Erdinger Suchtberater: „Unter 16 – Finger weg vom Alkohol“

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Unter Aufsicht der Eltern dürfen bislang auch Jugendliche ab 14 Jahren ein Glas Sekt trinken. © Annette Riedl/dpa/dpa-tmn

Wird das begleitetes Trinken gekippt? Der Erdinger Prop-Leiter Thomas Pölsterl begrüßt den Lauterbach-Vorstoß und würde sogar noch weiter gehen.

Beim Familienessen am Wein nippen, auf dem Volksfest ein eigenes Radler: Das ist in Deutschland schon für Jugendliche ab 14 Jahren erlaubt – wenn sie „von einer personensorgeberechtigten Person begleitet werden“. So ist es im Jugendschutzgesetz, Paragraf 9, Absatz 2, geregelt, und das schon seit 1952. Doch nach mehr als 70 Jahren steht das „begleitete Trinken“ nun auf dem Prüfstand. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) möchte diese Regelung kippen. Eine gute Idee, findet Thomas Pölsterl, Leiter der Suchtberatungsstelle im Prop e.V. in Erding. Er würde da sogar noch deutlich weiter gehen. Laut Lauterbach birgt gerade für junge Menschen Alkohol erhebliche Gesundheitsgefahren. Deshalb sollten unter 16-Jährige, so findet er, gar nicht trinken: „Aus gesundheitspolitischer Sicht kann es zu diesem Thema keine zwei Meinungen geben. Das sogenannte begleitete Trinken sollte untersagt werden“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Komasaufen extrem zurückgegangen

Dem schließt sich Pölsterl an, auch wenn der Zeitpunkt des Vorstoßes für ihn nicht ohne Grund gewählt ist: „Dass es gerade jetzt in der politischen Diskussion ist, da ist die zeitliche Nähe zur Cannabislegalisierung nicht von der Hand zu weisen.“ Jugendliche sollten allein schon vor dem Anblick kiffender Erwachsener geschützt werden, „aber gleichzeitig dürfen sie ab 14 ihnen nicht nur beim Trinken zuschauen, sondern sogar mittrinken. Ich glaube, dass man dieses Missverhältnis mit einer Gesetzesänderung zumindest ein bisschen gerade rücken wollte.“

Pölsterls Meinung ist klar: „Jugendliche unter 16 – Finger weg vom Alkohol. Insofern unterstütze ich den Vorstoß von Lauterbach unbedingt, würde aber noch viel weiter gehen.“ Denn aus suchtmedizinischer Sicht bräuchte es ein generelles Verbot von Alkohol unter 18 Jahren, wie es viele Länder haben. Mit dem Trinken ab 14 „dürften wir in Deutschland allein auf weiter Flur sein, so wie wir insgesamt mit unserem Alkoholkonsum europaweit weit voran sind“.

Das verwundert laut Pölsterl nicht wirklich: „Wir sind eine alkoholische Gesellschaft, Alkohol ist immer und überall erlaubt, er gehört selbstverständlich zu Festen dazu.“ Auch Trinken bis zum Vollrausch sei akzeptiert. „In anderen Ländern, wo auch nicht wenig getrunken wird, ist es gesellschaftlich hoch geächtet, bis zum Vollrausch zu trinken und sich öffentlich gehen zu lassen.“

Insgesamt möchte der Experte jedoch eine Lanze für die Jugend brechen. Das einst beliebte Komasaufen sei extrem zurückgegangen, ebenso Trink-Treffen im Haisl oder Bauwagen. Und beim Thema Alkohol und Autofahren sei mehr Sensibilität vorhanden als noch vor einigen Jahren. Engmaschige Kontrollen, 0,0-Promille-Grenze: „Das alles sind wunderbare Schritte, und es zeigt: Verbote wirken. Warum also scheuen wir uns so vor Verboten?“

Zugleich plädiert Pölsterl dafür, die Perspektive der Jugendlichen einzunehmen. „Diese Diskussion suggeriert, dass der Großteil unbedingt trinken will. Ich glaube aber, die meisten sind in ihrer Denke viel weiter.“ Immerhin gehe der Alkoholkonsum unter Jugendlichen zurück, „und vermutlich schütteln viele von ihnen zum Beispiel über erwachsene, voll berauschte Wiesnbesucher fassungslos den Kopf“.

Beim Thema begleitetes Trinken beschreibt Pölsterl, der seit 30 Jahren in der Suchthilfe tätig ist, ein Präventionsprogramm in Brandenburg, initiiert vom Suchthilfepapst im deutschsprachigen Raum, Prof. Dr. Johannes Lindenmeyer: Jugendliche – früher ab 14, heute ab 16 Jahren – trinken unter Aufsicht. Die Idee dahinter wie auch hinter dem begleiteten Trinken: Lernen Minderjährige Alkohol in kontrolliertem Umfeld kennen, gehen sie verantwortungsvoller damit um. „Dieser Ansatz ist nicht von der Hand zu weisen. Aber es gibt auch andere Experten, die sagen, dass Verbote Sinn machen.“

Doch würde das wirklich etwas bringen? „Natürlich gibt es immer Unverbesserliche“, meint Pölsterl. Im Privatbereich sei ein Verbot nicht zu kontrollieren. Aber in der Öffentlichkeit könnte es helfen, wenn Erwachsene von anderen verächtliche Blicke ernten, weil sie ihren Kindern Alkohol erlauben. „Oder vielleicht gibt es auch so was wie Zivilcourage, und ein anderer Besucher spricht denjenigen an.“

Insgesamt plädiert Prop für die Botschaft „weniger ist besser für jeden“ – nicht nur für die, die zu viel trinken. Wie viel aber ist zu viel? Laut Weltgesundheitsorganisation WHO lagen die Grenzwerte für risikoarmes Trinken zuletzt für Frauen bei täglich 12 Gramm reinem Alkohol und für Männer bei 24 Gramm. An mindestens zwei Tagen pro Woche sollte man ganz verzichten. 24 Gramm, das entspricht etwas mehr als einer Halben Bier. „Inzwischen weiß man, dass selbst diese geringsten Mengen das Risiko für bestimmte Krebsarten erhöhen. Alkohol ist und bleibt ein hochtoxisches Nervengift“, stellt Pölsterl klar.

Gehirn baut sich in der Pubertät um

Das gilt für Kinder und Jugendliche umso mehr. Denn „anders als früher angenommen, ist die Gehirnentwicklung nicht in der Kindheit abgeschlossen“, mahnt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Mindestens bis zum Alter von 21 Jahren erfolgten im Gehirn wichtige Umbauprozesse, Alkohol könne schon in kleinen Mengen erheblichen Schaden anrichten.

Pölsterl ergänzt: „Dass das Gehirn eines ungeborenen Babys im Bauch der Mutter sehr störungsanfällig für toxische Substanzen ist, das ist allen klar. Und so selbstverständlich es ist, dass der Fötus davor geschützt werden muss, umso weniger selbstverständlich ist es uns, dass das sich wieder umbauende Gehirn des Pubertierenden geschützt werden muss.“ Der Suchtexperte jedenfalls findet es gut, dass das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist. Er würde sich allgemein mehr Verständnis wünschen; dass sich niemand dafür rechtfertigen müsse, weil er eben keinen Alkohol trinkt. Auch dass in München jetzt der erste alkoholfreie Biergarten eröffnet hat, freut ihn. Und da können dann auch Jugendliche durchaus mal ein Bier bestellen.

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