Der Strombedarf in Deutschland wird in den kommenden Jahren deutlich steigen: durch Wärmepumpen, Elektroautos, Rechenzentren und elektrifizierte Industrieprozesse. Die Elektrifizierung ist der Schlüssel zur Dekarbonisierung – sie ersetzt fossile Energien und spart vor allem im Wärmebereich große Mengen Gas.
Elektrifizierte Anwendungen schaffen neue Flexibilitätsoptionen: Sie können Verbrauch verschieben, lokal puffern und Netze entlasten. Damit diese Flexibilität wirkt, braucht es zeit- und ortsvariable Preissignale sowie Digitalisierung und Smart Meter.
Ortsvariable Tarife bewirken, dass Strom dort günstiger ist, wo er im Überschuss anfällt – etwa bei starkem Wind im Norden – und nicht dort, wo Netzengpässe ihn gar nicht erst hinlassen. Zeitvariable Tarife sorgen dafür, dass Heimbatterien im Sommer nicht frühmorgens laden, sondern mittags, wenn Solarstrom reichlich vorhanden und am günstigsten ist. Das sind nur zwei Beispiele dafür, wie Preissignale Flexibilität systemdienlich lenken können.
Warum Deutschland neue Gaskraftwerke dringend braucht
Doch viele dieser Flexibilitäten wirken nur begrenzt: Irgendwann muss das Auto wieder geladen werden, Pufferspeicher sind leer und Häuser kühlen aus. Wenn der Wärme- oder Mobilitätsbedarf zurückkehrt, steigt auch der Stromverbrauch wieder an. Häufig reichen diese Flexibilitäten aus, um kurze Windflauten abzufedern, aber das System muss auch für seltene längere Phasen ausgelegt sein, in denen das nicht genügt.
Mit der weiteren Elektrifizierung wird die sogenannte Peaklast, also die maximale gleichzeitig benötigte Leistung, deshalb trotz aller Flexibilisierung tendenziell steigen. Aktuell liegt sie bei rund 80 GW, was der heutigen gesicherten Leistung aus Kohle, Gas, Biomasse und Wasserkraft entspricht. Gesicherte Leistung meint Kapazitäten, die jederzeit zuverlässig verfügbar sind. Gleichzeitig fallen durch den Kohleausstieg rund 25 GW (+5 GW in Reserven) dieser gesicherten Leistung weg – ohne neue Kraftwerke entsteht eine Lücke.
Neben der Verbrauchsflexibilität können auch Batterien Lastspitzen abflachen und den Bedarf an gesicherter Leistung reduzieren. Sie laden in Zeiten niedrigerer Last und entladen zu den täglichen Spitzen. In längeren Dunkelflauten, wenn Wind- und PV-Erzeugung niedrig bleiben, würden Batterien dann sogar mit Strom aus Gaskraftwerken geladen. Studien gehen von einer Reduktion der Peaklast um maximal 20–25 % aus.
Peaklast reduzieren: Batterien entlasten die Kraftwerke
Darüber hinaus bleibt eine stabile Versorgung nur möglich, wenn signifikante neue Kapazitäten gesicherter Leistung entstehen. Energiesystemstudien erwarten langfristig rund 70 GW installierte Gaskraftwerksleistung (aktuell: 35 GW) – mittelfristig mit Erdgas, langfristig mit Wasserstoff oder anderen klimaneutralen Brennstoffen. Sie dienen dann im Grunde als Rückverstromungseinheit eines chemischen Speichers.
Ein Teil dieser neuen Kapazitäten könnte und sollte dezentral entstehen, etwa durch kleinere, flexible Gaskraftwerke wie moderne BHKW, die Wärme für Quartiere bereitstellen oder Produktionsstandorte versorgen und so die Resilienz des Systems erhöhen. Zusätzlich tragen flexibilisierte Biogasanlagen zur Systemstabilität bei. Die nun angekündigten 8–10 GW neuer Gaskraftwerke sind daher keineswegs zu hoch; selbst 20 GW wären längerfristig kaum eine Überinstallation. Ohne neue gesicherte Leistung droht ein verzögerter Kohleausstieg oder eine gebremste Elektrifizierung.
