Nach Rückschlägen im internationalen Vergleich: PISA-Offensive Bayern gibt Schulen mehr Freiheiten
Im Fokus der PISA-Offensive Bayern steht die deutliche Stärkung von Deutsch und Mathematik: So kommt in allen vier Jahrgangsstufen der Grundschule jeweils eine Stunde Deutsch hinzu, außerdem gibt es in der ersten und dritten Klasse jeweils eine zusätzliche Stunde Mathematik. Doch nicht bei allen kommt das gut an. Die neuen Regelungen sollen ab dem Schuljahr 2024/2025 gelten.
Region - Um mehr Zeit für Deutsch und Mathematik im Stundenplan zu schaffen, soll die Stundentafel laut Webseite des Kultusministeriums flexibel sein. Dafür wurden die musisch-kreativen Fächer (Musik, Kunst sowie Werken und Gestalten) in einem Fächerverbund zusammengefasst. Englisch kann zukünftig um eine Stunde gekürzt werden. Beim Sport ist in Jahrgangsstufe 1 zukünftig sogar eine Stunde mehr pro Woche möglich.
Mehr Zeit für Deutsch und Mathe: Nach Rückschlägen im internationalen Vergleich: PISA-Offensive Bayern gibt Schulen mehr Freiheiten
Kultusministerin Anna Stolz betont: „Unsere Grundschülerinnen und Grundschüler bekommen mehr Zeit für Deutsch und Mathematik. Alle Fächer bleiben erhalten. Das ist gut so, denn jedes Fach ist wichtig und trägt dazu bei, dass unsere Schülerinnen und Schüler in Bayern ganzheitliche Bildung erfahren und sich zu starken Persönlichkeiten entwickeln können.“
Die Schulen entscheiden also in Zukunft eigenverantwortlich je nach Bedürfnissen und Gegebenheiten. Damit können die Experten vor Ort nicht nur individuelle Schwerpunkte setzen, sondern ihren Unterricht künftig sogar – noch mehr als bisher – projektbezogen und fächerübergreifend planen.
Gleichzeitig will das Kultusministerium innovative Programme und Materialien zur Verfügung stellen. Zur Unterstützung der Lehrkräfte wird es zudem eine Fortbildungsoffensive mit dem Schwerpunkt Basiskompetenzen im Primarbereich geben. Weitere Bausteine des Maßnahmenpakets sind die Einführung verpflichtender Sprachtests und eine Stärkung der frühkindlichen Förderung. Ferner soll die Zusammenarbeit mit den Eltern gestärkt werden. Schließlich werden auch die Lehrpläne daraufhin überprüft, wo mehr Raum für die Basiskompetenzen geschaffen werden kann, und entsprechend überarbeitet.
Mehr Zeit für Deutsch und Mathe: Nach Rückschlägen im internationalen Vergleich: PISA-Offensive Bayern gibt Schulen mehr Freiheiten
Kritik an der PISA-Offensive gibt es von Kultur- und Musikverbänden sowie dem bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband BLLV. Letzterer sagt ganz klar Nein zu diesem Schritt des Kultusministeriums. „Wir wollen ganzheitliche Bildung – kein Streichkonzert!“, erklärt Präsidentin Simone Fleischmann auf der BLLV-Homepage. Man begrüße zwar die Stärkung der Kernkompetenzen, fordere aber eher die Stärkung der Lehrkräfte an den Grundschulen und eine Überarbeitung des Lehrplans.
Schon jetzt müssen Grundschulkinder, auch im Hinblick auf den Übertritt, sehr viel leisten, beklagen Lehrkräfte. Was die Stoffmenge angehe, sei der Lehrplan einfach zu voll. Sport- oder Musikstunden zu streichen, sei aber der falsche Weg, weil Grundschüler diesen Ausgleich dringend brauchen, sagt Sabine Bösl, verantwortlich für Schulpolitik beim BLLV. „Wir merken sehr stark, dass Kindern diese sozial-emotionale Komponente fehlt, wenn diese Fächer nicht stattfinden.“ Doch sozial-emotionale Stabilität sei in der Grundschule die Basis für das Lernen und damit eben auch fürs Lesen, Schreiben und Rechnen. Ganzheitliche Bildung bedeutet Lernen mit Herz, Kopf UND Hand – weswegen mit Blick auf Letzteres insbesondere eben nicht beim Werken und Gestalten gestrichen werden sollte.
