„Katastrophale Folgen“: Hickhack um Ukraine-Himars spielt Russland in die Karten

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Geballte amerikanische Feuerkraft: Ohne mehr ballistische Kurzstreckenraketen wie der ATACMS sieht der Kriegsverlauf für die Ukraine düster aus. Aber die USA werden kriegsmüde. © IMAGO/Us Army /Us Army

Wolodymyr Selenskyj kämpft an zwei Fronten: gegen die Aggression Russlands und um die Unterstützung der USA. Die aber haben anderes im Sinn.

Kiew – Der US-Präsident rückt in den Fokus der Kritik - vor allem im eigenen Land. Joe Biden steht in den USA unter dem Beschuss von Anschuldigungen, die Ukraine in ihrem Kampf gegen das Russland des Diktators Wladimir Putin am langen Arm verhungern zu lassen. Zankapfel ist das amerikanische Himars-Luftabwehrsystem (High Mobility Artillery Rocket System) samt moderner Atacms-Raketen (Army Tactical Missile System). US-Militärexperten zerren an Biden und fordern mehr Exporte in den Ukraine-Krieg; und die dortige Militärführung postet fleißig Videos, um die amerikanischen Politiker von dem Sinn der Hilfen zu überzeugen.

Wahrscheinlich versucht die Ukraine damit, Russland einzuschüchtern und gleichermaßen Druck auf die westlichen Unterstützer aufzubauen. Angriffe gehen zum Beispiel gegen die Republikaner im US-Kongress, gegen Teile der Demokraten und vor allem gegen den Verantwortlichen: Präsident Joe Biden. Darüber hinaus trifft die Regierungen der Nato-Partner der USA die Kritik.

Die Ukraine kämpft derweil um ihr Überleben während der russische Invasion. Gleichzeitig aber auch um die stetige Versorgung mit Rüstungsgütern aus dem Westen; beispielsweise mit Himars-Luftabwehrraketen. Unter der Überschrift „Krieg in der Grauzone von Schnittstellen“ behandelt die Bundeswehr das Thema „hybride Kriegführung“ auch mit Blick auf das Verhalten der beiden Kriegsparteien: Die Ukraine macht Stimmung mit ihren Videos.

Staatschef Selenskyjs offensiver Werbefeldzug: Ukraine-Frage entzweit die Gesellschaften

Das Pro und Contra der stetigen Unterstützung für die Ukraine beginnt westliche Gesellschaften zu spalten und die Geschlossenheit der Nato zu gefährden. Die physische Vernichtung von Streitkräften stehe in der Regel nicht im Mittelpunkt hybrider Kriegführung, schreibt die Bundeswehr. Da es eines der Wesensmerkmale hybrider Kriegführung sei, das Gefechtsfeld zu entgrenzen, kann letztendlich alles zum Angriffsziel werden.

„Der Zusammenhalt einer Gesellschaft kann ebenso angegriffen werden wie die Moral eines Akteurs oder die Legitimität politischer Zielsetzungen. Sämtliche Domänen wie Politik, Diplomatie, Wirtschaft, Finanzen, aber auch die Versorgungslage oder die kritische Infrastruktur sind dabei als potenzielle Ziele einzubeziehen.“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj muss sich auf seinem ständigen Werbefeldzug in Europa mittlerweile auch mit der Kriegsmüdigkeit seiner Partnerländer auseinandersetzen. Inzwischen sind auch seine Töne leiser geworden: Er fordert weniger und bittet dafür häufiger. Dennoch zweifeln immer mehr Menschen an seinem Credo, dass die Ukraine stellvertretend für die Welt kämpfe.

Präsident Bidens angeblicher Rückzug: Beobachter befürchten geplanten Kuhhandel

Phillips O‘Brien, Professor für strategische Studien an der Universität St. Andrews in Schottland, schrieb im Wall Street Journal , dass die USA den Ukrainern die Waffen verweigert hätten, die sie zum Angriff auf russische Ziele benötigen. Er stellte die Frage, ob Präsident Joe Biden wirklich wolle, dass die Ukraine gewinne. Damit beschäftigt sich ausführlich auch Newsweek und walzt O‘Briens Frage aus, inwieweit Bidens Politik darauf abziele, die Ukraine für den Frieden in einen Kuhhandel mit Russland zu drängen. O‘Brien zufolge sprächen die zögerlichen Waffenlieferungen für diese These.

