Die Boris-Palmer-Evolution: "Ich werde mir das nicht antrainieren, um zu gefallen"

Vor knapp 15 Jahren traf ich Boris Palmer in Tübingen, wir hatten uns verabredet für ein Interview über seinen Vater. Palmer junior hatte damals bereits erreicht, was der Senior sein Leben lang erzwingen wollte: das Amt eines Bürgermeisters inklusive der damit verbundenen Gestaltungsmöglichkeiten. 

Bei gut 300 Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg war der Obsthändler Helmut Palmer einst angetreten. Gewählt wurde er nie. Dafür ruinierte er mit seinem Streben die Familie finanziell und verstörte seine Söhne nachhaltig.

Wer verstehen will, wie Boris Palmer werden konnte, was er heute ist, muss sich mit seinem Vater beschäftigen. Der Filmemacher Frank Marten Pfeiffer hat deshalb nicht nur den Politiker Palmer monatelang mit der Kamera begleitet, sondern auch dessen Übervater in die Geschichte geholt. 

„Lieber eine falsche als gar keine Meinung“

Die Doku „Der Palmer Komplex“ (abrufbar in der ARD-Mediathek) wird so zum Psychogramm eines Mannes, der sich immer wieder selbst ein Bein stellt. Sein Vater wäre vermutlich stolz auf ihn gewesen.

Der Vater sei „ein Wutbürger“ gewesen, „lange bevor es diesen Ausdruck gab“, erzählte Palmer mir damals in dem Interview. „Lieber eine falsche als gar keine Meinung“: Nach diesem Motto habe der „Remstal-Rebell“ Helmut Palmer gehandelt, was ihm jede Menge Ärger mit den Obrigkeiten und zahllose Gefängnisaufenthalte einbrachte. Sohn Boris ist da schon einen Schritt weiter: Er hält seine Meinung für die einzig richtige.

Sein Wahlkampf-Team verzweifelt regelmäßig daran. „Du sagst genau das Richtige, aber auf die falsche Art und Weise“, analysiert einer der Berater in der ARD-Doku durchaus treffsicher. „Du musst Schwäche zeigen“, empfiehlt ein anderer. Palmer aber sperrt sich: „Wenn ich dem jetzt nicht sage, dass es ein Granatenscheißdreck ist, was er da rausschwätzt, dann explodiere ich an anderer Stelle.“

Palmer als der Prototyp des alten weißen Mannes

Lieber zieht sich Palmer zurück auf die Position des alten weißen Mannes: Es sei aktuell vielleicht „Mode“, achtsam, rücksichtsvoll und sprachsensibel zu sein. Doch „sorry, ich bin aus einer Generation, die das so nicht gelernt hat“, bescheidet der OB seinem Team. „Ich mache das nicht und werde mir das jetzt auch nicht antrainieren, nur um zu gefallen.“

Der Tübinger OB ist kein Bürgerversteher, kein Wortabwäger, kein strategischer Mäntelchenausrichter. Er ist ein Wutpolitiker, wie sein Vater Helmut ein Wutbürger war. 

In all den Jahren wurde Boris Palmer nicht weich gewaschen von PR-Beratern, nicht wetterwendig durch all den Gegenwind, den er tagtäglich on- und offline erfährt. Im Gegenteil: Im verbalen Nahkampf geschult und von allen Seiten immer wieder gegen den Strich gebürstet, zieht der Neckartal-Rebell seine Stacheln nun gar nicht mehr ein.

Boris Palmer: Das N-Wort führte zum Partei-Aus

Einst galt Boris Palmer als politisches Talent und Hoffnungsträger der Grünen. Diese Chance verspielte er mutwillig mit einem Facebook-Post von 2023, in den er das sogenannte „N-Wort“ einfügte und sich damit aus der Partei hinauskatapultierte. Fifty Shades of Green? Mit dem Ausschluss von Palmer verabschiedeten sich die Grünen von ihrer historischen Streitbarkeit und wählten das Einheitsgrün.

Vater Palmer, geboren 1930, kämpfte gegen Altnazis in höchsten Ämtern, gegen Bürokratie, gegen Autoritätsgläubigkeit. Er war nie in einer Partei, weil er sich keiner von oben verordneten Einheitsmeinung unterordnen konnte. 

„Sein Gerechtigkeitssinn war alles überragend“, sagt Patrick Palmer, der zweite Sohn des Remstal-Rebellen über den Vater: „Er kannte nur Schwarz und Weiß.“ Genau das habe ihn sehr ungerecht gemacht, „weil Kompromiss und Vermittlung ihm fremd waren“.

Lieber mit dem Kopf durch die Wand als brav durch die Tür

Auf Boris Palmer trifft das jetzt auch zu. Das macht ihn nicht nur unberechenbar, sondern auch den Umgang mit ihm schwierig. Und doch ist es für eine Demokratie immens wichtig, dass es in der Politik und Öffentlichkeit – bitte nicht nur, aber auch – Menschen wie Boris Palmer gibt. 

Weil sie Trends konstant hinterfragen, anstatt sie einfach abzunicken. Und lieber einen Shitstorm aushalten, dem im Mainstream nachzugeben. Ohne Querulanten wie Palmer würde sich der politische Betrieb so lange selbst auf die Schulter klopfen, bis er in die Knie geht.

2011 sagte Palmer noch, er habe am Leben seines Vaters gelernt, dass es sich nicht auszahlt, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, wenn sie eine Tür hat. Inzwischen hat sich der Sohn ebenfalls dem brachialen Weg seines Vaters verschrieben. Und das ist gut so. Tür kann jeder. Manchmal müssen Mauern eingerissen werden, um ausreichend Raum für freies Denken zu schaffen.