welt kam. Was in der Domstadt bis heute schmerzlich fehlt: eine Würdigung jenes Mannes, der mit der spektakulären „Büge-Liste“ in die Geschichte einging.
Kurzer Vermerk im Stadtarchiv München
Obwohl Büge, geboren 1890 in Stettin, zahlreiche Dokumente hinterlassen hat, gestaltete sich die Recherche über ihn äußerst komplex und langwierig. Erst ein kurzer Vermerk im Stadtarchiv München führte zu einer Spur nach Freising, wo Büge bereits vor 1914 wohnhaft geworden war – unter anderem in der Dallerstraße. Diesbezüglich konnte das Stadtarchiv Freising weiterhelfen – und zwar mit dem Meldebogen, auf dem auch zu lesen war, dass seine Tochter 1914 in der Domstadt zur Welt gekommen war.
Seine Aktionen waren waghalsig
Auch das konnte gut recherchiert werden: Büge war einige Jahre als Werbefachmann und Dekorateur im Freisinger Bekleidungsgeschäft Marcus Lewin angestellt. Naheliegend ist auch, dass er in Freising einen Kriminalroman mit dem Titel „Die verschwundene Braut“ geschrieben hat, der 1919 in Leipzig veröffentlicht wurde – übrigens sein einziger Roman, von dem die Öffentlichkeit weiß.
Deutlich bekannter hingegen sind seine Aufzeichnungen über den Alltag und die Gräueltaten im KZ Sachsenhausen, zu denen auch die Büge-Liste gehört. Das Erstaunliche und zugleich zutiefst Traurige und Unfassbare: Büge gelang es trotz großer Mühen nicht, seine Aufzeichnungen den Alliierten zuzuspielen oder sie später zu veröffentlichen.
Aber es kam noch schlimmer, denn Bayern entzog jenem Mann, der unter ständiger Lebensgefahr Dokumente anfertigte und aus dem KZ schmuggeln ließ, den Status eines politisch Verfolgten, womit ihm bis zu seinem Tod auch keine Rente zustand.
Wie ihm das Schmuggeln von unter anderem rund 600 Namen von ermordeten Homosexuellen aus dem KZ gelang, schilderte Büge in seinen Aufzeichnungen, die tatsächlich an einen Hollywood-Film erinnern. Eingesetzt als Hilfskraft in der Politischen Abteilung der KZ-Kommandantur nutzte Büge sein Brillenetui, um fast täglich winzige Zettel mit den Namen der Todesopfer dort zu verstecken, indem er die hauchdünnen Zettel Schicht für Schicht in das Etui klebte. Insgesamt fünf Brillenetuis wurden so verbraucht – neben seinem eigenen bastelte er sich heimlich ein Replikat und besorgte sich drei weitere von ermordeten Häftlingen. Büges Rechnung „Alle drei Stunden ein Toter“ fand dann auch 2020 Eingang in die Rede des damaligen Bundesministers Heiko Maas zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Sachsenhausens.
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Erst 2010 fanden seine Notizen Beachtung
Was damals Maas auch zitierte, waren Büges wohl eindringlichste Schilderungen der Tage im KZ: „Häftlinge, die man verhungern ließ, erfrieren, sich zu Tode arbeiten. Sie wurden geschlagen, gequält und gefoltert, erschlagen, aufgehängt, erschossen, stranguliert, vergast, vergiftet und durch andere unglaublich niederträchtige Misshandlungen zur Strecke gebracht.“
Das Tragische dabei: Büges Notizen fanden erst weit nach seinem Tod Beachtung, unter anderem durch die Publikation seiner Aufzeichnungen im Metropol-Verlag im Jahr 2010. Büge selbst, der damals aufgrund des Verdachts von Spionage ins KZ gekommen war, träumte nach dem Krieg weiter von einer Auswanderung nach Mexiko, wo er bereits vor seiner Inhaftierung Pläne zum Widerstand gegen die Nazis geschmiedet hatte. Dort, so schilderte es Büge, sei er lieber im Urwald, als in Deutschland unter „solchen Landsleuten“.
Selbstmord in einer Novembernacht
Nach den Aufzeichnungen verliert sich weitgehend die Spur von Büge, aber vieles deutet darauf hin, dass ihm die Ignoranz des Nachkriegsdeutschlands bezüglich der Aufarbeitung, wie auch seiner weitreichenden Dokumentation, schwer zugesetzt hat. In einer Novembernacht 1950 nahm sich Büge, der sich immer mit aller Kraft gegen die Faschisten gestemmt hatte, das Leben. Erst acht Jahre nach seinem Tod wurde ihm der Status als politischer Verfolgter wieder anerkannt.
Gut zu wissen
Am 17. Januar wird der Journalist und Autor Richard Lorenz in der Lesbar nicht nur über Emil Büge erzählen, sondern etwa auch über den Freisinger Fakir Tom Pirle oder den Karl- May-Freund und Domschüler Franz Kandolf. Die Lesung beginnt um 19 Uhr im Stadtcafé am Lindenkeller. Der Eintritt ist frei. Musikalische Begleitung: Lisa Fitzek.