Mehr Zeit für Deutsch und Mathe: Nach Rückschlägen im internationalen Vergleich: PISA-Offensive Bayern gibt Schulen mehr Freiheiten
Auch in unserer Redaktion löst das Thema große Diskussionen aus. Stellvertretend für das Meinungsbild beleuchten die Redakteurinnen Sabine Fleischer und Anna-Lisa Speer die Vor- und Nachteile dieser Reform.
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PRO: Erst die Pflicht, dann die Kür
Mehr Zeit für Mathe und Deutsch ist richtig! Als Mutter dreier Söhne kann ich ganz klar sagen: In diesen Fächern liegen die Grundlagen der schulischen Bildung. Ohne richtig und schnell Lesen und Schreiben zu können, tun sich die Kids in allen anderen Fächern schwer, geschweige denn in ihrem gesamten Leben. Wenn also dafür nicht genügend Zeit aufgewendet wird, wird es kritisch – das haben uns die Corona-Schulschließungen gezeigt. Und ohne ein Beherrschen der vier Grundrechenarten bleibt Mathe nicht nur ein ganzes Schulleben frustrierend. Der vielzitierte Satz „Da war ich schon immer schlecht...“ darf ein fehlendes Zahlenverständnis nicht mehr relativieren. In unserer westlichen Welt ist Mathematik unumgänglich: Angefangen beim Geld(-ausgeben) über gefordertes IT-Verständnis bis hin zur Interpretation von Zahlen und Statistiken in den Medien. Ohne Prozent und Summe ist es nicht leicht, nachhaltig zu wirtschaften. Daher begrüße ich diese Offensive.
Natürlich sind Musik, Kunst und Werken ein wichtiger Teil unserer Gesamtbildung. Kreativität, Geschicklichkeit und die Freude an Ton und Rhythmus gehören auch in die Schule. Aber: Wenn die bis dato vorhandene Zeit in der Grundschule nicht ausreicht, um entsprechende Basiskenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln, dann muss man leider ganz pragmatisch die Stundentafel umschichten. Auch für die Schule gilt: Erst die Pflicht, dann die Kür. Man könnte natürlich theoretisch die allgemeine Unterrichtszeit verlängern (schwieriges Thema hinsichtlich des Lehrermangels). Aber ein Mehr an Gesamtschulstunden möchte ich unseren Grundschulkindern nicht zumuten. Mit Hausaufgaben und Nachmittagsbetreuung sind die Kinder genügend beschäftigt.
Als Befürworter für mehr Mathe und Deutsch seien mir bei der bayerischen PISA-Offensive allerdings zwei Anmerkungen erlaubt:
1. Warum wurde ein Weniger an Religionsunterricht nicht in Betracht gezogen? Dass Sport nicht gekürzt wurde, ist in Anbetracht des Bewegungsmangels und der gesundheitlichen Folgen für unsere Kinder richtig. Dass Englisch von den Schulen um eventuell eine Wochenstunde gekürzt wird, darüber kann man diskutieren. Meine Erfahrung hat gezeigt, in den weiterführenden Schulen geht es eh‘ fast bei Null los. Dass aber der „geheiligte Religionsunterricht“ nicht auf den Prüfstand gekommen ist, kann ich nicht nachvollziehen. Scheint an der (historischen) Verbandelung Staat – Kirchen zu liegen.
2. Ein grundlegendes Problem ist und bleibt der Lehrermangel sowie die oft schlechte bauliche und mediale Ausstattung der Schulen. Ich weiß nicht, wie viele Schulstunden in einem Schuljahr ausfallen müssen, weil keine (Ersatz-)Lehrkräfte organisiert werden können. Oder eine Höchstanzahl an Schülern pro Klasse unterrichtet wird – in zu kleinen, zu warmen Klassenzimmern oder Containern. Dazu kommen noch verhaltensauffällige Schüler und Kinder mit fehlenden Sprachkenntnissen. Adäquat zu unterrichten ist heutzutage eine Mega-Aufgabe. Und wir wissen alle, wie effektiv ein guter Unterricht sein kann. Oder eben nicht, wenn die Rahmenbedingungen nicht ausreichen.
