„Mörder willkommen“: Russland treibt Soldaten mit Schlägen an die Front

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Bauernsöhne, Akademiker, Schwerkriminelle: Putin zwingt viele junge Männer an die Ukraine-Front – und lässt ihnen mitunter den Gehorsam einbläuen.

Moskau – Er könne „nichts gegen die Kriminalität in den Streitkräften tun“, soll Wladimir Ustinow gesagt haben. Das war 2006 und Ustinow zu der Zeit noch Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation – bis zu diesem Satz. Kurz darauf hat ihn Wladimir Putin abgesetzt. Aus dem einstigen Chefankläger des Kreml war eine unerwünschte Person geworden, wie der Spiegel geschrieben hatte. Die Kriminalität in den Streitkräften lebt fort: „Russlands militärische Grausamkeit beginnt bei seinen eigenen Wehrpflichtigen“, schreibt das Magazin Foreign Policy. In den Streitkräften sollen Soldaten behandelt werden wie Sträflinge – als säßen sie in einem sowjetischen Gulag.

„In Russland gibt es leider noch immer die sogenannte ,Dedowtschina‘ (‚Herrschaft der Großväter‘), die bezeichnet die extreme Schikane von jüngeren durch ältere Soldaten; Offiziere misshandeln zudem Untergebene, es gibt Gewaltregime generell oder Soldatenmisshandlung untereinander; Kadavergehorsam soll eingeprügelt werden“, meint Christian Göbel. Im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt äußerte der Oberstleutnant der Reserve am Zentrum für Militärgeschichte, dass dieses Regime mit dem schleppenden Vormarsch im Ukraine-Krieg zusammenhängen könnte. Aber möglicherweise auch mit der geringen Wertschätzung, die Russland seinen Soldaten generell entgegenbringt.

„In der russischen Armee ist Dedowschtschina ein einzigartiges kulturelles Merkmal und ein prägender Teil der militärischen Identität. Es ist ein Prozess, der russische Soldaten brutalisiert und traumatisiert zurücklässt; er lehrt sie wiederum, anderen Schmerzen zuzufügen.“

„Die Überlebenden dieser Schikanen sagen, das Hauptziel bestehe darin, die jungen Männer zu brechen. Sie werden in unterwürfige, eingeschüchterte und gehorsame Drohnen verwandelt, die weder unnötige Fragen stellen noch eigenständige Gedanken oder Initiative zeigen“, schreibt der Kommunikationswissenschaftler Kristaps Andrejsons in Foreign Policy. Russland müsse eine gefräßige Kriegsmaschine füttern, berichtet aktuell der französische Le Monde – „Vergewaltiger und Mörder willkommen“, schreibt das Blatt. Das scheint disziplinarische Herausforderungen nach sich zu ziehen.

In Putins Armee machen manchmal Schwerverbrecher den Großteil der Einheit aus

Bis zu 30.000 neue Rekruten pro Monat könnte Russland einziehen, vermutet Ruslan Pukhow. Gegenüber dem Wirtschaftsnachrichtendienst Bloomberg hatte der Leiter des in Moskau ansässigen Thinktank Zentrum für die Analyse von Strategien und Technologien im April von 300.000 frischen russischen Soldaten in diesem Jahr gesprochen.

Ukraine-Konflikt, russischer Soldat in der Umgebung von Awdijiwka
Bauernsohn, Akademiker oder Schwerkrimineller – was mag dieser russische Soldat für eine Geschichte haben? Das Bild zeigt ihn vor einem Angriff in Awdijiwka, einer der blutigsten Schlachten, in der Putin mehr als 20.000 Soldaten verloren hat (Archivbild). © IMAGO/Stanislav Krasilnikov/Sputnik Russia

„Nikolai“ lernt bis zu 20 davon kennen – jeden Tag. Der Kompaniechef hat dem Magazin Insider berichtet, dass diese „Freiwilligen“ auf seinen Militärstützpunkt kämen aufgrund des Versprechens, dass ihre Vorstrafen gelöscht würden. „Mit der Zeit machten verurteilte Mörder, Kinderschänder und andere Schwerverbrecher den Großteil des Bataillons aus“, sagte er dem Magazin.

Ihm zufolge seien die Häftlinge unmöglich zu kontrollieren. „Nikolai“ berichtet von Gewalt auf beiden Seiten: von betrunkenen Soldaten, die einen stellvertretenden Divisionskommandeur aus dem Fenster warfen, von rekrutierten Häftlingen, die ihrem Batallionskommandeur drohten, ihn an der Ukraine-Front im Gefecht umzubringen. Er berichtet auch von Vorgesetzten, die besonders treue und willfährige Soldaten dazu instrumentalisieren, Kameraden nach Alkoholmissbrauch oder anderen Vergehen durch Gewalt und Freiheitsentzug zu disziplinieren. „Verwarnungen wirken bei Soldaten, verurteilten Mördern ist das egal“, lässt der Insider „Nikolai“ sagen.

„Schlagen auf Sperrholz“ ist in Russlands Armee wohl ein probates Mittel zur Disziplinierung

Neben der behaupteten Verrohung russischer Schwerstkrimineller in Uniform, scheint der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der Russen deren tradierten militärischen Praktiken geschuldet zu sein, schreibt Andrejsons: „In der russischen Armee ist Dedowschtschina ein einzigartiges kulturelles Merkmal und ein prägender Teil der militärischen Identität. Es ist ein Prozess, der russische Soldaten brutalisiert und traumatisiert zurücklässt; er lehrt sie wiederum, anderen Schmerzen zuzufügen.“ Die Menschenverachtung an der Front bringen die Russen demnach aus den Kasernen mit.

