Der Westen oder Russland – wer hält im Ukraine-Krieg länger durch?

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Am 3. Januar zerstörten russische Raketen und Drohnen zivile Objekte in Kiew. © Chubotin Kirill/Ukrinform/ABACA/Imago

So erfolgreich die Ukraine bisher Widerstand gegen die russische Aggression geleistet hat – Moskau setzt auf Zeit und auf schwächer werdende westliche Hilfe. Die Frage, wer länger durchhält, gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Wer hat den längeren Atem im Konflikt um die Ukraine: die westlichen Helfer oder Moskau? Eigentlich müsste der Fall klar sein im Verhältnis zwischen den mächtigsten Volkswirtschaften der Welt und Russland. Doch während der russische Präsident Wladimir Putin sein Land im Alleingang auf Kriegswirtschaft gebracht hat, tun sich die westlichen Verbündeten Kiews schwer, die Widerstandskraft der Ukraine nachhaltig zu stärken.

Russland soll bereits nordkoreanische Raketen in der Ukraine eingesetzt haben und wird demnächst auch aus dem Iran Kurzstreckenraketen erhalten. Trotz eigener Produktionsprobleme eröffnet Moskau für sich also weitere Bezugsquellen für Munition und Waffen. Auf der anderen Seite steht die Ukraine, die auf den Westen angewiesen ist und bei der Munition sparsamer als Russland vorgehen muss. Denn die EU hängt mit der versprochenen Lieferung von einer Million Schuss Artilleriemunition bis März 2024 hinterher. Laut Wall Street Journal verbraucht die russische Armee aktuell 10.000 Schuss Artilleriemunition pro Tag, während die Ukraine 2.000 Schuss abfeuern kann.

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EU reagiert träge im Vergleich zu Russland

EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton stieß im Frühsommer 2023 mit seiner Forderung auf Kritik, die Europäer müssten es Russland gleichtun und die Verteidigungsindustrie ebenfalls auf Kriegswirtschaft trimmen. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius wies damals nicht nur den Begriff zurück, sondern auch die Vorstellung, dass Europas Wirtschaft den Bedürfnissen der Rüstungsindustrie untergeordnet werden müsste. Doch der Ton ändert sich. Putin steigere Russlands Rüstungsproduktion erheblich, nach offiziellen Angaben um mehr als 60 Prozent, sagte Pistorius kürzlich in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“. Die Nato und Deutschland hätten Nachholbedarf, müssten in „fünf bis acht Jahren“ bereit sein. Gemeint war eine mögliche Konfrontation mit Russland.

Moskau hat jedenfalls eine Budgetplanung für die kommenden drei Jahre vorgenommen, die dem Militär große Anteile sichert. Allein in diesem Jahr sind mehr als sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Kriegsmaschinerie vorgesehen. 2025 und 2026 soll der Anteil ebenfalls hoch bleiben. Auch wenn die Planung von zu hohen Einnahmen aus dem Exporthandel mit Öl ausgeht, so dürfte die Prämisse Putins – die Ukraine niederzuringen – erhalten bleiben.

Langfristig sei das keine gute Entwicklung für Russland, sagt die Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin Alexandra Prokopenko im Gespräch mit Table.Media. Die ehemalige Mitarbeiterin der russischen Zentralbank hatte Russland nach Kriegsbeginn im Februar 2022 verlassen und arbeitet heute als Analystin für das Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin. „Wenn sogenannte nichtproduktive Sektoren, zu denen auch die Verteidigungsindustrie gehört, zu stark finanziert werden, bremst das die Entwicklung in anderen Bereichen“, erläutert Prokopenko.

Russlands größtes Problem ist der Arbeitskräftemangel

Der Arbeitskräftemangel in Russland, der mit der Einberufung für den Krieg, der kriegsbedingten Auswanderung hunderttausender gut qualifizierter Menschen und der Abwerbung der Arbeitskräfte in die Rüstungsbranche zusammenhängt, zeigt bereits die ersten Probleme. Kurzfristig werden sie sich aber nicht spürbar auf die russische Volkswirtschaft auswirken. Kurzfristig sieht es eher für die Ukraine düster aus.

Die jüngsten Raketen- und Drohnenangriffe zielen, wie befürchtet, auf die zivile Kritische Infrastruktur. Russland versucht mit Masse die verbesserte ukrainische Luftverteidigung zu umgehen. Im Gegenzug bekommt die Ukraine von Deutschland und anderen Nato-Staaten weitere Luftverteidigungssysteme. Bei dem eilig von Kiew ersuchten Nato-Ukraine-Treffen am Mittwoch, 10. Januar, soll es noch einmal explizit um dieses Thema gehen.

