4 Jahre danach noch Schlamm im Keller: „Einige haben bis heute keine Waschmaschine“
Der Ahr-Pfarrer, der die Seelen nach der Flut heilt
Er war überall, wo Hilfe gebraucht wurde: Pfarrer Jörg Meyrer aus Bad Neuenahr-Ahrweiler wurde nach der Flut zur Hoffnungsgestalt im Ahrtal. Er organisierte Versorgungspunkte, entsorgte Müll, hielt Beerdigungen ab – dort, wo keine Kirchen und Friedhöfe mehr standen. Und er prägte einen Satz, der bis heute nachhallt: „Wir wollen aufbauen, nicht wiederaufbauen.“
Was ist vier Jahre nach der Flut aus diesen Visionen geworden? Hält die Solidarität noch? Wird aufgebaut und nicht nur wiederaufgebaut? Jörg Meyrer erzählt, wie er die Situation heute sieht, und warum er immer weitermacht.
"Manche Keller sehen noch so aus wie nach der Flut"
"Ich kämpfe für die Menschen. Damit sie hier gut leben können. Ein Beispiel: Wie können wir die Kirchengemeinde aufbauen? Wie können wir unsere Räume so herstellen, dass sie den Menschen heute dienen? Nicht nur als Kirche und Pfarrheim, sondern auch als Kulturraum, als Treffpunkt.
Welche Kooperationen gehen wir ein? Wir stellen den Menschen - zusammen mit Maltesern und Caritas - immer noch Waschmaschinen in der „Waschbar“ zur Verfügung. Auch vier Jahre nach der Flut haben einige noch keine Waschmaschine und keinen Trockner. Wie das sein kann? Viele Wohnblocks mit Eigentumswohnungen sind noch immer nicht vollständig renoviert. Viele Keller sehen noch immer so aus wie direkt nach der Flut, sie sind kaputt und teilweise sogar noch verschlammt. Also gibt es keinen Platz für die Waschmaschinen.
Die Waschsalons sind gleichzeitig Treffpunkte für Sozialarbeit und Streetwork. Die Leute spielen zusammen, sie bekommen eine Tasse Kaffee, es finden Gespräche statt. Es gibt Unterstützung, etwa bei den Anträgen. Ich habe schon vor zweieinhalb Jahren gesagt, das kann nicht sein, dass es Menschen gibt, die immer noch die öffentlichen Waschmaschinenräume brauchen. Aber ich habe gelernt: Doch, das kann sein.
"Wir wollen den Menschen helfen, in ihre Kraft zu kommen"
Wir wollen den Menschen auch innerlich helfen. Es gibt das Traumahilfezentrum, das hervorragende Arbeit leistet, es sind auch Therapieplätze genehmigt. Ich glaube aber, dass wir etwas im Vorfeld einer Therapie tun können. In meiner eigenen psychosomatischen Reha gab es Vorträge, die „Psycho-Edukation“ hießen. Dort wurde erklärt, was in der Seele und bei traumatischen Erlebnissen passiert. Wir arbeiten zurzeit an einem onlinegestützten Kurs, der solche Ausnahmesituation thematisiert.
Ein Beispiel: Wenn es regnet, triggert mich das. Oder ich kann nicht gut schlafen. Oder es gibt Schuldgefühle im Zusammenhang mit den Flutereignissen. Wir wollen mit Filmen auch kleine Übungen anbieten, in denen wir niederschwellig dabei helfen wollen, dass die Menschen verstehen, was in ihnen abgeht, dass sie sich spüren, dass sie wissen, wie sie sich beruhigen können, wenn sie Angst haben.
Wir nennen dieses Projekt „Zurück in Deine Kraft – ein E-Learning-kurs für mehr Resilienz und Kraft nach traumatischen Erfahrungen“. Dabei arbeiten wir als Pfarrgemeinde mit der Ehrenwallschen Klinik, mit Journalisten und Sozialarbeitsstudenten zusammen. Auch eine Lehrerfortbildung haben wir dazu gemacht, damit die Lehrerinnen und Lehrer konkret wissen, wie sie mit ihren Schülerinnen und Schülern arbeiten können. Ich hoffe, dass dies vielen Menschen hilft, die das Erlebte noch nicht aufgearbeitet haben, weil sie in den vergangenen vier Jahren vor allem funktionieren mussten.