„Schlagen auf Sperrholz“ beispielsweise dient seiner Darstellung nach als Abhärtung oder als Kollektivstrafe – offenbar je nach Laune des Kommandierenden: Die Soldaten stünden in Linie angetreten im Achtung. Ein Vorgesetzter oder ein ausgesuchter Kamerad schreitet die Formation dann ab und „schlägt jedem der stehenden Soldaten mit dem Kolben eines Sturmgewehrs auf die Brust, bis der Verschluss im Rahmen ruckt. Soldaten, die das durchgemacht haben, sagen, dass die Brust danach mindestens eine Woche lang schwarz und blau ist“, schreibt Andrejsons.

Ungehorsam und Alkoholmissbrauch ziehen bei den Russen drakonische Strafen nach sich

Was formal mit der Aufrechterhaltung der Disziplin oder dem Einschwören auf das Gefecht begründet werden könnte, erinnert den Insider „stark an die Traditionen sowjetischer Arbeitslager“, wie Autorin Irina Novik schreibt: „Die Weigerung, Befehle zu befolgen, oder der Missbrauch von Alkohol führen oft zu harten Strafen; manchmal wenden Kommandeure diese missbräuchlichen Methoden jedoch einfach an, um Soldaten zu quälen, die sie persönlich nicht mögen.“

Ruslan Lewijew spricht in dem Zusammenhang von einer Zweiteilung der Armee – in der oberen Klasse sieht er Kommandeure, Spezialisten und Logistikoffiziere sowie ihre Handlanger. Die Infanterie gilt als entbehrlich und muss dazu geknechtet werden, die Hauptlast der Gefechte zu tragen, wie der oppositionelle Analytiker im Insider angibt. „Die Gewalt wird also so schnell nicht verschwinden“, sagt er. Möglicherweise wird sie sogar zunehmen – wenn zu erwarten ist, dass Wladimir Putin gezwungen sein wird, seiner Kriegsmaschine immer mehr Kriminelle zum Fraß vorzuwerfen.

Le Monde will erfahren haben, dass in mehreren Regionen Russlands bereits Gefängnisse geschlossen wurden, weil deren Insassen an der Front stünden. „Sechs in Swerdlowsk und Jekaterinburg haben bereits ihre Pforten geschlossen, und zwei in Krasnojarsk sind dabei, geschlossen zu werden“, schreibt das Blatt. Wenn die ehemaligen Straftäter sechs Monate an der Front überlebt hätten, würden sie als „Veteranen“ gelten und als unbescholtene Zivilisten leben können – es sei denn, sie werden rückfällig.

Putin setzt das Gulag-System anscheinend fort mit neuen Lagern in der Ukraine

Laut der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press skizziert ein russisches Regierungsdokument aus dem Januar Pläne, „bis 2026 in der besetzten Ukraine 25 neue Strafkolonien und sechs weitere Internierungslager zu errichten“. Le Monde schätzt die Zahl der aus der Haft an die Front Befohlenen auf 150.000 Menschen und beruft sich auf offizielle russische Quellen. Diese Zahl speist sich aus der Zahl der vor dem Krieg in Russland wohl rund 350.000 Inhaftierten und zusätzlich ungefähr 100.000 Untersuchungsgefangenen. Im Oktober vergangenen Jahres soll Russland noch 266.000 Gefangene gezählt haben, schreibt Le Monde.

Das Blatt berichtet weiter, Verurteilungen wie Terrorismus, Hochverrat, organisierte Kriminalität, Extremismus oder Diskredierung der Armee sowie Verbreitung falscher Nachrichten würden nicht durch den Militärdienst abgegolten werden können. „Mörder und Vergewaltiger hingegen sind seit langem willkommen, wie die Profile der in den letzten zwei Jahren begnadigten Häftlinge zeigen.“ In diesem Kontext zitiert Bundeswehr-Militärhistoriker Göbel den ehemaligen russischen Reserveoffizier und jetzigen Autor Michail Schischkin: „Die russische Armee war und bleibt eine ‚Schule der Sklaven‘, in der ältere Soldaten praktisch unbeschränkte Macht über neue ‚Rekruten haben‘“, so Schischkin.

Besserungslager für 20 Millionen Menschen

Der Begriff Gulag ist zum Synonym für das sowjetische Repressionssystem geworden, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Abkürzung Gulag steht für das russische „Glavnoe Upravlenije Lagerej“ und bedeutet „Hauptverwaltung der Lager“. Es bezeichnet ein umfassendes System von Straf- und Arbeitslagern („Besserungsarbeitslager“) sowie Verbannungsgebieten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, das in den 1920er Jahren eingerichtet und systematisch ausgebaut wurde. Bis Mitte der 1950er Jahre durchliefen schätzungsweise 20 Millionen Menschen das Lagersystem. Die genaue Zahl der Todesopfer ist unbekannt.

Quelle: Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Manche Männer wollen dennoch lieber als vermeintliche „Helden“ von der Front ins Zivilleben zurückkehren als aus der Haft entlassene Straftäter – obwohl sie scheinbar bleiben, was sie sind. Jedenfalls ist auch der ehemalige russische Generalstaatsanwalt über sie gestolpert, wie das russische Magazin lenta.ru 2006 berichtet hatte: Demnach hielt Wladimir Ustinow, vor dem Vorstand der Generalstaatsanwaltschaft und Präsident Putin „eine reuige Rede“, wie das Magazin schrieb: „Er gab zu, dass er nichts gegen die Kriminalität in der Armee unternehmen könne. Die Tatsachen, die der Staatsanwalt in dieser Rede zitierte, sind so erstaunlich, dass nun unklar ist, wie er in seinem Amt weiterarbeiten wird. Das Militär stiehlt, verkauft Menschen in die Sklaverei, tötet ... .“

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