Sicherheitsexperte über den Ukraine-Krieg: „Es ist gut, dass wir jetzt sagen: Mit uns nicht“
Sicherheitsexperte Lange spricht über den Ukraine-Krieg und die Rolle des Westens. Er fordert im Interview mehr Bereitschaft bei den Ukraine-Hilfen.
München – Zuletzt konnte man meinen, Russland habe in seinem Krieg gegen die Ukraine die Oberhand gewonnen. Dorf für Dorf nahmen die Kreml-Truppen im Osten des Landes ein. Doch die kleinen Erfolge haben einen hohen Preis, sagt Nico Lange (49), leitender Mitarbeiter bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Im Interview spricht der Sicherheitsexperte über die militärische Lage im Land und erklärt, warum sich der Westen von Drohungen aus dem Kreml nicht verrückt machen lassen sollte.
Frieden mit Russland? Warum die Situation im Ukraine-Krieg nicht so einfach ist
Herr Lange, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat gerade Gebietsabtretungen ins Spiel gebracht, über die aber die Ukrainer entscheiden müssten. Sucht er nun Auswege um jeden Preis, weil die militärische Lage so prekär ist?
Nein. Präsident Selenskyj weist darauf hin, dass er kein Mandat hätte, so eine Entscheidung zu treffen, weil es dafür einen Volksentscheid bräuchte. Putin will weiter die ganze Ukraine zerstören. Wir sollten nicht immer wieder dem Wunschdenken anhängen, dass die Ukraine nur etwas Land abtreten müsste, dann gäbe es Frieden. Dass es Krieg gibt, liegt an Russland, nicht an der Ukraine.
Sind die Chancen für Verhandlungen seit dem Schweizer Friedensgipfel gestiegen?
Leider tun die Partner der Ukraine nicht das, was notwendig wäre, um die Wahrscheinlichkeit von Verhandlungen zu erhöhen. Russland wird zu Gesprächen nur bereit sein, wenn es militärisch unter Druck kommt. Bis dahin greift Putin einfach weiter an. Der Ukraine zu sagen, sie solle sich um Frieden bemühen, aber ihr zugleich nicht die Stärke zu verleihen, um Russland zu Gesprächen zu bewegen, ist ein strategischer Fehler des Westens.

Sicherheitsexperte schätzt Lage im Ukraine-Krieg ein: Ukraine kämpft an mehreren Fronten
Sie haben gerade eine Analyse zur militärischen Lage veröffentlicht. Wie ist Ihre Einschätzung?
Das Bild ist gemischt. Die Ukraine hat es geschafft, die Offensive der Russen in der Region Charkiw zu stoppen und sogar zurückzuschlagen. Die Russen haben sehr hohe Verluste erlitten. Und gleichzeitig kommen die Russen im Osten der Ukraine Dorf um Dorf, Meter um Meter voran. Das geht nicht schnell, es kostete hunderte von Toten, um ein paar Meter voranzukommen. Die Ukraine verliert dort immer mehr Boden.
Meine news
Hinzu kommen die vielen russischen Luftschläge mit dem Ziel, die Lebensbedingungen der Ukrainer zu verschlechtern. Vor allem Strom gibt es kaum noch. Die Ukraine reagiert ihrerseits mit Schlägen bis nach Russland, um dort Flugzeuge oder Raffinerien auszuschalten. All das passiert gleichzeitig. Es gibt nicht nur eine Front, dieser Krieg hat mehrere Dimensionen.
Es gibt nicht nur eine Front, dieser Krieg hat mehrere Dimensionen.
„Fleischangriffe“ wirken – aber nicht ewig: Ukraine muss gegen Russland durchhalten
Sie sagen „Dorf für Dorf“. Geht Putins Rechnung also auf, weil er den längeren Atem hat?
Bisher jedenfalls geht sie nicht auf. Putin hat nach zwei Jahren Krieg keines seiner Ziele erreicht. Wir haben alle gesehen, dass die angeblich endlose Stärke der russischen Streitkräfte ein Mythos ist. Putins Vorteil ist, dass ihm die Ressource Mensch egal ist. Er lässt massenweise Leute an der Front nach vorne werfen zum Sterben. Mit diesen Fleischangriffen, wie die Russen sagen, erreichen sie einiges. Die entscheidende Frage wird sein, wie lange Russland die hohen Verluste verkraften kann.
Was glauben Sie?
Die Ukrainer gehen davon aus, dass der russische Angriff in den nächsten sechs bis acht Wochen kollabiert und sie selbst dann wieder zu lokalen Gegenstößen in der Lage sein werden. Das Verzögerungsgefecht läuft so, dass die Ukrainer die Russen gezielt angreifen lassen, um möglichst viel Abnutzung zu erreichen. Wenn man das eine Zeit lang macht, verliert man zwar an Boden, fügt der Gegenseite aber hohe Verluste zu.
Kann man sagen, wie hoch die Verluste sind?
Seit Beginn der Charkiw-Offensive Anfang Mai hat Russland etwa 1000 Soldaten am Tag verloren. Das ist natürlich brutal. Niemand außer den Russen kann das so machen, das ist schon eine speziell menschenverachtende Art der Kriegsführung. Was das Material betrifft, ist entscheidend, dass Russland seit Anfang Mai mehr gepanzerte Fahrzeuge verliert, als es aus Lagern holen oder produzieren kann.
Unterstützung aus dem Westen: F-16-Kampfjets für den Ukraine-Krieg kommen laut Sicherheitsexperten zu spät
Unbestätigten Meldungen zufolge sollen die ersten der lange ersehnten F-16-Kampfjets in der Ukraine eingetroffen sein. Welchen Effekt hätten sie?