Aus Klimaschutzsicht zählt nicht die installierte Leistung der Gaskraftwerke, sondern wie oft sie laufen. Genau hier helfen Batterien: Sie integrieren immer mehr erneuerbaren Strom und drücken die Einsatzstunden der Gaskraftwerke nach unten. Das spart nicht nur CO₂, sondern auch Kosten, denn teuer ist vor allem der Brennstoff – nicht das Kraftwerk selbst.
So wird die Stromversorgung gesichert
Die entscheidende Frage ist deshalb nicht mehr „ob“, sondern „wie“:
Wie kann gesicherte Leistung so organisiert werden, dass Investitionen ausgelöst, aber keine ineffizienten Subventionen verteilt werden? Wie verhindert man, dass nur die größten Lobbygruppen profitieren – und stattdessen ein fairer, technologieoffener Wettbewerb entsteht?
Im Kern geht es um die Frage, wie Versorgungssicherheit finanziert werden soll. Diese Frage und Diskussion ist so alt wie die Liberalisierung der Strommärkte und es gibt zwei wesentlich Modelle mit Variationen:
- Den Energy-Only-Markt (EOM), in dem sich Investitionen allein aus den wenigen Zeiten mit Knappheit und hohen Preisen finanzieren,
- Einen gesonderten Kapazitätsmarkt, bei dem Anlagen zusätzlich für ihre Bereitstellung vergütet werden.
Ein Kapazitätsmarkt bietet Planungssicherheit und stabilere Preise im Spotmarkt, reduziert extreme Preisspitzen und kann zentral oder dezentral organisiert werden. Wichtig ist, dass die Ausschreibungen technologieoffen und transparent gestaltet sind, damit auch kleinere Anlagen, KWK oder kombinierte Systeme mit Nachfrageflexibilität mitbieten können – und nicht nur große Kraftwerke.
Der Nachteil eines Kapazitätsmarkts ist die Gefahr, die benötigten Leistungen zu hoch anzusetzen und so eine Überinvestition in gesicherte Kapazitäten auszulösen. Ebenso muss darauf geachtet werden, dass neue Anlagen an den richtigen Stellen im System entstehen – sonst hilft das zusätzliche Kraftwerk wenig, wenn ein Netzengpass die Einspeisung verhindert.
Prof. Dr. Matthias Huber ist Leiter des Instituts für neue Energie-Systeme (InES) an der Technischen Hochschule Ingolstadt. Er forscht zu sektorübergreifenden Energiesystemen, Smart Grids, regionalen Energiesystemen und Energiemärkten und entwickelt Optimierungsverfahren für die Integration erneuerbarer Energien.
Marco Wünsch ist Diplom-Wirtschaftsingenieur bei Prognos in Berlin. Er beschäftigt sich mit der Zukunft der Energieversorgung, modelliert Lösungen für die Erzeugung und Nutzung von Strom und Wärme und forscht zu Kraft-Wärme-Kopplung in Deutschland und Europa.
Der Energy-Only-Markt (plus Netzreserve) hingegen setzt dagegen auf Preissignale aus dem Spotmarkt. Kraftwerke müssen sich gegebenenfalls aus wenigen Stunden mit hohen Preisen refinanzieren – das ist effizient, aber riskanter. Entsprechend sind Renditeerwartungen und Risikoaufschläge höher. Der Vorteil liegt in den stärkeren Preisfluktuationen, die auch anderen Flexibilitätsoptionen Investitionsanreize bieten.
Allerdings gilt: Wenn längere Zeit niemand investiert, droht eine anhaltende Knappheitssituation, denn die Investitionszyklen für neue Anlagen sind lang. Derzeit herrscht Unsicherheit: Viele Akteure halten sich mit Investitionen zurück – auch, weil unklar ist, ob künftige Förderungen oder Subventionen kommen.
Entscheidender als weitere Detailfragen ist jetzt Klarheit: Die Frage der gesicherten Leistung muss zügig entschieden werden, damit sich die Energiepolitik wieder auf das Wesentliche konzentrieren kann, also auf den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netze, die Elektrifizierung und endlich auch auf die Digitalisierung.