Grafings Hochwassergefahr ist hausgemacht
Die Maßnahmen an der Urtel vor 100 Jahren haben noch immer Auswirkungen auf die Stadt Grafing. Denn mit der Begradigung des Flussbetts stieg auch die Hochwassergefahr.
Grafing/Bruck – Wenn es zu viel wird, ist es schlecht. Wenn es zu wenig wird, auch: Am besten wäre, wenn es immer in ausreichender Menge zur Verfügung stünde und dabei keine Gefahr von ihm ausginge. So einfach ist es aber nicht mit unserem Wasser. Im Grafinger Stadtrat jedenfalls gibt es kein Thema mit einer noch längeren Lebensdauer. Es geht immer wieder um den Hochwasserschutz.
Wegen Energieversorgung: Grafinger an Hochwassergefahr der Urtel selber schuld
Eine farbige Marke am Rathaus macht deutlich, was den Geschäften bei einem Jahrhunderthochwasser heute blühen würde. In manchen ihrer Räume würde das Wasser höher stehen, als die Gummistiefel reichen. Dabei sind die Grafinger Vorväter selbst schuld an dieser Situation. Das jedenfalls legen Recherchen des Taglachinger Heimatforschers Hans Huber nahe. Er hat interessante Schriftstücke ausgegraben, die Vorgänge von vor 100 Jahren dokumentieren. Damals ging es um die Energieversorgung für die Stadt. Eine ähnliche Situation, wie wir sie heute erleben? Aber der Reihe nach.

Huber hat in Unterlagen des Landratsamtes einen Schriftsatz entdeckt, in dem die damals von Grafing geforderte Regulierung der Urtel detailgenau beschrieben ist. Es geht dabei um einen Gewässerabschnitt auf Brucker Flur, weshalb die Gemeinde Bruck zustimmen musste und das auch tat. „Die in diesem Akt enthaltenen Pläne zeigen sowohl den ursprünglichen Verlauf des Urtelbaches als auch die vorgesehene Veränderung des Bachbettes und des gesamten Verlaufes. Im Plan sind parallel beide Verläufe eingezeichnet, so dass die Veränderungen besonders deutlich zu erkennen sind“, berichtet Huber. Die Regulierung sei nur für den Oberlauf des Baches, das etwa 2500 Meter lange Teilstück zwischen der Quelle und dem Eisenbahndurchlass der Strecke München-Rosenheim, vorgesehen gewesen. Die Gesamtlänge vom Ursprung bis nach Grafing beträgt etwa 4000 Meter.
Wirtschaftsfaktor Wasser: Begradigung der Urtel durch Grafinger Wasser-Kraftwerk-Besitzer gefordert
Antragsteller für die Regulierungsmaßnahme der Urtel waren die Grafinger Wasser-Kraftwerk-Besitzer, die das Münchner Kulturbauamt aufforderten, die dazu nötigen Vorarbeiten durchzuführen. Im Ergebnis kam ein nahezu schnurgerader Gewässerverlauf dabei heraus. Alle Mäander, die ein Hochwasser bremsen könnten, wurden entfernt. Und das war so gewollt, schließlich sollte mehr Wasser auf die Mühlen laufen, die in Grafing ein erheblicher Wirtschaftsfaktor waren. Es gab in den Jahren 1921 bis 1923 eine Reihe von Betrieben, die auf das Wasseraufkommen angewiesen waren, berichtet Huber.
An der Urtel in der Gemeinde Grafing waren das Joseph Danner (Hammerwerk), Bartholomäus Prabst (Hammerschmiede), Max Altinger (Elektrizitätswerk), Paul Oswald (Griesmühle), Egid Daxenberger (Färberei), Georg Enthammer (Gerberei) und Ludwig Weilnböck (Gerberei). An der Attel in der Gemeinde Öxing waren es: Franz Oswald (Elektrizität), Joseph Wurm (Kothmühle), Sebastian Scheller (Großottmühle), Max Altinger (Elektrizität), Joseph Rothmoser (Elektrizität), Georg Köll (Mühle und Sägewerk) sowie die Gemeinde Ebersberg mit einem Pumpwerk in Aiterndorf.
