Angst vor der Obdachlosigkeit wegen Eingebedarfskündigung: „Es kann jeden treffen“

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Suchen dringend eine bezahlbare Zweizimmerwohnung in Bahnhofsnähe: Antonia Byzio (li.) und Karin Wenzel wurde von ihren Vermietern wegen Eigenbedarfs die Wohnung gekündigt. © arp

Zwei kranken Frauen wird wegen Eigenbedarfs die Wohnung gekündigt. Sie sind auf Sozial-Hilfen angewiesen und sind nun mit der Angst vor Obdachlosigkeit konfrontiert. Kein Einzelfall, sagt die Caritas.

Reichersbeuern - Wird die Wohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt, stehen Mieter vor einem großen Problem. Der Wohnungsmarkt in der Region ist extrem angespannt. Ein neues Zuhause zu finden, ist vor allem für sozial schwächer gestellte Menschen eine immense Herausforderung. In dieser Misere stecken Antonia Byzio (44) und Karin Wenzel (40). Beide Frauen leben jeweils in einem Ein-Zimmer-Appartement in einem Mehrparteienhaus in Reichersbeuern – bisher. Die Wohnungen wurden vergangenes Jahr verkauft und den Mieterinnen von den neuen Eigentümern wegen Eigenbedarfs gekündigt.

Die Verzweiflung der beiden ist groß, sie plagen Existenzängste. Und doch ist es kein Einzelfall, wie Barbara Stärz, Sozialpädagogin bei der Wohnungslosenhilfe der Caritas bestätigt. „Ich beobachte, dass Eigenbedarfskündigungen hier zunehmen. Häufig sind günstige Wohnungen betroffen, da sich oftmals das Vermieten nicht mehr rentiert.“ Nicht selten landen die Fälle vor Gericht.

Zwei kranke Frauen wegen Eigenbedarf aus Wohnung gekündigt

Früher hat es laut Stärz Räumungsklagen in erster Linie wegen Mietschulden gegeben. „Man merkt, dass von Vermieter-Seite die Geduld und das Verständnis weniger werden, und es häufig passiert, dass schnell die Eskalationsstufe der Räumungsklage gewählt wird, wenn der Mieter nicht zur Frist aus der Wohnung ist.“ Man sehe deutlich, dass der Druck auf dem Wohnungsmarkt sich auf alle Seiten auswirke. „Viele Eigentümer treten recht aggressiv auf“, so die Sozialpädagogin. Das Problem: „Die Chancen, zeitnah eine Wohnung zu finden, die bezahlbar ist, sind sehr gering.“ Das heißt: „Den gekündigten Mietern, die oft ohnehin psychisch schon stark belastet sind, droht dann Obdachlosigkeit.“

Davor fürchten sich Antonia Byzio und Karin Wenzel. Beide haben eine Kündigung erhalten, die Frist ist verstrichen. Wenzel ist schon mit einer Räumungsklage konfrontiert. „Ich verstehe nicht, wieso jemand überhaupt eine Wohnung kauft, in der ein kranker Mensch lebt“, sagt die 40-Jährige, die wegen Burnout und Depressionen seit circa eineinhalb Jahren krankgeschrieben ist und Arbeitslosengeld 1 bezieht.

Viele Menschen schämen sich dafür, aber es kann jeden treffen.

Bis dato haben die Reichersbeurerinnen mit jeweils circa 350 Euro eine sehr kleine Miete gezahlt. „Deutlich mehr können wir uns auch nicht leisten.“ Sie würden gerne gemeinsam eine neue Wohnung finden. „Wir müssen in unmittelbarer Nähe zueinander leben“, sagt Wenzel, die Byzio pflegt. Die 44-Jährige bekam 2021 das „Chronische Fatigue Syndrom“ diagnostiziert. Byzio, die im Gesundheitswesen gearbeitet hat, wurde im Frühjahr 2021 immer schwächer. „Irgendwann konnte ich nicht mal mehr die kleinsten Sachen erledigen“, berichtet sie von der Krankheit. „Ich liege 80 Prozent des Tages im Bett. Die restliche Zeit muss ich meine Kraft klug einteilen.“ Manchmal schaffe sie es nicht einmal, sich die Haare zu föhnen. Für die einst sportliche Bergliebhaberin ein schwerer Schlag.

Eskalationsstufe Räumungsklage keine Seltenheit

„Und ich kümmere mich um alles allein, mache den Haushalt und stemme die Pflege“, ergänzt Wenzel. Früher waren die Frauen ein Liebespaar. Mittlerweile seien die freundschaftlich verbunden. „Wir lassen uns nicht im Stich“, betont Wenzel. Ihr sei es wichtig, dem Problem ein Gesicht zu geben. „Viele Menschen schämen sich dafür, aber es kann jeden treffen“, meint die ehemalige Lkw-Fahrerin. Am liebsten würden sie zum nächstmöglichen Zeitpunkt die Wohnungen verlassen. „So kann man sich nicht wohlfühlen. Wir haben das Gefühl, hier systematisch durch Ruhestörungen und Co. rausgeekelt zu werden.“ Alle Versuche, eine neue Wohnung zu finden, scheiterten an den finanziellen Mitteln. „Dazu haben wir eine Katze, was vielen Vermietern nicht gefällt.“

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Wenzel und Byzio sehen sich aufgrund ihrer gesundheitlichen und finanziellen Situation als Härtefall. Barbara Stärz hat diesbezüglich wenig Hoffnung. „Aus meinen Erfahrungen kann ich sagen, dass es sehr schwer ist, mit dem Härtegrad-Argument durchzukommen.“ Im Fall von Karin Wenzel – sie hat eine Räumungsklage – wird der nächste Schritt eine Gerichtsverhandlung sein.

„Wohnungsnot ist ein strukturelles Problem“

Christian Koch ist Anwalt und vertritt den Eigentümer der Wohnung, in der Karin Wenzel lebt. Auf Anfrage unserer Zeitung sagt er: „Mein Mandant hat diese Wohnung gekauft, weil er selbst keine eigene hat.“ Nun sei es nachzuvollziehen, dass dieser ein Bedürfnis nach einem Familienleben mit seinem Sohn hat. „Daher hat er auch Eigenbedarf angemeldet, das ist sein gutes Recht und nichts Außergewöhnliches.“ Koch hat Verständnis für die „unangenehme Situation“ der bisherigen Mieterin. „Wir haben nun einen Interessenskonflikt, aber meines Erachtens wiegt hier das Recht auf Eigentum höher als das Recht auf Miete“, so die Einschätzung des Münchner Rechtsanwalts. Dass es allgemein mehr Eigenbedarfskündigungen gibt, könne er in seiner Kanzlei mit Blick auf die letzten fünf Jahre nicht feststellen.

Nun wird ein Richter die Interessen abwägen und eine Entscheidung fällen. „Das ist aber kein Einzelfall. Es handelt sich um ein Paradebeispiel“, sagt Stärz. „Wir versuchen immer wieder solche Fälle auf individueller Ebene zu lösen, aber die Wohnungsnot ist ein strukturelles Problem, um welches sich der Staat dringend kümmern muss.“ Die Sozialpädagogin ist sich sicher: „Dieses Thema hat eine enorme Sprengkraft und führt zu einer immer größeren sozialen Spaltung.“

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