Unter Lebensgefahr: Ukrainer fliehen vor dem Kriegsdienst gegen Russland

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Mehrere Zehntausend folgen ihrer Todesangst statt ihrer Vaterlandsliebe: Fahnenflucht beeinträchtigt auch die ukrainische Armee. Wie reagieren die Behörden?

Kiew – Fedor Wenislawskyj spricht von einer verschwindend geringen Zahl: von maximal eineinhalb Prozent aller wehrfähigen Männer, die der Ukraine den Rücken kehren, um sich nicht aus dem Schützengraben heraus gegen Wladimir Putins Invasionsarmee zu stemmen. Der Vertreter von Wolodymyr Selenskyj im ukrainischen Parlament sagt gegenüber der BBC, die Zahl der Männer, die gegangen seien oder versucht hätten zu gehen, habe keinen Einfluss auf die Kriegsanstrengungen im Ukraine-Krieg. Allerdings ist Fahnenflucht auch unter den Verteidigern kein Kavaliersdelikt.

Kritisch sieht das auch der deutsche Historiker Michael Wolffsohn: „Desertieren ist oft verantwortungslos“, hat er gegenüber dem rbb geäußert. Er unterscheidet deutlich zwischen der Integrität des Regimes und der individuellen Moral jedes möglichen Soldaten: „Man kann Desertieren nicht pauschal als gut oder schlecht bewerten. Das wäre eindimensional. Wer von einer Unrechtsarmee desertiert, zum Beispiel Hitlers Wehrmacht oder Putins Streitkraft, handelt auf einer allgemeinen Ebene, der Makroebene, richtig. Auf der Mikroebene, also im persönlichen Umfeld, hat jeder Deserteur auch Kameraden, die er möglicherweise im Stich lässt und damit dem Tod überlässt. Das ist nicht besonders menschlich.“

Deserteure: Ein Verlust für die ukrainischen Verteidiger

Insofern trifft jeder Fahnenflüchtige eine persönlich gewichtige Entscheidung. Auf 40.000 Männer wird die Zahl der ukrainischen Deserteure geschätzt – mehr als 800.000 Soldaten soll die Ukraine gegen Russland unter Waffen haben, davon sind ungefähr 42.000 Frauen, etwa 5000 davon als aktiv Kämpfende an der Front. In der Ukraine gilt die Wehrpflicht – bereits kurz nach der Invasion Russlands hatte die Ukraine mobil gemacht. Seitdem darf kein Mann zwischen 18 und 60 Jahren das Land mehr verlassen – außer er leidet unter massiven gesundheitlichen Hemmnissen, er hat Betreuungspflichten oder mehr als drei Kinder zu versorgen.

Ukraine-Krieg
Zwei ukrainische Artilleristen – viele Männer scheuen den Dienst an der Waffe und flüchten vor der Lebensgefahr in den Westen (Symbolbild). © Libkos/AP/dpa

Laut dem Bundesinnenministerium sind seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine 203.640 männliche ukrainische Staatsangehörige im wehrfähigen Alter nach Deutschland eingereist. Niemand weiß, wer davon vor dem Kriegsdienst geflohen ist. Das gilt gleichermaßen auch für Russen. Noch Ende September hatte der Parlamentarische Staatssekretär Mahmut Özdemir auf eine Abgeordneten-Frage geantwortet: „Es wird in Deutschland statistisch nicht erfasst, ob ausländische Staatsangehörige in ihrem Heimatland gegebenenfalls wehrpflichtig und/oder ,fahnenflüchtig´ geworden beziehungsweise desertiert sind. Gleiches gilt für deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die neben der deutschen gegebenenfalls weitere Staatsangehörigkeiten besitzen.“

Fahnenflüchtige: Die Angst, in der Heimat als Verräter zu gelten

Bereits Anfang des zweiten Kriegsjahres hatte Connection e.V., der Verein, der sich global für Kriegsdienstverweigerer einsetzt, verwundert auf diese hohe Zahl reagiert, wie Rudi Friedrich von Connection e.V. sagt: „Wir sind über dieses Ergebnis selbst überrascht. In der Öffentlichkeit ist kaum bekannt, dass so viele Männer aus der Ukraine geflohen sind, die sich dem Kriegseinsatz entziehen. Bei Connection e.V. erhalten wir fast täglich Anfragen zu ukrainischen Verweigerern, fast immer aber von Angehörigen oder Freunden, ganz selten von den Betroffenen selbst. Es gibt auch fast niemand, der mit seiner Geschichte (auch anonymisiert) an die Öffentlichkeit gehen will. Darüber hinaus befürchten sie wohl Diffamierung und die Brandmarkung als Verräter und bleiben daher lieber im Hintergrund.“