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Urtel hat in den letzten 50 Jahren die Hälfte ihres Wasserdurchflusses verloren
Für den Abschnitt ab dem Bahndurchbruch bis zum Ortseingang von Grafing hat Huber zwar keine weiteren Unterlagen gefunden. Es ist aber kaum anzunehmen, dass die Grafinger Stadtväter die Brucker zu einer solchen Maßnahme hätten animieren können, wenn sie auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet nicht mit gutem Beispiel – also selbst mit Begradigungsmaßnahmen – vorangegangen wären oder sie zumindest nicht zeitgleich betrieben hätten. Als Beleg dafür mag gelten, dass auch unterhalb von Grafing auf Höhe von Straußdorf die Attel komplett begradigt wurde. Jedenfalls verläuft die Urtel vom Bahndamm bis zur Walche auch heute noch schnurgerade in ihrem Bett. Dass die Kraftwerksbetreiber damals in Sorge waren, für ihre Werke könnte bald nicht mehr genügend Wasser fließen, ist aus der Historie verständlich.
Die Urtel hatte im Verlauf von 50 Jahren nämlich die Hälfte ihres Wasserdurchflusses verloren, entnimmt Huber den ihm vorliegenden Unterlagen. Die Betreiber befürchteten Betriebseinschränkungen oder gar ein vollkommenes Erliegen. „Die Bedenken gingen sogar soweit, dass diese Entwicklung zu einer ernsten Katastrophe für den Markt Grafing führen könnte“, wurde laut Huber seinerzeit gewarnt. Eine Behebung eben dieser Gefahr sei aus damaliger Sicht nur möglich gewesen durch eine Tieferlegung der Bachsohle und durch eine Verbesserung der Linienführung: „Gemeint ist Begradigung des ganzen Baches.“
Landgewinnung und steigende Energiemenge: „Die Ratsherren der Marktgemeinde waren zufrieden“
Durch diese Maßnahmen wurde eine Absenkung des Grundwasserspiegels im Umfeld des Urteltales erreicht, was auch zu einer wesentlichen Verbesserung der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung und somit zu einer Erhöhung der Erträge führte. Vor allem jedoch seien durch diese Veränderung des Bachbettes die Wassermenge und auch die Fließgeschwindigkeit wesentlich erhöht worden. Für Großbrandereignisse stand mehr Löschwasser zur Verfügung, was den Kraftwerksbetreibern als zusätzliches Argument für ihr Begehren diente und auch den Tatsachen entsprach.
Wie historische Bilder aus dem Jahr 1940 aber bereits zeigen, kam nach der Gewässerumbaumaßnahme schnell mehr an, als den Grafingern lieb war. Damals stand der Marktplatz knietief unter Wasser. Das ganze Bachbett war grundlegend verändert worden, vom ehemaligen Bachlauf blieb wenig oder nichts mehr bestehen. „Alle Krümmungen, auch Mäander genannt, wurden durch eine durchgehende Begradigung beseitigt“, so Huber. Die damit verbundenen Ziele wurden erreicht. Die Landgewinnung ermöglichte eine Steigerung der Produktion. Andererseits diente die Maßnahme einer Erhöhung der Energiemenge für die Mühlen und die Elektrizitätswerke. Die Bauern und die Kraftwerkebesitzer waren zufrieden. „Die Ratsherren der Marktgemeinde Grafing waren ebenfalls sehr zufrieden, hatten sie doch ihre beiden Ziele, den Schutz des Trinkwassers und auch den Feuerschutz durch eine Vermehrung des Löschwassers vollständig erreicht“, so der Heimatforscher.
Heute sind Stadträte jedoch in Sorge - Hochwassergefahr nicht gebannt
Die heutigen Stadträte freilich sind in Sorge, wie sie jetzt der damals selbst mit verursachten Hochwassergefahr begegnen können. Jüngste Maßnahme ist ein Retentionsraum unterhalb des Roten Weihers an der Grenze zur Ebersberger Flur, der in der jüngsten Bauausschusssitzung vorgestellt wurde und mit einem überschaubaren finanziellen Aufwand verwirklicht werden kann. Auch der Wieshamer Bach hat nämlich Schadenspotenzial. Das größte Risiko aber bleibt die Urtel. Mit dem Bau einer Flutmulde am westlichen Ortseingang von Grafing, also da, wo die Vorväter früher eingegriffen haben, kommt die Stadt seit Jahrzehnten nicht voran. Die Grundstücksverhandlungen sind festgefahren, informierte das Bauamt die Stadträte bereits wiederholt.
Hubers Recherchen über die Geschehnisse von vor 100 Jahren haben auch insofern einen aktuellen Bezug, als auch unsere Gesellschaft gerade im Begriff ist, für die notwendige Energiegewinnung in die Natur einzugreifen. Und das Beispiel der Urtel zeigt, dass ein massiver Eingriff manchmal mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden ist, deren Egalisierung später mit hohen Kosten für die Allgemeinheit verbunden sein kann.
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