Ifo-Chef Clemens Fuest: Top-Ökonom sagt, wir sollen mehr arbeiten: Fünf Dinge müssen Sie dazu wissen
Das Münchner Ifo-Institut hat die Frühjahrsprognose für die deutsche Wirtschaft präsentiert: Statt um 0,4 soll das Bruttoinlandsprodukt nur noch um 0,2 Prozent wachsen. Nach zwei Rezessionsjahren droht also erneut ein Quasi-Stillstand. Dabei ist allerdings das geplante Sondervermögen für Verteidigung, Infrastruktur und Klimaschutz noch nicht einberechnet. Um die Wirtschaft anzukurbeln, braucht es einen ganzen Katalog von Maßnahmen. Das hat auch Ifo-Chef Clemens Fuest stets betont.
Bei der Vorstellung der Prognose setzt er aber einen Schwerpunkt: „Wir müssen zurück zur Vollarbeit und den Trend zur Teilzeit stoppen“, sagt er. In Deutschland würde zu wenig gearbeitet. Er sagt nicht, dass das daran läge, dass die Deutschen faul seien. Er unterstellt niemandem etwas Böses. Aber er argumentiert mit nackten Zahlen, etwa denen der OECD, wonach der durchschnittliche Deutsche nur 1300 Stunden im Jahr arbeitet. In keinem Land der mehr als 40 Staaten fassenden Gemeinschaft sind es weniger. Was steckt also hinter der Forderung? Was meint Fuest genau? Und: Hat er Recht?
1. Die richtige Interpretation der OECD-Statistik
Im Jahr 2023 arbeitete der durchschnittliche Deutsche 1343 Stunden. Damit ist Deutschland Letzter im Ranking von 34 OECD-Ländern, für die es Daten gibt. Den letzten Platz haben wir dabei seit Jahren gebucht. Knapp vor Deutschland liegen unsere Nachbarn Dänemark (1380 Stunden) und die Niederlande (1413), dann folgen Norwegen (1418) und Österreich (1435). Der OECD-Durchschnitt liegt bei 1742 Stunden, an der Spitze stehen Mexiko mit 2207 Stunden vor Costa Rica mit 2171 Stunden.
Die Statistik belegt zwei Dinge: Erstens, dass Länder am unteren Ende eine tendenziell höhere Teilzeitrate haben. Ein Vollzeitjob mit acht Arbeitsstunden pro Tag und rund 230 Arbeitstagen im Jahr läge im Bereich des OECD-Durchschnitt, je nachdem, wie oft ein Angestellter krank wäre. Alle Länder darunter arbeiten also im Schnitt weniger als acht Stunden am Tag, wobei Teilzeitjobs diese Statistik am stärksten nach unten ziehen.
Zweitens, wenige Arbeitsstunden in einem Land zu haben, ist ein Zeichen von Wohlstand. Sowohl historisch gesehen sinken Arbeitsstunden in einem Land, je weiter der Wohlstand steigt, als auch räumlich betrachtet. Länder wie Mexiko und Costa Rica führen das Ranking eben gerade deswegen an, weil dort der Wohlstand gering ist und Menschen viel arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Entsprechend stehen am anderen Ende also reiche Länder, die es sich leisten können, wenig zu arbeiten. Dass Deutschland ganz hinten steht, könnte uns also auch stolz machen.
Diesen Zusammenhang würde auch Fuest nicht bestreiten. Er betont sogar, dass weniger Arbeitsstunden in einem Aufschwung funktionieren würde. Er dreht das Argument jetzt also genau um und sagt, dass in der derzeitigen Rezessionslage Menschen deswegen eben mehr arbeiten müssten.