"Wir sind noch lange nicht durch"
Die äußere Situation an der Ahr ist heterogen: Die privaten Haushalte haben vieles geleistet, an den öffentlichen Projekten wird viel gearbeitet, wie etwa an der Bahn. Der Infrastruktur-Aufbau braucht aber eine sehr lange Zeit. Wir haben jetzt in Bad Neuenahr-Ahrweiler nach vier Jahren mit dem Bau von drei Brücken begonnen. Drei von 17.
Es wird gearbeitet, aber es braucht noch soviel Geduld. Jede Baustelle hat die Qualität einer Retraumatisierung. Denn sie macht deutlich: Wir sind noch lange nicht durch. Die Bahn arbeitet traumhaft schnell, aber es ist ständig Dreck, Schmutz, Lärm, das belastet die Menschen. Aber wenn nicht gebaut würde, wäre es auch nicht gut. Oder die Schülerinnen und Schüler: Viele werden ihre Kindergarten- und Schulzeit nie in einer richtigen Schule verbringen, sie werden immer in Containern unterrichtet werden. Bis auf den Evangelischen Kindergarten in Bad Neuenahr-Ahrweiler sind nur wenige Kindergärten und Schulen wieder aufgebaut. Das ist ja Wahnsinn.
Ermutigende Feiern, aber auch neue Mauern in den Köpfen
Was macht Hoffnung? Das Durchhaltevermögen der Menschen und die Zusammenarbeit. Eine von vier Kirchen in unserer Gemeinde ist fertig: St. Joseph in Walporzheim. Dieses Eröffnungsfest an Ostermontag in Walporzheim war so befreiend und so ermutigend. Wir haben die Kirche nicht so aufgebaut, wie sie vor der Flut war, sondern sie an die neue Situation angepasst, so dass die Kirche auch für andere Zwecke gebraucht werden kann wie etwa für kulturelle Veranstaltungen und Lesungen. Dieser Zusammenhalt, den man an dem Tag gespürt hat, war so entlastend. Es war ein glücklicher Tag und deswegen auch heilsam.
Die Mauern in den Köpfen sind leider trotzdem wieder da. Das, was wir am Anfang an SolidAHRrität erlebt haben, untereinander und von außerhalb, das war gigantisch. Je mehr an Normalität wieder eingezogen ist ins Tal, je mehr hat sich jedoch jeder wieder mehr um sich gekümmert. So viele Dinge sind zu regeln: Versicherung, Unterlagen, Handwerker. Warum ist der Nachbar schneller als ich, warum hat der schon eine Küche und ich nicht? Am Anfang nach der Flut war es wie nach dem Beginn der Schöpfung, alle standen zusammen und füreinander ein, aber der Alltag ist nicht mehr von dieser Solidarität geprägt.
Am Gedenktag 14. Juli bündelt sich alles. Alles ist wieder da, es wird wieder eine hohe mediale Präsenz geben. Da geht die Aufmerksamkeit nochmal hoch, daher müssen wir uns wieder mit dem Thema auseinandersetzen, was die einen wollen und die anderen nicht. Die einen sagen, es ist schon viel geschafft und freuen sich über das Erreichte, die anderen wollen nicht daran erinnert werden. Es wird wieder eine gemeinsame Gedenkfeier von der Stadt mit den beiden christlichen Kirchen geben. Er wird unter dem Motto „Vertrauen“ stehen. Die Kernfrage lautet: Wie kann man in dieser Welt noch vertrauen? Was muss geheilt werden?
Bei der Gedenkfeier Im vorigen Jahr sind viel mehr Leute gekommen als wir gedacht hatten. Es gibt offenbar ein großes Bedürfnis nach einem gemeinsamen Gedenken, nach Beten und nach solidarischem Innehalten. Das tut gut, unter diesem Stichwort zusammen zu sein.
"Ich habe gelernt, wie ich meine Zähne ohne Wasser putze"
Was ich aus der Flut gelernt habe? Viel. Jederzeit Gummistiefel im Auto zu haben, Kochen mit Gas, wie werde ich satt, wenn ich nicht kochen kann? Wie putze ich meine Zähne ohne Wasser? Wie organisiere ich Feste im Freien, wie verteile ich 500 Bratwürste? Wie lebe ich in Provisorien. Wir haben vier von unseren sieben Kirchen verloren. Hochzeiten, Beerdigungen, Weihnachten, Taufen, alles läuft in Provisorien. Zum Beispiel der Calvarienberg in Ahrweiler: Weihnachten haben wir dort draußen gefeiert. Wir haben Erstkommunionen draußen gefeiert, in Gärten oder auf Höfen. Fronleichnam feiern wir dieses Jahr auf dem Marktplatz. Das ist etwas unglaublich Enges, Nahes, Verbundenes. Nach diesen Provisorien werden wir uns nochmal zurücksehnen, aber es ist auch auf die Dauer unerträglich, alles hin und herschleppen zu müssen. Die Stühle, die Kerzen, die Gebetbücher.