„Indem die Regierung den Ukrainern die Fähigkeit nimmt, einen nachhaltigen, weitreichenden Feldzug gegen Russland zu starten, lässt sie Kiew ohne die Fähigkeit zurück, die es braucht, um zu gewinnen“, fügte er gegenüber Newsweek hinzu. Unterstützung findet er im pensionierten US-Generalleutnant Ben Hodges: Der ehemalige Kommandeur der US-Armee in Europa hat ebenfalls mehrfach öffentlich gefordert, die Ukraine derart aufzumunitionieren, dass sie die Fähigkeit entwickelt, die Krim zurückzuerobern. Mehrere Beobachter gehen davon aus, dass die Entscheidung über den Ukraine-Krieg auf der 2014 von Russland annektierten Krim-Halbinsel fallen wird.

Diktator Putins vermeintliche Zukunft: Niederlage auf der Krim

Beide Gegner sehen in der Krim den Dreh– und Angelpunkt des Ukraine-Krieges. Russland weigert sich seit der Annexion 2014, die Krim und ihre Hauptstadt Simferopol als ukrainisches Staatsgebiet anzuerkennen und entsprechend autonom zu behandeln. Im Gegenteil nutzten sie die Zeit, um die Krim zu einer militärischen Festung auszubauen, Flugplätze anzulegen, massive Luftabwehrsysteme zu stationieren und die Schwarzmeer-Flotte von dort aus operieren zu lassen. Dazu der Militärökonom Marcus Keupp gegenübe der tagesschau: „Die Krim ist nicht nur das logistische Zentrum, sie ist auch das militärische Kraftzentrum der ganzen russischen Operation gegen die Ukraine, und deswegen wird sie auch das große Finale des Krieges sein und möglicherweise schneller, als so mancher das erwarten wird.“

Beide Kriegsparteien haben die Luftverteidigungs-Strukturen des Gegners zum Fokus ihrer Angriffe gemacht. „Die Bemühungen sowohl Russlands als auch der Ukraine, die bodengestützten Luftverteidigungssysteme ihres Gegners zu überwinden, sind weiterhin einer der wichtigsten Konfliktherde des Krieges“, erklärte das britische Verteidigungsministerium noch Anfang Dezember 2023. Der aktuell weitgehend bewegungslose Stellungskrieg begründet sich darin, dass sich die Gegner mit ihrer Raketenartillerie neutralisieren. Gerade darum sind die amerikanischen Himars-Systeme von unschätzbarem Wert, weil sich die Depots der Ukraine aufgrund der Verbissenheit der russischen Angriffe schneller leeren als befürchtet.

General Saluschnyjs ständige Videos: Das zähe Einwerben von Nachschub

Wenige Wochen nach der Invasion hatten verschiedene Medien die Himars gar zum „Gamechanger“ stilisiert: Mithilfe dieses Systems könnte die ukrainische Armee Raketen aus so großer Entfernung abfeuern, dass die selbstfahrenden Abschussbasen weit außerhalb der Reichweite russischer Artillerie blieben. Ohne nachzuladen kann der Mehrfachraketenwerfer sechs mittels Satelliten präzisionsgesteuerte Artillerieraketen oder eine ballistische Kurzstreckenrakete vom Typ Atacms abfeuern. Im ersten Fall wirkt er je nach verwendeter Munition über eine maximale Reichweite von 40 bis 75 Kilometern hinweg. Mit einer Atacms-Rakete kann er Ziele in bis zu 300 Kilometer Entfernung erreichen. Das System wurde von den Amerikanern 2010 in Dienst gestellt und kam bereits in Afghanistan, Syrien und im Irak zum Einsatz.

38 Werfer-Systeme mit entsprechenden Raketen aus us-amerikanischen Beständen sind in die Ukraine geliefert worden. Der ukrainische Oberbefehlshaber General Walerij Saluschnyj veröffentlichte kürzlich ein Video, das ein solches hoch bewegliches Artillerie-Raketensystem im erfolgreichen Einsatz inmitten andauernder Gefechte der Ukraine mit Russland zeigt. Newsweek listet weitere Videos auf, die offenbar von ukrainischer Seite veröffentlicht wurden, um den dringenden Bedarf für einen Sieg gegenüber Russland nochmals zu verdeutlichen.