2. Die Zahlen zum deutschen Teilzeit-Trend
Nach Zahlen der OECD arbeiteten 20,8 Prozent der deutschen Erwerbstätigkeiten 2022 in Teilzeit. Das ist der fünfthöchste Wert unter 38 Staaten, wobei die Statistik mit Abstand von den Niederlanden angeführt wird, die mit 34,1 Prozent weit vor der Schweiz (23,6 Prozent) an der Spitze stehen. Bei den deutschen Frauen sind es sogar 34,5 Prozent – ebenfalls Platz 5 – während die Männer mit nur 8,7 Prozent eher im oberen Mittelfeld des OECD-Vergleichs liegen. Das Statistische Bundesamt zählt für 2023 sogar eine Teilzeitquote von 31 Prozent, wobei Frauen hier bei 50 Prozent liegen. Grund für die Differenz sind unterschiedliche Methoden. Die OECD zählt einen Teilzeitjob als solchen, wenn eine Person weniger als 30 Stunden in der Woche dort arbeitet. Das Statistische Bundesamt erfasst Teilzeit über Umfragen, bei denen die Befragten selbst angeben, ob sie in Teil- oder Vollzeit arbeiten. Hier würde also auch jemand mit einer Viertage-Woche und 32 Arbeitsstunden unter die Definition fallen. Egal, welche Definition wir verwenden, die Teilzeit-Quote in Deutschland ist hoch.
Das wäre unter normalen Umständen wie im vorigen Punkt gezeigt ein Zeichen von Wohlstand. In Deutschland wird es aber gerade zum Problem. Das liegt nur indirekt an der schwachen Wirtschaft der aktuellen Jahre, sondern mehr am steigenden Fachkräftemangel. Viele Ökonomen, nicht nur Fuest, plädieren seit Jahren dafür, gerade mehr Frauen von Teilzeit in Vollzeit zu bringen, um die Lücke an qualifizierten Arbeitern zu füllen. Das wäre einfacher, als dies etwa über Zuwanderung oder einen Anstieg des Renteneintrittsalters zu regeln. Zudem wollen viele Frauen das auch. Bei einer Umfrage des Bundesfamilienministeriums vor zwei Jahren gaben von rund fünf Millionen erwerbslosen oder in Teilzeit arbeitenden Frauen zwischen 25 und 49 Jahren 42 Prozent an, dass sie gerne mehr arbeiten würden.
3. Warum ist die Teilzeit-Quote so hoch?
„Kaum ein modernes Land der Welt schafft so ungleiche Chancen und Freiheiten für Frauen und Männer wie Deutschland“, sagt Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) dazu in einem Blog-Beitrag. Der Hauptgrund liegt in der Kinderbetreuung. Diese fällt immer noch hauptsächlich den Frauen zu und lässt sich in Deutschland weiterhin schlecht mit einer Vollzeitstelle vereinbaren. Es fehlt an Kindergartenplätzen und Betreuungsmöglichkeiten, aber auch an entsprechend flexiblen Arbeitsmodellen mit angemessener Bezahlung. So ist es am Ende für viele Frauen einfacher, nur in Teilzeit zu arbeiten – oder gar nicht. So zeigt das Statistische Bundesamt, dass die Teilzeit-Quote bei Müttern mit einem minderjährigen Kind mit 67 Prozent am größten. Bei Männern in der gleichen Situation sind es nur 9 Prozent.
Fuest findet zudem, dass die staatlichen Anreize, von Teilzeit in Vollzeit zu wechseln, zu gering seien. Das trifft vor allem auf Haushalte mit niedrigem Einkommen zu. Wer etwa in Teilzeit arbeitet und aufstockendes Bürgergeld, Wohngeld oder andere Sozialleistungen erhält, der würde mit einem Vollzeitjob oft nur marginal mehr Geld zur Verfügung haben. Fuest nutzte dazu schon im vergangenen Jahr das Extrembeispiel einer vierköpfigen Familie in München, für die ein Anstieg des Bruttoeinkommens von 3000 auf 5000 Euro im Monat lediglich 32 Euro mehr netto bedeuten würde. Doch selbst bei niedrigen Einkommen, die ohne Sozialleistungen auskommen, ist die Gewinnspanne durch den Wechsel von Teilzeit in Vollzeit oft gering.