Und ich habe gelernt, ein Buch zu schreiben. Das hätte ich nie für möglich gehalten. „Zusammenhalten“ heißt es.
Ich hätte es gerne gesehen, wenn wir eine Modellregion geworden wären, in der deutlich mehr Erneuerbare Energien genutzt werden. Man musste im ersten Winter jedoch handeln. Die Leute brauchten Heizungen. Wir haben es in Bad Neuenahr und Ahrweiler geschafft, die Kirche, das Pfarrheim und an ein Mietgebäude an die Fernwärme anzuschließen. Wir hätten viel mehr Zeit gebraucht, um wirklich eine Modellregion aus dem Ahrtal zu machen. Es hätte viel mehr Unterstützung gebraucht. Die Leute hatten anderes zu tun. Wenn ich nicht weiß, wie ich mein Haus warm bekommen soll, nehme ich die Heizung, die mir angeboten wird.
Was wäre die Alternative zu diesem täglichen Kampf? Nicht zu kämpfen ist keine Alternative."
Das Ahrtal – vier Jahre danach
Eine unvorstellbare Katastrophe brach in der Nacht vom 14. und 15. Juli 2021 über das Ahrtal in Rheinland-Pfalz hinein: Insgesamt 135 Menschen starben in einem historischen Hochwasser, die Schäden gehen in die Milliardenhöhe. Für die Bewohner der Region ist die Katastrophe auch vier Jahre später immer noch Realität. Zum vierten Jahrestag der Flut blickt FOCUS online Earth zurück: Wie geht es den Menschen heute? Welche Probleme gibt es immer noch zu lösen? Und was macht ihnen Hoffnung? Lesen Sie hier alle bereits erschienenen Artikel des Ahrtal-Specials zum vierten Jahrestag:
Ahr-Bürgermeister klagt über fehlenden Flutschutz
Guido Orthen (58, CDU) ist seit 15 Jahren Bürgermeister von Bad Neuenahr-Ahrweiler – jener Stadt, die von der Flut im Juli 2021 am härtesten getroffen wurde. 75 der 135 Todesopfer stammten aus der Kreisstadt. Vier Kirchen gingen verloren, neun Schulen wurden zerstört.
Der Unterricht findet bis heute in Provisorien statt, der Wiederaufbau kommt nur langsam voran. Der Schaden allein an öffentlichen Gebäuden beträgt 1,4 Milliarden Euro, doch bislang wurde weniger als ein Drittel davon ausgezahlt.
Noch immer leben Menschen in Tiny Houses. Schon kurz nach der Flut forderte Orthen eine Sonderzone mit weniger Bürokratie, doch dazu kam es nicht. Zum vierten Jahrestag zieht er für FOCUS online eine ambivalente Bilanz und sagt, wie es jetzt weitergehen muss.
Wie ein Ahrtal-Bürger den Wiederaufbau vorantreibt
Gerd Wolter kennt sich mit Krisen aus – als ehemaliger Leiter der Evonik-Werke in Wesseling und Lülsdorf und als Betroffener der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021. Gemeinsam mit seiner Frau Marietta Marquet erlebte er, wie ihr Heimatort Dernau in den Fluten versank. 70 Häuser wurden zerstört, viele sind bis heute nicht wieder aufgebaut. Wolter organisierte danach mit dem Bürgermeister den Krisenstab, gründete die Wiederaufbaugesellschaft „Zukunft Mittelahr“ mit und treibt als ehrenamtlicher Geschäftsführer der Energie Dernau GmbH den Ausbau des Nahwärmenetzes voran. Für FOCUS online Earth blickt er auf die aktuelle Lage im Ahrtal – und erklärt, warum er weitermacht.
