FOCUS-online-Reportage - Fünf Minuten Autofahrt und plötzlich wählen die Menschen wie wild AfD
Eine Region, zwei Landkreise, drei Sieger: Im Harz zeigt sich die politische Spaltung im Land entlang der früheren innerdeutschen Grenze. Die Kommunen in Niedersachsen und Thüringen trennen heute nur noch wenige Fahrminuten über gut ausgebaute Landstraßen. Doch im Wahlverhalten bei der Bundestagswahl offenbaren sich die Unterschiede bei Mentalitäten und Biografien auf beiden Seiten.
Die kurze Reise beginnt in Bad Sachsa. Der Kurort lebt vom Tourismus, machte jedoch zuletzt nicht wegen seiner beliebten Ausflugsziele Schlagzeilen. Zuerst wehrte sich das Rathaus verzweifelt gegen den Ausbau einer Flüchtlingsunterkunft durch die Landesaufnahmebehörde, jüngst wurden dann Polizisten in der Verwaltung vorstellig: Ein Mitarbeiter steht unter Untreue-Verdacht und soll jahrelang zu hohe Überstunden angegeben haben.
Im Stadtrat von Bad Sachsa ist die AfD noch nicht vertreten, liegt beim Zweitstimmenergebnis der Bundestagswahl nun allerdings bei 26,5 Prozent knapp hinter der CDU (28,8 Prozent). Dahinter folgt abgeschlagen die SPD (19 Prozent). Im Wahlkreis Göttingen I, in dem der Kurort liegt, schnitt die AfD mit 14,5 Prozent deutlich schlechter ab, unter den Direktkandidaten machte CDU-Mann Fritz Güntzler klar das Rennen.
Bundestagswahl: Auf der Thüringer Seite ist die Wahlkarte blau
Entsprechend erleichtert zeigen sich am Montagmittag einige Einwohner der Stadt. Da ist zum Beispiel Rentner Günther. Auch er ist unzufrieden mit der Situation im Land. „Ich wähle keine Partei, die alles kaputt gemacht hat. Wir hatten mal eine gute Wirtschaft“, kritisiert er. Dem designierten CDU-Kanzler Friedrich Merz traue er nur wenig Gestaltungsmacht zu – er sieht dafür aber weniger die Christdemokraten in der Verantwortung als die Wähler nur wenige Kilometer entfernt. „Weil die neuen Bundesländer nicht bereit sind, mal vernünftig zu wählen“, beklagt er.
Denn auf Thüringer Seite ist die Wahlkarte flächendeckend blau gefärbt, in einigen Wahlkreisen und Gemeinden kratzt die AfD an der absoluten Mehrheit oder hat sie sogar schon erreicht. Im benachbarten Wahlkreis Eichsfeld – Nordhausen – Kyffhäuserkreis steht sie bei 38,9 Prozent vor CDU (23,3 Prozent), Linke (13,3 Prozent) und BSW (8,6 Prozent). „Das ist für mich unbegreiflich“, sagt der 74-jährige Rentner über das Wahlverhalten der Thüringer: „Sie haben 40 Jahre gelitten.“ Und nun folgten sie wieder einer autoritären Partei.

Zwar erkennt er einige Herausforderungen an, die Lohn- und Rentenunterschiede, die teils höheren Lebenshaltungskosten. „Ich möchte da nicht wohnen“, sagt Günther. Allerdings zeigt er nur wenig Verständnis für die Mentalität, die er den Thüringern zuschreibt: „Wenn ich mich mit den Neubürgern unterhalte, gibt es keine Übereinkunft, weil sie nur auf ihre Vorteile bedacht sind.“
„Ich bin mit einigen Ossis nett bekannt“
Eine andere Rentnerin findet bereits die 14,5 Prozent für die AfD in ihrem Wahlkreis erschreckend. Auch aus ihr spricht die Unzufriedenheit, wenn sie die zunehmende Vermüllung in Bad Sachsa, fehlende Bistros oder den touristischen Expansionskurs ihrer Stadt beklagt. „Das fängt hier im Kleinen an, dass die Einwohner nicht gehört werden, und setzt sich nach oben fort“, findet sie.
Deshalb habe auch sie aus Frust über das grüne Spitzenduo Robert Habeck und Annalena Baerbock ganz anders gewählt als sonst – aber eben nicht die AfD. Ein Grund, weshalb auch sie nicht nach Thüringen ziehen würde. „Ich bin mit einigen Ossis nett bekannt. Aber auch das Eichsfeld ist stark unterwandert von der AfD“, sagt die Rentnerin über die benachbarte Region jenseits der ehemaligen Grenze.
Vor dem Besuch in Thüringen steht ein Stopp in Walkenried an. Die Einheitsgemeinde liegt zwar ebenfalls noch im Landkreis Göttingen, zählt aber zum Wahlkreis Goslar – Northeim - Göttingen II – und hier hat die SPD ihr Direktmandat hauchdünn verteidigt. Bei mehr als 155.000 Wählern gaben am Ende 174 Stimmen oder 0,1 Prozent den Ausschlag für Frauke Heiligenstadt.