Daher geht die PISA-Offensive leider nur oberflächlich in die richtige Richtung (Stärkung von Basiskompetenzen). Was wir brauchen, sind mehr Lehrer und mehr Lehrraum. Das hat die Politik jahrelang verschlafen. Und wir Eltern nie genügend eingefordert. Sabine Fleischer
CONTRA: Stets bemüht ist auch zu wenig
Ich bin weder Mutter noch Lehrerin und noch nicht einmal mehr Schülerin, aber wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, erinnere ich mich genau daran: wie viel Freude die kreativen Fächer meinen Schulfreunden und mir bereitet haben. Es war wie eine Auszeit aus der Hektik, der Konzentration und – ich gestehe – ab und an auch der Verzweiflung, die mit einigen Fächern automatisch einherging. Während Deutsch für mich nie ein sonderliches Problem war, sah es in Mathematik ganz anders aus. Bereits in der ersten Klasse fiel es mir schwer, mich für dieses Fach zu begeistern und daran hat sich bis heute – trotz viel Nachhilfeunterricht – nichts geändert.
Es stimmt, gerade in der Grundschule wird der Grundstein für das Verständnis von Mathematik und Deutsch gelegt, es wird spielerisch herangeführt und gemeinsam erarbeitet. Lesen, Schreiben und Rechnen sind Kernkompetenzen, bei welchen die Basics mehr als sitzen sollten. Es erleichtert das weitere Leben in jeder erdenklichen Weise. Was aber, wenn das Kind tatsächlich eine Schwäche in einem davon hat? Dieses „Das konnte ich noch nie“ kommt nicht von irgendwoher. Es ist eine Erfahrung, die viele Erwachsene und Kinder auf unterschiedlichsten Gebieten teilen. Nicht der Wille zur Beherrschung hat gefehlt, sondern viel mehr die Begabung in genau diesem Fach. Ich bin mir mehr als sicher, dass zusätzliche Stunden nicht in der Lage sein werden, einen solchen Mangel auszugleichen. Sie mindern vielmehr die Motivation, für eben jenes Gebiet noch mehr Zeit aufzuwenden. Das Talent dieser Personen liegt schlichtweg auf einem anderen, nicht weniger wichtigem Gebiet. Soll es auf Teufel komm raus eingeprügelt werden? Soll aus einem Kein-Spaß-Fach ein Hass-Fach gemacht werden, nur damit im Nachhinein gesagt werden kann, man habe etwas für die „Bildung“ Bayerns Kinder getan? Und ist Bildung nicht auch etwas Übergreifendes, etwas, was alle Bereiche mit einschließen sollte?
Durch die kreativen und musischen Fächer haben die Kinder Zeit, das Gelernte zu verarbeiten und abzuspeichern. Der Kopf kann eine kleine Pause machen und sich mit Dingen beschäftigen, die mehr Platz für freies Denken lassen, mehr Spielraum für Kreativität erlauben und weniger strikte Grenzen ziehen. Kunst, Musik, Werken, all dies ist Handwerk, ist ein kurzer Moment, in dem die Möglichkeit besteht, sich vom Stress des Alltags und der Schule loszulösen und wirklich im Jetzt zu sein. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass zum Beispiel Musik einen positiven Einfluss auf Herzfrequenz und Blutdruck hat. Kunst, Musik und Werken haben einen Effekt auf das Selbstbewusstsein, stärken die Fähigkeit sich auszudrücken – sprachlich (man denke an Deutsch), aber auch emotional – und bereiten einen Weg zum eigenen Selbst, zum Kennenlernen seiner Emotionen und Fähigkeiten. Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, fächerübergreifender zu denken, denn: Musik und Pythagoras hängen zusammen, wer komponiert, rechnet, sei es bewusst oder unbewusst: eins, zwei, drei, vier und eins, zwei, drei. Eine Tonlage hoch, drei Halbtöne tiefer... Musik ist Sprache, Ausdruck und Poesie, ebenso wie Kunst. Wer mit Materialien arbeitet, rechnet. Winkel müssen stimmen, Flächen aneinander liegen, Abstände eingehalten werden. Die Feinmotorik wird geschult. Haben wir nicht bereits schon einen Mangel an Handwerkern? Wie soll ein Kind seine Liebe dazu entwickeln, wenn die Möglichkeit dazu deutlich reduziert wird? Lasst die Kinder doch Kinder sein, das Erwachsen-Sein beginnt früh genug. Stets bemüht – so wirkt diese Idee auf mich! Anna-Lisa Speer
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