Kampf in und aus der Luft wird bedeutender

Die zwei Jahre Krieg haben sowohl die Ukraine als auch Russland dazu genutzt, ihre Drohnen-Flotten zu erweitern und zu entwickeln. Verteidigung in und aus der Luft wird entsprechend die nächste Phase des Krieges stark prägen. Dass Europa die Ukraine für und vor der Frühjahrsoffensive 2023 nicht so gut gestärkt hat, wie es das hätte tun können, hängt nicht nur mit fehlenden eigenen Fertigungskapazitäten für Munition zusammen. Laut EU-Kommissar Thierry Breton exportiert Europas Rüstungsindustrie nach wie vor einen guten Teil der Produktion in Drittstaaten. Der Franzose wollte die Möglichkeit haben, die Firmen zu verpflichten, ihre Exporte zugunsten der Ukraine zu priorisieren. Doch die Mitgliedstaaten lehnten dies ab.

Frankreich und andere wiederum verhinderten, dass mit EU-Mitteln Geschosse von Herstellern außerhalb der EU eingekauft wurden. Infrage gekommen wären etwa südkoreanische Hersteller. Zudem hätten die EU-Mitglieder nur zögerlich auf die Rahmenverträge mit Rheinmetall und Co. reagiert und bisher erst wenige Bestellungen platziert, heißt es zudem in Brüssel.

Sondergipfel im Februar dürfte die Hilfe für die Ukraine absichern

Das Beispiel Munition zeigt gut, dass die Solidarität für die Ukraine zuweilen an den wirtschaftlichen Interessen der EU-Staaten endet. Thierry Breton bleibt aber zuversichtlich, dass bis zum Frühling die Produktionskapazität für Artilleriegeschosse auf eine Million pro Jahr ausgebaut werden kann. Auch das Ziel von einer Million Geschosse für die Ukraine könnte mit Verspätung erreicht werden.

Mittelfristig sieht die Perspektive für die Ukraine besser aus. EU-Ratspräsident Charles Michel hat für den 1. Februar einen Sondergipfel einberufen. Dort dürften die 50 Milliarden Euro Finanz- und Wirtschaftshilfen für die Ukraine im zweiten Anlauf beschlossen werden. 26 Mitgliedstaaten wollen dies notfalls außerhalb des EU-Haushalts tun, wenn Viktor Orbán weiterhin blockiert.

EU sollte Umgehung von Sanktionen erschweren

Grundsätzlich zeigt zwar auch die Nato keine Ermüdungserscheinungen: „Wir stehen an der Seite der Ukraine so lange wie nötig“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg nach dem letzten Nato-Ukraine-Rat. Die Nato-Staaten haben bilateral der Ukraine Militärhilfe in Höhe von 100 Milliarden Euro zugesagt, wobei die Hälfte inzwischen von den europäischen Verbündeten kommt.

Im April feiert das Bündnis sein 75-Jähriges Jubiläum und für Juli ist in Washington der nächste Gipfel geplant. Den will Joe Biden auch für seinen Wahlkampf nutzen. Die Nato-Staaten werden es sich vor diesem Hintergrund kaum leisten können, in ihrer Unterstützung nachzulassen. In Washington könnte auch Mark Rutte als derzeitiger Favorit im Rennen um die Nachfolge von Stoltenberg den Posten des Nato-Generalsekretärs formell übernehmen. Der bisherige niederländische Regierungschef steht fest an der Seite der Ukraine.

Zu viele Schlupflöcher für Sanktionen

Die USA allein werden jedoch wahrscheinlich nicht so schnell weitere große Hilfspakete der Ukraine liefern. Zumindest würden sie nicht so hoch wie 2022 und 2023 ausfallen, sagte ein Sprecher des Weißen Hauses vergangene Woche. Eine wachsende Rolle kommt also der EU zu. Zwar ist der Plan des EU-Außenbeauftragten, Josep Borrell, die Finanzierung der Militärhilfe mit 20 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre abzusichern, gescheitert. Die EU dürfte aber bald eine erste jährliche Tranche von fünf Milliarden Euro beschließen. Zudem hat Berlin allein acht Milliarden Euro an Hilfe zugesagt. Dieses Jahr dürfte die Ukraine also weitere Leopard-Kampfpanzer, Luftverteidigungssysteme und die ersten F-16 Kampfflugzeuge bekommen. Eine Koalition mit den USA, den Niederlanden, Dänemark, Norwegen und Großbritannien bildet derzeit ukrainische Piloten für die Maschine aus.

Für die EU und andere Staaten stellt sich die Frage, wie Russland weiter ökonomisch unter Druck gesetzt werden kann. Nach zwölf Sanktionspaketen gelingt es Moskau noch immer, Schlupflöcher zu finden. Wirtschaftsexpertin Alexandra Prokopenko sagt deshalb: „In diesem Jahr wird es nicht nur um neue Sanktionen, sondern um deren Durchsetzung gehen.“ Russische Unternehmen und die Regierung würden erhebliche Kräfte darauf aufwenden, die Sanktionen zu umgehen. „Ich denke, der Westen müsste aktiver an die Staaten herantreten, die Russland dabei helfen, also Kasachstan, Kirgistan, Vereinigte Arabische Emirate und die Türkei.“Von Viktor Funk

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