„Neue Denkweise“: F-16-Kampfjet-Piloten der Ukraine müssen ihren Flugstil drastisch ändern

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Neues Cockpit, neue Denkweise, neuer Flugstil – fast müssten die ukrainischen Piloten von Null anfangen. Ihre jahrelange Übung ist kaum noch etwas wert. Wann die ukrainischen Piloten ihre Souveränität in der Luft wiedererlangt haben, ist ungewiss. Und somit ein immenser Vorteil für Russland. © IMAGO / Stocktrek Images

Im „Muskelgedächtnis“ liegt wohl die größte Hürde ukrainischer Piloten. Was sie jahrelang eingebläut bekommen haben, müssen sie jetzt abstellen – schnellstens.

Kiew – Das sei ein Umstieg „wie von einem Nokia direkt auf ein iPhone, ohne all diese Schritte dazwischen“, hat „Moonfish“ behauptet. Der Pilot der Ukraine hatte sich jetzt gegenüber dem Magazin BusinessInsider (BI) geäußert, dass seine Kameraden und er ihre Flugweise drastisch ändern müssten, um den Umstieg von ihren sowjetischen Fliegern auf den bis zu 75 Millionen Dollar teuren westlichen Kampfjet zu meistern. Neben der bevorstehenden Bedrohung durch die Luftwaffe Wladimir Putins sitzt die größte Herausforderung der ukrainischen Piloten im eigenen Cockpit – sie kämpfen an gegen ihr eigenes „Muskelgedächtnis“.

„Der Abschluss der Grundausbildung bedeutet, dass Piloten in der Lage sind, Kampfaufgaben bei Tageslicht und gutem Wetter zu erfüllen“, sagte Oleksij Melnyk gegenüber dem Sender n-tv. Der ehemalige Politiker war selbst Jetpilot und sieht dem Nutzen der inzwischen erfolgten Lieferung des als „Viper“ bekannten Modells des Kampfflugzeuges F-16 an die Ukraine mit einer gewissen Skepsis entgegen. Melnyk vermutet ebenfalls, die größte Schwachstelle des Fliegers säße im Cockpit, wie er andeutet. Ähnlich klingt Radio Free Europe in dessen Beitrag, in dem ein Golfkriegs-Veteran zu Wort kommt.

Übungssache: Ukrainische F-16-Piloten müssen sich hüten, in alte Gewohnheiten zurückfallen

Der US-Pilot Keith Rosenkranz betrachtet die jungen ukrainischen Piloten als ihren russischen Gegnern unterlegen – zumindest anfangs. Wie lange diese Anfangszeit dauern wird, ist fraglich und vom „Muskelgedächtnis“ des jeweils einzelnen Piloten abhängig. Die Piloten haben auf ihren sowjetischen Maschinen über die Jahre hinweg Bewegungsabläufe antrainiert – die sind jetzt im „Muskelgedächtnis“ gespeichert und müssten umprogrammiert werden. Bei einer durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von fast 1.000 Kilometern pro Stunde legen die Piloten in einer Sekunde ungefähr 300 Meter zurück – ohne Gefechtsbedingungen und ohne ein dreidimensionales Bedrohungsszenario.

„Wenn aus dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine auch nur eine Lehre zu ziehen ist, dann die, dass allein das Erringen der Lufthoheit einen entscheidenden Vorteil bringt.“

Die Piloten der Ukraine könnten vielleicht in bis zu einem Jahr das Fliegen verinnerlichen, sagt Michael Bohnert. Aber damit allein wäre wenig gewonnen. „Ihnen das Muskelgedächtnis beizubringen, das sie brauchen, um zu wissen, was zu tun ist, wenn etwas schiefgeht, dauert vier oder fünf, sechs, viel mehr Jahre“, sagte gegenüber dem BI der Analyst des US-amerikanischen Thinktank RAND. Im Verlauf einer krisenhaften Situation könnten sie eventuell schnell wieder in alte Gewohnheiten zurückfallen, weil ihr Muskelgedächtnis seine alte Programmierung abruft.

„Muscle Memory“: Handeln ohne nachzudenken

„Muscle Memory“ ist der Vorgang, bei dem eine bestimmte motorische Aufgabe durch Wiederholung im Gedächtnis verankert wird. Muskeln selbst können sich zwar nichts merken, aber sie enthalten Neuronen, die mit dem Nervensystem verbunden sind und beim motorischen Lernen eine Rolle spielen. Jede Bewegung erfordert Gehirnaktivität; wenn auch komplizierte Bewegungen nur oft genug wiederholt werden, löst das in den für die Motorik zuständigen Gehirnregionen erkennbare Muster aus. Das führt zu einer erlernten Bewegung, die in Zukunft weniger Gehirnleistung erfordert und schließlich mit wenig oder gar keiner bewussten Anstrengung ausgeführt werden kann. Dieser Prozess verringert den Bedarf an Aufmerksamkeit und sorgt für maximale Effizienz im motorischen System und im Gedächtnis.

Quelle: Akademie für Sport und Gesundheit, Radolfzell

Vor allem die Steuerung der F-16 funktioniert anders als die der Sowjetmaschinen. Während die F-16 durch Fly-by-Wire gesteuert wird – also digitale, elektronische Systeme, die die Eingaben zur Flugsteuerung verarbeiten –, verwende beispielsweise die MiG-29 hydraulische Steuerungen, hatte der BI berichtet.

