Anlaufstelle für Generationen von Studenten: Jetzt schließt der Zornedinger Handbuchbinder Albert Wiedemann (77) endgültig seine Werkstatt

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Albert Wiedermann (77): Buchbinder aus Leidenschaft. Jetzt gibt es sein Geschäft auf – mangels Nachfrage. © PETER KEES

Seine Werkstatt ist eine Institution. Der Zornedinger Handbuchbinder Albert Wiedemann (77) hat 63 Jahre lang Abschluss- und viele andere Arbeiten gebunden. Nun hört er auf.

München/Zorneding – Seit 1973 lebt Albert Wiedemann in Zorneding. Und seit 1987 betreibt er eine Handbuchbinderei in der Amalienstraße in München-Schwabing, direkt hinter der Ludwig-Maximilians-Universität, eine der letzten typischen Münchner Hinterhofhandwerksbetriebe. Ein Familienunternehmen. Ende März sperrt er seine Werkstatt zu.

Dabei hat der gebürtige Gögginger hier bereits einen großen Teil seiner Kindheit verbracht, denn der Vater eröffnete die Buchbinderei 1951 in der Druckerei seines Bruders im Nachbarhof. 1956 zieht sie in die heutigen Räume. Wiedemann tritt in die Fußstapfen des Vaters. Er macht eine Buchbinderlehre und arbeitet ab 1965 im väterlichen Betrieb.

Neben der Handbuchbinderei betreibt man inzwischen auch eine industrielle Buchbinderei. Alles in der Amalienstraße. 1979 werden die beiden Betriebe getrennt. Sein Bruder übernimmt die industrielle Fertigung, zieht – auch weil es wegen Lärmbelästigung durch die großen Maschinen immer wieder zu Ärger mit den Anwohnern kommt – an einen anderen Standort.

63 Jahre Arbeit mit Liebe und Leidenschaft

Die Handbuchbinderei übernimmt Albert Wiedemann. Sie bleibt im Schwabinger Hinterhof. Zu seinen Kunden gehören Rechtsanwälte, Steuerberater, Akademiker, Studenten. Er bindet Fachzeitschriften, stellt Gebrauchseinbände her, beschriftet sie, repariert beschädigte, arbeitet mit Papier, Pergament und Leder, fertigt Skizzenblöcke, Schreiblöcke und -bücher, Zeichenmappen und jede Menge mehr. Der Mann tut das mit Liebe und Leidenschaft.

Montag bis Freitag von 8.30 bis 18 Uhr hat er geöffnet. Nach Ladenschluss erledigt er liegengebliebene Arbeiten. 55 bis 60 Stunden wöchentliche Arbeitszeit. Hinzu kommt die tägliche Fahrt von und nach Zorneding.

Die Werkstatt ist seit Jahrzehnten eine Institution in München

In München ist er eine Institution. Studenten lassen ihre Abschlussarbeiten hier binden oder kaufen Schreibunterlagen. Reich wird man davon nicht, betont er. „Aber das Ganze funktioniert, weil die Miete moderat ist. Dafür haben wir alles selbst eingerichtet, die Fenster, die Türen, den Boden, selbst die Pflasterung des Hofes vor der Ladentüre.“

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Jetzt hört der Buchbinder auf. Aber nicht nur, weil der inzwischen 77-Jährige eigentlich schon seit zwölf Jahren in Rente ist, sondern weil das Geschäft mittlerweile unrentabel geworden ist. In den letzten zehn Jahren seien die Einnahmen um etwa 80 Prozent zurückgegangen. Und zwar, weil die Handwerkskunst durch die Verlagerung vieler Dinge ins Internet nicht mehr so gefragt ist wie einst. Fachzeitschriften etwa, die es einst zu binden galt, findet man heute online und nicht mehr gedruckt. „Hinzu kommt, dass sich die Papierpreise in den letzten zwei bis drei Jahren zum Teil um bis zu 200 Prozent erhöht haben.“ Wiedemann rechnet vor: Für ein handgebundenes Fotoalbum aus gutem Papier, für das er 49 Euro verlangt, müsste er inzwischen eigentlich etwa 135 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer berechnen. „Das kaufen die Leute nicht“, sagt er. „Die schütteln nur den Kopf. Bei bestimmten Papieren aber kostet ein Bogen inzwischen über einen Euro. Vor zehn Jahren lag der Preis noch bei einem Viertel. Da kann man nicht mehr mithalten.“

Der Beruf stirbt nach und nach aus

Ein aussterbender Beruf? Albert Wiedemann nickt. „Der Beruf des Handbuchbinders wird verschwinden. Ein paar Exoten werden vielleicht bleiben.“ Schon vor Jahren war ihm klar, dass er seinen drei Kindern davon abraten wird, den Betrieb weiterzuführen. „Es ist ein exotischer Beruf, bei dem man viel Idealismus mitbringen muss. Wer wenig arbeiten und viel Geld verdienen will, sollte den Beruf meiden. Für junge Menschen hat das keine Zukunft mehr.“ Und ergänzt: „auch, weil ein Buch nicht den Stellenwert hat wie etwa ein Auto.“ Er greift zu seinen Musterbindungen und zeigt stolz die von ihm gebundenen universitären Abschlussarbeiten von einem seiner Söhne.

Wie geht der immer in einem blauen Kittel anzutreffende Mann in den Ruhestand? Mit einem weinenden oder lachenden Auge? „Ich habe meinen Beruf geliebt. Aber ich will auch einmal ein freier Mensch sein“, sagt er. „Und auf meine neue Freiheit freue ich mich.“ Jetzt sei der richtige Zeitpunkt aufzuhören, denn „nach 63 Jahren schließt man fast sein Leben hier drinnen ab.“ Mit dem Ende der Handbuchbinderei in der Amalienstraße geht eine Ära zu Ende, die der Hinterhofwerkstatt und die der Handbuchbindekunst.

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