4. Wie ließe sich der Teilzeit-Trend stoppen?
Wenn Ökonomen davon reden, mehr Menschen in Vollzeitarbeit zu bringen, dann geht es meistens um Frauen. Denen würde eine bessere Kinderbetreuung helfen, also ein Ausbau von kostenlosen Kita-Plätzen und Ganztagsschulen. Zwar gibt es bereits einen Rechtsanspruch auf Kita-Plätze und ab 2026 einen auf Ganztagsschulen, doch in der Realität fehlt es bundesweit an hunderttausenden Plätzen.
Ebenfalls helfen würde ein Ausbau des Pflegesystems in Deutschland, denn die Pflege von Angehörigen ist nach der Kinderbetreuung der zweithäufigste Grund, warum Menschen in Teilzeit arbeiten, obwohl sie lieber in Vollzeit arbeiten würden.
Am unteren Ende der Einkommensskala sind es finanzielle Anreize, die gesetzt werden müssten. In Bezug auf die Transferleistungen des Staates wären das besser aufeinander abgestimmte Transferentzugsraten. Damit ist gemeint, dass mehr eigener Verdienst nicht zu einem überproportionalen Verlust von Bürgergeld, Wohngeld oder anderen Leistungen führt, sondern dass alle harmonisiert kleiner werden, je mehr ein Empfänger selbst in einem Job verdient. Außerdem würde es helfen, wenn die Steuersätze der Einkommensteuer im Bereich niedriger Einkommen weniger stark ansteigen würden.
Zumindest letzteres ist bei Union und SPD in Planung. So soll die Grenze für den Spitzensteuersatz angehoben werden, was auch alle Grenzwerte darunter entzerren und somit die Steuerlast auch geringer Einkommen senken würde.
5. Führt weniger Teilzeit wirklich zu mehr Wohlstand?
Ziel eines Vollzeit-Trends wäre es laut Fuest, wieder für mehr Wirtschaftswachstum zu sorgen. Es gibt aber keinen automatischen Zusammenhang zwischen der Zahl der in einem Land geleisteten Arbeitsstunden und der Wertschöpfung – sonst wären wie oben gezeigt Länder wie Mexiko und Costa Rica die Supermächte der Welt und Deutschland und die Niederlande Entwicklungsländer. Wenn also Ökonomen wie Fuest oder Arbeitgeber-Verbände wie die Deutsche Industrie- und Handelskammer zu mehr Vollzeit aufrufen, dann geht es dabei weniger darum, dass alle Menschen zwangsweise mehr arbeiten sollen – sondern, darum, dass sich das Angebot an Menschen erhöht, die Interesse an einem Vollzeitjob haben und diesen auch ausüben können. Schließlich müssen in der Wirtschaft am Ende nur die Lücken geschlossen werden, die da sind. Volkswagen wird keinem Fließbandarbeiter 40 Arbeitsstunden bezahlen wollen, wenn nur Arbeit für 20 Stunden da ist. In vielen IT-Berufen hingegen wären Arbeitgeber über jede zusätzliche Arbeitsstunde glücklich, die ihre Mitarbeiter leisten können. Gleiches gilt etwa im Gesundheits- und Pflegesystem, dem es notorisch an Fachkräften fehlt und deren jetzige Mitarbeiter stets überarbeitet sind.
Wenn also die richtigen Lücken in der Wirtschaft geschlossen werden, erhöht das wiederum die Produktivität derjenigen Branchen, die noch wachsen können. Zudem hat mehr Vollzeitarbeit noch einen zweiten positiven Effekt: Die Löhne der entsprechend mehr arbeitenden Personen würden steigen, womit sie sich wieder mehr Waren und Dienstleistungen leisten können. Der Binnenkonsum würde dadurch also steigen, was im besten Falle wiederum zu mehr Nachfrage nach Fachkräften auch in anderen Branchen führt. Der Staat würde dadurch dreifach profitieren: Erstens zahlen Vollzeitangestellte mehr Einkommensteuern und Sozialabgaben als Teilzeitkräfte, zweitens steigen die Einnahmen etwa aus der Mehrwertsteuer, wenn der Konsum steigt, und drittens können Vollzeitkräfte besser fürs Alter vorsorgen und sind im Alter seltener auf Grundsicherung oder andere Staatshilfen angewiesen.