Ähnlich wie in Bad Sachsa ist die AfD auch in Walkenried mit 27,2 Prozent deutlich stärker als im Bundes- oder Wahlkreisvergleich (20 Prozent) und schnell gibt sich ein Passant als Sympathisant zu erkennen. „Zu wenige haben AfD gewählt“, findet er.
Windräder seien überflüssig, die Pipeline nach Russland dagegen notwendig, außerdem sollte kein Geld mehr an die Ukraine fließen. „Was Rot-Grün-Gelb gemacht hat, ist totale Scheiße“, so das verbitterte Fazit des Senioren.
„Drüben ist alles besser. Die Unterschiede sind nach wie vor extrem“
Dennoch ist seine Position im Landkreis Göttingen noch lange nicht mehrheitsfähig – ganz anders als drei Kilometer entfernt. Kaum fünf Minuten dauert die Autofahrt von Walkenried nach Ellrich, auf halber Strecke weisen ein Straßenschild und ein Findling auf die jahrzehntelange innerdeutsche Teilung hin.
Hier haben der AfD bereits 41 Prozent der Wähler ihre Stimme gegeben. Ein 20-jähriger Sympathisant hat auf dem Marktplatz schnell die Erklärung für dieses Gefälle parat: „Drüben ist alles besser. Die Unterschiede sind nach wie vor extrem.“ Arbeit, Lohn, Rente – solche Ungerechtigkeiten spürten auch junge Leute wie er.
Gleichzeitig sähen sich die Ellricher und Nordhäuser mit Herausforderungen wie der Unterbringung von Flüchtlingen konfrontiert. Schnell kommt das Gespräch auf Kriminalität durch Asylbewerber und unsichere Innenstädte zu sprechen. Solche negativen Erfahrungen hätten nichts mit rechtem, linkem oder grünem Gedankengut zu tun.
„Es gibt Sachen, die ich nicht gutheiße“, sagt AfD-Wähler
Dass der Thüringer Verfassungsschutz den AfD-Landesverband um ihren Vorsitzenden Björn Höcke als erwiesen rechtsextrem einstuft, scheint hier nicht mehr abzuschrecken. „Es gibt Sachen, die ich nicht gutheiße“, sagt der 20-Jährige. Doch in vielen Punkten gebe es eben auch Schnittmengen.
Umso frustrierter zeigt er sich, dass Friedrich Merz eine Zusammenarbeit mit der AfD ausschließt, obwohl beide Fraktionen theoretisch eine große Mehrheit im Bundestag hätten. „Das hat nichts mit Demokratie zu tun“, findet er und lässt außer Acht, dass auch CDU und SPD voraussichtlich auf eine demokratische Mehrheit im Bundestag kommen.
„Wir fühlen uns immer noch wie Bürger zweiter Klasse“
Auf das Ost-West-Gefälle führt auch eine Frührentnerin in Ellrich die deutlich größeren Zustimmungswerte für die AfD zurück. Sie selbst hätte sich ein stärkeres BSW gewünscht. „Wir fühlen uns immer noch wie Bürger zweiter Klasse“, beschreibt sie und schiebt hinterher: „Das muss sich ändern.“
In vielen Aspekten sei die Benachteiligung der neuen Bundesländer zu spüren – obwohl Erfurt von hier weiter entfernt liegt als Göttingen. „Das sind alles Leute, die gerecht behandelt werden wollen“, sagt sie über die AfD-Wähler in ihrem Bekanntenkreis; Nazis seien gewiss nicht darunter.
Den Thüringer Landesverband, dem auch ihr Partner seine Stimme gebe, sehe sie selbst kritisch. „Man hätte Höcke schon lange rausschmeißen sollen“, sagt sie. Ohne den Rechtsaußen schätze sie das Wählerpotenzial noch stärker ein. Auf der anderen Seite könne sich eine neue Bundesregierung kein Scheitern erlauben: „Dann wird die AfD stärkste Kraft.“
„Bei Thüringen war das schon immer so ein bisschen drin“
Zurück auf der niedersächsischen Seite in Walkenried rätselt eine Gewerbetreibende über die unterschiedlichen Wahlergebnisse. „Bei Thüringen war das schon immer so ein bisschen drin“, sagt sie und will zunächst keine großen Mentalitätsunterschiede zu den Nachbarn ausmachen. Auffällig sei lediglich, dass AfD-Wähler in Thüringen sehr offen ihre Wahlentscheidung kommunizierten.
Ansonsten lasse sich die Herkunft höchstens am Kennzeichen oder beim Dialekt erkennen. Eigentlich sei es ein ganz normales Miteinander. Vor allem die junge Generation denke nicht mehr so stark in Ost-West, sagt die 45-Jährige, die sich als Wechselwählerin beschreibt.
Als sie von den 41 Prozent für die AfD in Ellrich hört, muss sie aber doch schlucken. „Das ist schon heftig – echt viel Zulauf“, sagt sie und bilanziert ratlos: „Da ist dann doch noch die Grenze.“ Allerdings schwappe die Sympathie für die AfD womöglich allmählich über in den Westen.