„Wir sind Fleisch“ – Soldaten betteln Putin aus Kellern heraus um Mitgefühl an
„Wir sind Fleisch“ – Soldaten betteln Putin aus Kellern heraus um Mitgefühl an
Russen fühlen sich unmenschlich behandelt, und die Ukraine nennt ihren Armee-Chef „Schlachter“ – in einem neuen Video flehen Krieger um Mitgefühl.
Nowomychajliwka – „Unser Kommando behandelt uns wie Fleisch“, sagt der unbekannte Soldat in der eingeblendeten Übersetzung. Der Russe klagt in einem Video auf t-online über die unhaltbaren Zustände, die Wladimir Putin seinen Invasionstruppen im Ukraine-Krieg zumutet. Das sei ein Hilferuf, erklärt die Stimme des Sprechers aus dem Off. Russland verheize seine Soldaten systematisch, schwingt unausgesprochen als Behauptung im Hintergrund mit. In dem Video prangern 21 Soldaten der 155. Marinebrigade der russischen Streitkräfte die Entscheidungen ihrer Kommandeure an – sie seien in selbstmörderische Einsätze getrieben worden. Weil die Männer um ihr Leben fürchten, verbarrikadieren sie sich in einem Keller irgendwo in der Ukraine – und hoffen nun auf Hilfe.
Das Video ist das neueste von vielen, die den jetzt zwei Jahren währenden Kriegsalltag begleiten. Die Quellen sind weitgehend unbekannt, die vermeintlichen Fakten ungeprüft, und auch die Protagonisten werden selten namentlich genannt. Diese Videos sind Teil der Kriegführung, und die Propagandisten in Uniform auf beiden Seiten leisten genauso ihren Teil zum Sieg ihrer Truppen, wie die kämpfenden Kameraden in den Schützengräben. Das Leiden der gegeneinander kämpfenden Menschen und die Bilder, die in den Westen fluten, sind mitunter Zweierlei – und müssen zwingend voneinander getrennt gesehen werden.
Ohne jeden Zweifel: Dieser Krieg macht es Beobachtern leicht, tendenziell eher der Darstellung der Ukraine zu folgen – ein Umstand, der durch die vermeintlich objektive Berichterstattung immer wieder schnell in den Hintergrund gedrängt wird. Die Ukrainer kämpfen um das Überleben ihres Landes gegen einen übermächtigen Moloch, der mit großer Brutalität Meter um Meter der Ukraine zu verschlingen droht. In einem solchen David-gegen-Goliath-Konflikt neigen Beobachter dazu, die Seite des Schwächeren zu ergreifen. Ihre Glaubwürdigkeit verspielt die russische Seite zudem dadurch, dass sie erwiesenermaßen lügt – zum Beispiel, wenn sie behauptet, keine Zivilisten anzugreifen, oder wenn sie als Kriegsgrund angibt, die Ukraine „entnazifizieren“ zu wollen.
Soldaten klagen im Video: „Sie sehen uns nicht als Menschen.“
Das Video soll ein Appell sein an die Militärführung in Russland – beziehungsweise die russische Spitze klipp und klar als menschenverachtend klassifizieren. „Sie sehen uns nicht als Menschen. Sie haben Blockadeeinheiten und Scharfschützen aufgestellt, die gegen uns vorgegangen sind. Wir wollen einen Massenaufruf an alle Einheiten starten, damit das endlich aufhört“, sagt der Sprecher der Gruppe. Das erste Opfer des Angrifffskrieges ist immer die Wahrheit – dieser Satz gilt seit der Antike. Auf dem Online-Magazin Puls 24 wirbt die österreichische Journalistin Ingrid Brodnig dagegen für einen weiten Blickwinkel und Skepsis gegenüber vermeintlichen Videos aus Kriegsgebieten. Als klare Warnsignale nennt sie vor allem emotionale oder spektakuläre Inhalte geteilter Videos. „Je spektakulärer eine Aufnahme ist, desto vorsichtiger sollte man werden“, warnte Brodning. Kein Bild, kein Video, keine Nachricht kommt durch Zufall in Umlauf.
Die Soldaten im jüngsten Video berichten von Einsätzen, die einem Himmelfahrtskommando ähneln. Sie wurden ohne ausreichende Ausrüstung, Waffen und Munition in den Kampf geschickt. „Für die Verwundeten wurde keine Evakuierung durchgeführt. Einige konnten auf unterschiedliche, aber immer abenteuerliche Weise entkommen. Diejenigen, die zurückkamen, wurden mit Messern bewaffnet wieder in den Kampf geschickt. Ohne Schusswaffen. Unser Kommando sagt, wir sind Fleisch“, wiederholt der russische Soldat. Die Krise in Wladimir Putins Armee ist so alt wie der Krieg selbst.
Ende vergangenen Jahres hatten wohl russische Deserteure ihren Kommandeur erschlagen und waren von der Krim geflohen: Mehrere Soldaten der 20. motorisierten Schützendivision, die zur 8. Armee im Süden Russlands gehört, sollen desertiert sein und dabei ihren stellvertretenden Regimentskommandeur so schwer verletzt haben, dass er kurz darauf starb. Dies berichteten mehrere unabhängige Medien, die sich auf den ukrainischen Geheimdienst berufen, ohne weitere Details zu nennen. Die 20. motorisierte Schützendivision war zu der Zeit auf der besetzten Krim stationiert – die Behandlung der einfachen Soldaten zieht sich ohne große Zweifel durch die gesamte Invasionsarmee.