„Die Flut nahm mir die sorglose Zeit mit meinen Kindern“, trauert Ahr-Bürgerin
In der Flutnacht des 14. Juli 2021 trägt Melanie Kalt ihre kleinen Söhne auf den Armen durch das hochsteigende Wasser in Mayschoß. Während ihr Auto im Wasser treibt, rettet sie sich und ihre Nachbarin in ein Haus – „die längsten 20 Meter meines Lebens“, sagt die Polizistin. Ihr Mann Dominik kämpft zeitgleich ums Überleben seiner Eltern in einem einsturzgefährdeten Haus, das später abgerissen wird. Vier Jahre später lebt die Familie mit den Folgen: Behördenstreit, finanzielle Sorgen und den Traum vom Neubeginn an alter Stelle. Trotz allem hält Melanie durch – mit Musik als Therapie und dem festen Willen, das Ahrtal nicht zu vergessen.
Der Flut-Retter, der sich heute für die Ahr-Senioren einsetzt
Oliver Piel erinnert sich genau an die Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021. Bis 22 Uhr saßen die Gäste noch entspannt im Bistro der Jugendherberge Ahrweiler – dann stieg das Wasser plötzlich und unaufhaltsam. Mit rund 100 Gästen, darunter Schulklassen und kleine Kinder, brachte Piel alle in den ersten Stock, während das Haus zur Insel im Flutwasser wurde. Eine Gruppe Jugendlicher und ihre Betreuer waren die einzige, die das Gebäude verließ – ihr Schicksal blieb lange ungewiss.
Trotz des Schocks stand Piel schnell auf: Bereits am 1. November 2021 öffnete die Jugendherberge als erstes Gästehaus im Ahrtal wieder. Heute, vier Jahre später, ist Piel stellvertretender Direktor einer Seniorenresidenz in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Zum Jahrestag spricht er über den Wiederaufbau und seine Kritik am aktuellen Stand.
Ein Ahrtal-Winzer, der mit seiner neuen Vinothek Hoffnung schafft
Die Flut schlich sich in Walporzheim heimlich an. Peter Kriechel, sein Bruder Michael und Nachbarn hatten schon Klappstühle an die Ahr gestellt, um zu feiern. Um 21:30 Uhr schien der Pegel in Altenahr zu sinken – doch das Schlimmste kam erst.
Das Wasser suchte sich einen neuen Weg durch den Weinort. „Jemand rief plötzlich: ‚Das Wasser kommt!‘“, erinnert sich Michael Kriechel. Die Frauen flohen mit den Kindern in die Weinberge, die Brüder versuchten auf ihrem Weingut zu retten, was ging. „Wir stellten Stühle auf Tische – im Nachhinein eine alberne Idee“, sagt Peter Kriechel.
Tausende Liter Wein gingen verloren, der Ausschank in Marienthal wurde überschwemmt. Einige Fässer blieben verschont, daraus entstand der „Flutwein“ – verkauft zur Unterstützung der Winzer.
Noch dieses Jahr eröffnen die Kriechels eine neue Vinothek, die an die Flut erinnert. „Ich will nicht wiederaufbauen, sondern neuaufbauen“, sagt Peter Kriechel. Das neue Haus soll zeigen, dass man aus der Katastrophe gelernt hat.
Wie ein Wärme-Pionier sein Ahr-Dorf in eine grüne Zukunft führt
Rolf Schmitt (64) ist ein Pionier der Nahwärme im Ahrtal. Die Flutnacht 2021 verbrachte er mit seiner Frau Ingrid auf dem Speicher ihres Miethauses in Marienthal, während das Wasser knapp unter dem Dach stand. Am Morgen danach war von dem 100-Einwohner-Ort kaum noch etwas übrig. Die Straßen nach Bad Neuenahr und Dernau waren weggebrochen, und fünf Dorfbewohner hatten ihr Leben verloren.
Rolf Schmitt, damals Bundespolizist, schlug vor, die Garage als Treffpunkt und Anlaufstelle für die Bewohner einzurichten. Bei einer ersten Besprechung sagte er: „Wir können uns jetzt in die Ecke setzen und jammern – oder die Katastrophe als Chance nutzen.“ Die Folge: Marienthal wurde die erste Gemeinde im Ahrtal mit einem Nahwärmenetz. Solarthermie und Holzpellet-Kessel versorgen 30 Haushalte – Öl und Gas sind Geschichte. Auf dem Dorfplatz entsteht eine neue Mitte, mit der sich Marienthal für den rheinland-pfälzischen Innenstädtepreis bewirbt. Rolf Schmitt erzählt FOCUS online Earth, was ihn heute noch antreibt.