„Wenn ein MiG-Pilot den Steuerknüppel zum Wenden nach links drückt, muss er ihn wieder zurücknehmen, sobald das Flugzeug den gewünschten Neigungswinkel erreicht hat, da das Flugzeug die Eingaben für Nick-, Gier- und Rollbewegungen mechanisch ausführt“, wie der BI schreibt. Ein F-16-Pilot müsse anders steuern, weil Tragflächen Heck über elektrische Signale angesprochen würden.

Umgewöhnung: Umstieg von Russlands MIG auf F-16 kann zu ruckartigem Fliegen führen

Der klassische Steuerknüppel säße demnach in den sowjetischen Fliegern wie der MIG-29 weiterhin mittig, die Steuerung der F-16 ähnele eher einem Joystick auf der rechten Cockpit-Seite. „Der Umstieg von einem sowjetischen Flugzeug wie der MiG auf die F-16 kann anfangs zu ruckartigem Fliegen führen“, so der BI. Die Ergonomie der Flieger aus dem Osten und dem Westen ist jeweils eine andere.

Das Magazin beruft sich auf Mike Torrealday: „Es kommt oft vor, dass Piloten, die von einer Plattform auf eine andere wechseln, nach links rollen, dann einen Ruck nach rechts bekommen und sich denken: ‚Whoa, whoa, was machst du da?‘ Und sie haben einfach dieses Muskelgedächtnis, das sie jedes Mal wieder zurücknehmen müssen, wenn sie eine Eingabe machen“, sagt gegenüber dem BI der pensionierte Oberst der US-Luftwaffe, der MiG-Piloten aus Polen und Rumänien ausgebildet hat.

Im Gegensatz zu den sowjetischen Maschinen seien die Displays für die Anzeigen beispielsweise höher angebracht, was den auf das andere Fabrikat umsteigenden Piloten bereits von Anfang an eine andere Körperhaltung aufzwinge, sagt Torrealday. Auch US-Pilot Rosenkranz sei erst nach einer sehr langen Zeit in einem Trainingsflugzeug und danach in einer F-16 in seinen ersten Kampfeinsatz geflogen, wie Radio Free Europe berichtet hatte – nach 1.200 Flugstunden in einem Trainingsjet und danach noch einem Jahr ohne Gefecht in seiner Einsatzmaschine.

Übungsziel: Allein die Lufthoheit gegenüber Putin bringt einen entscheidenden Vorteil

Jahre würden ins Land ziehen, bis die ukrainische Luftwaffe genug Erfahrungen biete, um Kampfeinsätze effektiv durchzuführen, vermuten die Analysten Christopher Koeltzow, Brent Peterson und Eric Williams – bis zu vier Jahre vom Flugschüler bis zum verlässlichen Flügelmann, ein weiteres Jahr um Kampftaktiken im Verband zu beherrschen. Die Analysten des Thinktanks Center for Strategic and International Studies (CSIS) gehen in ihren Berechnungen von einer Zeit und einem Übungsszenario ohne Gefechtsbedingungen aus – laut den Autoren erfordert das Fliegen auf dem anderen Flugzeugtyp grundsätzlich eine andere Denkweise.

Alte Gewohnheiten ließen sich nur schwer ablegen, schrieben Mitte des Jahres David Deptula und Christopher Bowie. Die Analysten des US-Thinktanks Mitchell Institute äußerten sich dahingehend, dass die ukrainischen Piloten die Regeln des Westens für ihren eigenen Krieg verinnerlichen müssten. Den beiden Autoren zufolge sei der Ukraine keineswegs damit gedient, mit Russland am Boden sowie in der Luft lediglich gleichzuziehen: „Wenn aus dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine auch nur eine Lehre zu ziehen ist, dann die, dass allein das Erringen der Lufthoheit einen entscheidenden Vorteil bringt“, wie sie schreiben.

Vermutung: Bisher nur sechs Piloten für den Ukraine-Krieg fronttauglich gewesen

Übersetzt heißt das im Grunde, die ukrainischen Piloten würden erst dann die technischen Möglichkeiten der F-16 ausreizen können, wenn sie darin flögen, als wären sie bereits seit ihrer Rekruten-Zeit in deren Cockpit hineingewachsen. „Moonfish“ ist inzwischen in der F-16 zu Tode gekommen: Oleksiy Mes als erstes Opfer der F-16 bietet damit den ersten Beweis für die bisherige Unfähigkeit der Ukraine, dieser Waffe auch nur ansatzweise gerecht zu werden.

Laut dem Wall Street Journal seien bisher nur sechs Piloten fronttauglich gewesen, demzufolge sind nach dem F-16-Absturz noch fünf Piloten übrig. Laut Berichten der Nachrichtenagentur Reuters sollen bis zum Ende des Jahres mindestens 20 Piloten fertig ausgebildet sein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erwartet insgesamt bis zu 85 Maschinen aus verschiedenen Nato-Ländern. Der Zeitpunkt ist ungewiss; ebenso der Zeitpunkt, wann auch die Piloten mit den technischen Möglichkeiten vertraut sein werden.

Möglicherweise hat sich die Ukraine zu viel zugemutet – jedenfalls war Oberstleutnant Oleksiy Mes im vergangenen Herbst gegenüber der New York Times noch zu Scherzen aufgelegt gewesen und bemühte statt des Smartphone-Vergleichs eine andere Verharmlosung zur Beschreibung seines kommenden Dienstfahrzeugs: „Die F-16 ist ein Schweizer Taschenmesser.“

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