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Alltag der Soldaten: Extreme Schikane von jüngeren durch ältere Soldaten
Dazu Christian Göbel, Oberstleutnant der Reserve am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften in Potsdam im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt: „In Russland gibt es leider noch immer zum Beispiel die sogenannte „Dedowtschina“ („Herrschaft der Großväter“), die bezeichnet die extreme Schikane von jüngeren durch ältere Soldaten; Offiziere misshandeln zudem Untergebene, es gibt das Gewaltregime generell oder Soldatenmisshandlung untereinander; Kadavergehorsam soll eingeprügelt werden.“
Das Menschenbild der russischen militärischen Führung pointiert Andreas Rüesch in der Neuen Zürcher Zeitung: „Russland behandelt seine Truppen wie den letzten Dreck – als Verbrauchsware Soldat.“ Das wiederum bringt den Verteidigern einen enormen psychologischen Schub, erklärt Reisner: „Bei der Motivation sind die Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Vorteil, das hat der Verlauf des Kriegs gezeigt. Schließlich verteidigen die Männer und Frauen in der ukrainischen Armee Haus und Hof sowie das Leben ihrer Familien – sie wissen sehr genau, wofür sie kämpfen. Russlands Soldaten an vorderster Front können mit Wladimir Putins Kriegszielen dagegen wenig anfangen, sind sich Fachleute einhellig sicher.“
Realität in Russland: Wladimir Putins autoritäres Regime ist bisher unerschüttert
Trotzdem scheint Wladimir Putins autoritäres Regime bisher unerschüttert, und sein Volk scheint ihn zu unterstützen. Auch die Gegenoffensive ist trotz allen guten Willens bisher ein Flop. Daher bildet der Exodus der eigenen Streitkräfte eine Herausforderung. Russland genauso wie die Ukraine kämpfen um die Definition des Begriffes Freiheit als Motivation für das Töten und Sterben – sowohl der Diktator als auch die ukrainische Seite definieren ihn jeweils individuell – aber immer mit der Begründung, Freiheit für ihr Volk zu erstreiten.
Videos sind dabei das Mittel der Wahl, und die Sozialen Medien willfährige technische Helfershelfer, um Meinung zu machen – die Stimme des unbekannten Kriegers – vermeintlich – aus der Ortschaft Nowomychajliwka erzeugt auf jeden Fall Mitgefühlt; ob das Video nun gestellt sein sollte oder echt.
Was im Krieg trotz aller Technisierung zählt, ist die Wertschätzung des Individuums, die die russische Militärdoktrin komplett ignoriert; wie das auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Buch Soldaten des Militärhistorikers Sönke Neitzel zusammenfasst: „Nicht politische Ideologien, sondern Kleingruppenerfahrungen sind entscheidend für die Kampfkraft von Soldaten, ihre Tötungsbereitschaft wie ihre Durchhaltefähigkeit. Neben dem Vertrauen in die Kompetenz der Offiziere ist es vor allem die Erfahrung von Kameradschaft, die eine Truppe zusammenhält und sie auch dann noch weiterkämpfen lässt, wenn die politisch-militärische Lage aussichtslos geworden ist.“
Der neue ukrainische Armee-Chef: der „General, den sie ,Schlachter‘ nennen“
Auch ein menschlicherer Umgang miteinander könnte allerdings kaum verschleiern, dass das militärische System strukturell unmenschlich, weil gerade darauf ausgelegt ist, den einzelnen Soldaten sofort durch einen anderen ersetzen zu können –letztendlich so lange, bis noch mindestens einer nach der Schlacht übrig bleibt. Wer das ist, ist unerheblich. Tatsächlich war auch der amerikanische Soldat im Zweiten Weltkrieg zumindest sprachlich wenig wert außer seiner physischen Präsenz. Die gebräuchliche Abkürzung „GI“ bildete nämlich lediglich die Kurzform für „Gouvernment Issue“ zu Deutsch „Regierungsausgabe“, also die Bezeichnung für ein letztlich klitzekleines Rädchen des Machtapparates. Ein Verschleißteil sozusagen.
Möglicherweise könnten die klagenden russischen Soldaten das ständige Feuer und die Lebensgefahr der Gegenoffensive tatsächlich besser ertragen, wenn wenigstens die Führung zu etwas taugen würde. Aber um die Freiheit aufblühen zu lassen, wenden vor allem die Russen Zwang an – gegen die Außenwelt und durch Vorgesetzte nach innen. Freiheit ist im Dienst der Propaganda ein zweischneidiges Schwert. Meist bekommt sie jemand nur, indem er sie jemand anderem streitig macht.
Der bisherige ukrainische Armee-Chef Walerij Saluschnyj hatte seine Handlungsfreiheit wohl überdehnt und vermutlich Härte im Schlachtenlenken vermissen lassen; die angestrebten Ziele der Bodenoffensive hatte er jedenfalls verfehlt. Jedenfalls hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seinen obersten Soldaten jetzt ausgetauscht. Der Präsident forderte zugleich neue Stringenz in der Mobilisierung und Rekrutierung von Soldaten. Oleksandr Syrsky ist der neue Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte. Der soll Russland in die Knie zwingen. „Viele halten ihn für rücksichtslos und sagen: Er jagt Soldaten durch den Fleischwolf“, berichtet der Spiegel und betitelt ihn als den „General, den sie ,Schlachter‘ nennen“. (Karsten Hinzmann)