Historiker Neitzels düstere Perspektive: Amerikaner eher auf China konzentriert

Deutschlands bekanntester Militärhistoriker Sönke Neitzel hatte noch Ende November gegenüber der ARD wiederholt, dass sich allein schon durch den Krieg der Hamas gegen Israel der Fokus der US-Amerikaner zugunsten Israels verschoben habe. Allerdings beurteilt Neitzel die Situation auf dem osteuropäischen Kriegsschauplatz vor allem deshalb als schwierig, „weil die Republikaner und Teile der Demokraten immer schon gesagt haben, dass der Schwerpunkt eigentlich China ist“. Seiner Meinung nach sehen die Amerikaner eher die Europäer am Zuge der Ukraine zu helfen. „Wir wissen aber auch: Ohne die USA gäbe es die Ukraine nicht mehr; und ohne die USA wäre auch Europa außerstande, die Ukraine so sehr zu unterstützen, dass sie diesen Krieg weiterhin führen könnte.“

Seit September vergangenen Jahres steuert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj immer wieder die USA an, um sich weiterer Unterstützung zu versichern. Grundsätzlich fragen sich die amerikanischen Volksvertreter allerdings inzwischen, inwieweit sich der Krieg in der Ukraine für sie noch lohne. Die Zeit erklärt 2024 zum Schicksalsjahr des Präsidenten. Kriegsmüdigkeit legt sich bleiern über den gesamten Kriegsverlauf – über die Frontsoldaten, deren Angehörige und die verbündeten Gesellschaften.

Laut der Zeit schlagen die Töne selbst in den eigenen Reihen um Selenskyj drastisch um: „Noch vor einem Jahr kürte das US-Magazin Time Selenskyj zur Person des Jahres 2022. Inzwischen bescheinigen ihm selbst frühere Weggefährten Selbstherrlichkeit, Beratungsresistenz und einen zunehmend autoritären Führungsstil. In der Ukraine entstehe unter Selenskyj keineswegs eine ,offene liberale Gesellschaft nach amerikanischem Vorbild‘, sagte unlängst der Ex-Berater im Präsidentenbüro, Olexij Arestowytsch. Vielmehr ähnele sie einem mit US-Waffen vollgepumpten ,ultranationalistischen Staat‘.“

Expertin Majors: Ukraine soll langsam mürbe gemacht werden

Die Kritik am ehemaligen Komiker gedeiht auf der festgefrorenen Gegenoffensive der Bodentruppen. Die Verbündeten führen längst ausufernde Debatten über die Ursachen dieser Misere, verbunden mit der Frage, ob und wie sich 2024 etwas ändern könnte. Immerhin wird immer offener und immer forscher darüber gesprochen, dass die Russen letztendlich doch zäher kämpfen würden, als alle gehofft hatten.

Experten kritisieren auch den offenbar mangelnden politischen Willen im Westen für Risiken, ja befürchten, hinter der lahmenden Unterstützung könne sogar eine Strategie stecken, wie Zeit Online die Politikwissenschaftlerin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik urteilen lässt: „Es scheint, als wolle man die Ukraine am langen Arm mürbe werden lassen, bis sie selbst auf die Idee kommt, zu verhandeln. Das Risiko dabei ist allerdings sehr hoch. Es ist Hybris, zu glauben, man könne den Krieg, einen hochkomplexen, teils anarchischen Gewaltprozess, in dieser Weise steuern.“

Obwohl Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nimmermüde den Schulterschluss zwischen dem Verteidigungspakt und der Ukraine als eng zu beschwören versucht, werden wie auch immer geartete Beistandsgarantien für die Ukraine Utopie bleiben. Im US-Kongress steht aktuell noch eine Entscheidung aus für ein 61-Milliarden-Dollar-Paket an Hilfen für die Ukraine. Was, wenn diese amerikanischen Hilfen ausblieben, fragt Zeit Online den Osteuropa-Experten Peter Rough von der US-Denkfabrik Hudson Institute: „Dann werden die ukrainischen Verteidigungslinien höchstwahrscheinlich zusammenbrechen, mit potenziell katastrophalen Folgen“. (Karsten Hinzmann)

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