Der große Effekt wäre, dass die Flugzeuge, mit denen die Russen bisher bis zu 100 Gleitbomben pro Tag abwerfen, auf Distanz gehalten werden könnten. Die Gefahr durch die Bomben wäre etwas gemildert. Wie schon die ATACMS-Raketen hätten die Jets eine größere Wirkung haben können, wenn man sie früher an die Ukraine gegeben hätte.
Die Unterstützung krankt noch immer am Tempo?
Die westliche Herangehensweise ist leider so, dass Politiker immer wieder die gleichen Lieferungen ankündigen und sich Applaus abholen, aber den richtigen Zeitpunkt für Lieferungen verpassen. Überhaupt folgen wir der für uns teuersten Variante. Wirtschaftlich sinnvoller wäre es, der Ukraine einmal so zu helfen, dass sie sich auf eigenem Territorium durchsetzen kann, und dann wäre Schluss. Stattdessen helfen wir immer ein bisschen, warten, was die Russen machen, helfen dann wieder ein bisschen. Das ist ein großer strategischer Fehler.
Ukraine-Hilfe nur für Eigenlob? Sicherheitsexperte kritisiert Unterstützung im Krieg gegen Russland
Aber gibt es nicht einfach Grenzen des Machbaren?
Diese Diskussion habe ich schon mehrfach erlebt. Monatelang hat man gesagt, es gebe kein Patriot-Luftabwehrsystem mehr, das man abgeben könne, und plötzlich gibt es mehrere. Warum hat man sie nicht gleich der Ukraine gegeben? Das ist bei vielen anderen Waffenkategorien ähnlich. Durch diese seltsame Kultur des Eigenlobs haben politische Entscheidungsträger es auch versäumt, die industriellen Grundlagen zu verbessern. Wir müssten mehr und schneller produzieren. Bei der Artilleriemunition hat das immerhin jetzt besser geklappt.
Was bräuchte die Ukraine derzeit am dringendsten?
Weiterhin viel Munition aller Typen. Das macht einen Unterschied, das hat man bei der Abwehr der russischen Charkiw-Offensive gesehen. Es braucht mehr Luftverteidigungssysteme. Und die Wartung und Instandsetzung der leistungsfähigen Schützenpanzer in der Ukraine muss dichter an die Front. Dazu muss man Rüstungsunternehmen in die Ukraine holen und den ukrainischen Industriesektor stärken. Nur nicht wieder so zögerlich, das muss schnell passieren.
Die Rolle der USA im Ukraine-Krieg – und was Europa laut dem Sicherheitsexperten Nico Lange tun muss
Sie waren beim Parteitag der US-Republikaner. Ihr Eindruck: Würde ein Präsident Trump Europa mit Russland alleine lassen?
Es gibt in der Partei sehr unterschiedliche Standpunkte. Wichtige Republikaner sagen, man müsste noch viel mehr tun und auch alle Restriktionen für die Nutzung westlicher Waffen aufheben. Andere sagen, die Europäer müssen sich selbst kümmern. Da ist vieles noch offen. Unabhängig davon, wer Präsident wird, ist klar, dass Europa mehr für seine eigene Sicherheit wird tun müssen. Ich wundere mich, dass das nicht längst passiert. Jede Argumentation mit Amerika wäre einfacher.
Die USA wollen Tomahawk-Raketen in Deutschland stationieren, Putin droht mit Gegenreaktion. Geraten wir gerade in eine gefährliche Spirale hinein?
Putin weiß, dass er Möglichkeiten hat, unsere Debatten und unsere Außenpolitik zu beeinflussen. Wenn ihm irgendwas an unserer Politik nicht passt, droht er mit Atomwaffen und das funktioniert leider ziemlich gut. In der Sache ist es aber doch so, dass russische Raketen aus dem Gebiet Kaliningrad seit Jahren auf uns gerichtet sind. Warum haben wir nicht schon früher etwas dagegen unternommen, dass Russland uns derart bedroht? Es ist gut, dass wir jetzt den Rücken gerade machen und sagen: Mit uns nicht.
Sicherheitsexperte Nico Lange will Einschränkungen für Ukraine bei Waffen aus dem Westen aufheben – und bleibt optimistisch
Sie fordern auch, es der Ukraine freizustellen, wie sie westliche Waffen einsetzt. Unterschätzen Sie nicht die Gefahr, die darin liegt?
Der Ukraine nicht das zu geben, was sie braucht, und ihr zugleich vorzuschreiben, wie sie unsere Waffen einsetzen darf, ist kein Erfolgsrezept. Spätestens seit britische und französische Marschflugkörper ins Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim geflogen sind, muss man doch so manche Hypothese zur angeblichen Eskalation überprüfen. Was ist für diesen Fall nicht alles vorhergesagt worden. Und was ist passiert? Die Schwarzmeerflotte hat sich zurückgezogen.
Sie sagten vor einiger Zeit, die Ukraine könne Russland militärisch besiegen. Bleiben Sie dabei?
Ja. Der Weg zum Frieden besteht darin, dass die Ukraine auf ihrem Staatsgebiet Russland militärisch besiegt. Das ist möglich. Russland hat schon große Niederlagen erlitten, zuletzt bei Charkiw. Zu glauben, wir müssten der Ukraine immer nur ein bisschen helfen, bis Putin endlich einsieht, dass sein Angriffskrieg gescheitert ist, halte ich für unrealistisch und inkonsequent. Wir müssen der Ukraine helfen zu gewinnen, das ist unser Interesse.