Sicher kann nämlich keiner von ihnen sein, auch nicht in Deutschland – möglicherweise sind sie dem Dienst an der Waffe durch eine Straftat entkommen. Deshalb könnte der steigende Bedarf der ukrainischen Armee an Soldaten künftig durch eine Einschränkung von medizinischen Ausnahme-Regelungen gedeckt werden. Wie die englischsprachige Zeitung The Kyiv Independent kürzlich berichtete, war die ukrainische Polizei jüngst einer Korruptionsaffäre auf der Spur; in die sollen auch ukrainische Musterungsverantwortliche involviert gewesen sein: Demnach konnten sich Wehrfähige für mehrere Tausend Dollar gefälschte medizinische Gutachten kaufen, sich dadurch für untauglich erklären lassen und sich damit außer Landes schmuggeln. Das wiederum wäre ein auslieferungsfähiger Straftatbestand abseits von Handlungen, die der Militärjustiz unterliegen, wie die Deutsche Welle berichtet.

Korruption: Der Feind, der die Ukraine von innen angreift

Nach Artikel 4 des Europäischen Auslieferungsabkommens ist die Auslieferung bei militärisch strafbaren Handlungen ausgeschlossen. „Damit sind in erster Linie Delikte gemeint, die ausschließlich in der Verletzung militärischer Pflichten bestehen“, erklärte das Bundesjustizministerium gegenüber der Deutschen Welle. Nach Artikel 2 Absatz 1 ist Voraussetzung für eine Auslieferung, dass die Handlung sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch dem des ausliefernden Staates strafbar ist. Dadurch würden Straftaten laut deutschem Wehrstrafgesetz (Paragraf 15-18), unter anderem für Fahnenflucht und Dienstentziehung durch Täuschung, als Grundlage für eine Auslieferung ausscheiden. „Wenn eine Handlung allerdings auch nach allgemeinem Strafrecht mit einer Strafe bedroht ist, zum Beispiel eine Bestechung, um nicht eingezogen zu werden, gilt die Ausnahme nicht“, so das Justizministerium gegenüber der Deutschen Welle.

Und Korruption ist ein Feind, der die ukrainische Integrität von innen bedroht und durch den analogen Verwaltungsapparat gestützt wird, wie der Parlamentarier Fedor Wenislawskyj gegenüber der BBC bestätigt. Er sagt, dass die Zersetzung der Verteidigungsfähigkeit, die von gefälschten Dokumenten ausgeht – und die Schwierigkeiten, die in manchen Fällen bei der Beschaffung echter, von den Grenzschützern anzuerkennender Papiere bestehen – innerhalb der nächsten ein bis zwei Jahre durch ein neues digitales System beseitigt werden sollten.

Korruption: Das Geschäft mit der individuellen Todesangst

Bisher scheint die Gerichtsbarkeit aber eher verständnisvoll zu reagieren: Laut Recherchen der BBC riskieren ukrainische Fahnenflüchtige eine Geldstrafe von bis zu 230 US-Dollar und eine Gefängnisstrafe von bis zu acht Jahren. Deshalb ist beispielsweise Moldawien eines der Ziele, das die Flüchtlinge zur Not auch schwimmend über den Fluss Dnjestr zu erreichen versuchen – selbst unter Lebensgefahr. Rumänien, Polen, Ungarn und die Slowakei sind weitere Aufnahmeländer. Auch Schleuser sollen sich längst organisiert haben, um mit der individuellen Todesangst Geschäfte zu machen, wie die taz berichtet.

Für etwas mehr als 5000 Dollar konnten wehrpflichtige Männer als Fahrer aufgenommen werden in ein Netzwerk, das humanitäre Hilfsgüter über die Grenze transportiert und auf die freiwillige Rückkehr der Transporteure setzt. Manche der Nichtregierungsorganisationen, die diese Transporte durchführen, seien extra zum Zweck des Menschenschmuggels gegründet worden, schreibt die taz. Dieses System soll inzwischen eingegrenzt worden sein. Mehr als 20.000 ukrainische Flüchtende sind insgesamt auch wohl bereits geschnappt worden.

Was dem illegalen Grenzübertritt folgt, steht in den Sternen, wie auch die Nichtregierungsorganisation ProAsyl vemutet: Derzeit erhalten alle ukrainischen Staatsbürger, die bis zum 24. Februar 2022 in der Ukraine gemeldet waren, einen Schutzstatus in der Europäischen Union; jedoch sei zu bedenken, dass mit Auslaufen dieser Regelung die Frage relevant werde, ob und wie Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine selbst verfolgt werden. Gegenüber der BBC jedenfalls ließ der ukrainische Parlamentarier Fedor Wenislawskyj Milde durchklingen: Er bezweifle, dass die Rückkehrer mit einer rückwirkenden Strafe rechnen müssen, weil das seiner Meinung nach keineswegs im nationalen Interesse sei.

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