„Staat versagt, wir nicht“: Wie ein Flutopfer das Ahrtal selbst wieder aufbaut
Wie ein Ahrtal-Bürger den Wiederaufbau vorantreibt
Gerd Wolter kennt sich mit Krisen aus – als ehemaliger Leiter der Evonik-Werke in Wesseling und Lülsdorf und als Betroffener der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021. Gemeinsam mit seiner Frau Marietta Marquet erlebte er, wie ihr Heimatort Dernau in den Fluten versank. 70 Häuser wurden zerstört, viele sind bis heute nicht wieder aufgebaut. Wolter organisierte danach mit dem Bürgermeister den Krisenstab, gründete die Wiederaufbaugesellschaft „Zukunft Mittelahr“ mit und treibt als ehrenamtlicher Geschäftsführer der Energie Dernau GmbH den Ausbau des Nahwärmenetzes voran. Für FOCUS online Earth blickt er auf die aktuelle Lage im Ahrtal – und erklärt, warum er weitermacht.
Kein Geld, kein Aufgeben
"Ich kämpfe für einen nachhaltigen und zügigen Wiederaufbau des Ahrtals. Dies sowohl auf der kommunalen wie auch auf der privaten Ebene. Auf der kommunalen Ebene können wir das Projekt Nahwärme für Dernau jetzt endlich umsetzen. Der Weg dorthin war ein Kampf um Fördergelder und die Finanzierung. Bis wir die Zusage der 60-prozentigen Förderung von Bund und Land hatten, dauerte es zwei Jahre. Die lange Zeitdauer hat dem Projekt geschadet, weil manche Interessenten an das Projekt nicht mehr glaubten und absprangen.
Glücklicherweise haben wir es dennoch hinbekommen und ausreichend Teilnehmer gewonnen, die sich an das Netz anschließen lassen, in den letzten Tagen haben wir noch neue hinzugewonnen. Mittlerweile haben wir 220 Bürgerinnen und Bürger, die mitmachen. Diese Zahl brauchten wir, damit sich der Nahwärme-Anschluss für die Dernauer rechnet. Das ist ein sehr großer Erfolg für uns, weil wir damit ein Projekt der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes umsetzen können und wir den Menschen in Dernau nachhaltige und preisgünstige Wärme zur Verfügung stellen können.
"Heimat ist meine Motivation"
Meine Motivation ist ganz einfach: Das Ahrtal ist unsere Heimat. Für seine Heimat etwas zu tun, ist immer ein gutes Argument. Ein weiterer Grund ist auch, dass ich von der Nahwärme fest überzeugt bin. Woher ich die Energie für die Arbeit hernehme, weiß ich auch nicht. Ein wesentlicher Faktor ist meine Frau, die mich unterstützt und manchmal bremst. Für beides bin ich sehr dankbar.
Den Wiederaufbau im Ahrtal sehe ich grundsätzlich auf einem guten Weg. Erfreulich ist, dass der Tourismus wieder wahrnehmbar angesprungen ist. Das haben wir zum Beispiel beim Weinfrühling Mittelahr in Dernau, Rech und Mayschoß gemerkt. Diese Veranstaltung war über Wochen sehr gut besucht. Überraschend war, dass viele junge Menschen ins Ahrtal kamen. Das hatte ich so nicht erwartetet.
Unbürokratische Hilfe hat es nie gegeben
Was ganz und gar nicht gut läuft und mich wirklich ärgert, ist die Investitions-und Strukturbank (ISB), die die Gelder für den Wiederaufbau verwaltet. Ihre Prozesse und ihre Arbeit sind alles andere als bürgernah. Es ist inakzeptabel, wie die Menschen von dieser Institution behandelt werden. Viele Antragsteller warten seit über drei Jahren auf das Geld, das ihnen zusteht. Auch wir.
Die von der damaligen Ministerpräsidentin Malu Dreyer nach der Flut versprochene unbürokratische und schnelle Hilfe ist bei vielen Menschen bis heute nicht angekommen. Ich habe das Gefühl, dass mittlerweile viele Betroffene dazu bereit sind, sich offen aufzulehnen und auf die Straße zu gehen. Es ist schlicht eine Unverschämtheit, die Menschen so hängen zu lassen. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass Anträge in NRW viel flexibler und bürgernäher bearbeitet werden.
"Die Einstellung der Ermittlungen ist ein Justizskandal"
Was mich am allermeisten ärgert, ist das totale Versagen des ehemaligen Landrates Jürgen Pföhler und die Einstellung der Ermittlungen gegen ihn. Obwohl die Staatsanwaltschaft ihm in der Flutnacht schwerste Fehler und Versäumnisse bescheinigt hat, hat sie ihn nicht angeklagt. Dass er sich für die 135 Toten im Ahrtal nicht vor Gericht verantworten muss, ist ein echter Skandal.
Bei mir drängt sich immer mehr der Gedanke auf, dass hier eine Vertuschung läuft, an der viele beteiligt sind. Namhafte Juristen, die an Universtäten lehren, haben in Gutachten ihr Unverständnis darüber geäußert, dass es nicht zu einer Anklage gekommen ist. In meinen Augen ist dies ein waschechter Justizskandal in Rheinland-Pfalz. Ganz großen Respekt habe ich vor den Eheleuten Orth, die in der Flutnacht ihre Tochter Johanna verloren haben. Sie kämpfen weiter unermüdlich darum, daß es zu einer Anklage kommt.
"Der 14. Juli 2021 hat unser Leben verändert"
Meine Gedanken und Gefühle zum 14. Juli? Der 14. Juli 2021 hat definitiv unser Leben verändert. Er hat ganz neue Herausforderungen an uns gestellt, die sich letztendlich keiner wünscht, die uns aber dennoch in unserem Horizont bereichert haben.
Insbesondere die große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung aus Deutschland und auch aus Europa nach der Flut hat mir den Glauben an die Gesellschaft zurückgegeben. Am dritten Tag nach der Flut kam ein Helfer mit einem Kanalspül-LKW nach Dernau und fragte mich auf der Straße, wo er denn Kanalpläne herbekommen könnte. Er sei aus Leer in Ostfriesland und sofort losgefahren, als er von der Katastrophe gehört hatte. Er sagte, dass die Kanäle sofort freigespült werden müssen, bevor sie trocknen und hart wie Beton werden. Dieser Helfer ist uns bis zum heutigen Tage treu geblieben und hat uns später maßgeblich bei der Umsetzung des Nahwärmenetzes unterstützt.
Diese privaten Helfer haben uns vor dem Schlimmsten bewahrt. Denn in den ersten Wochen nach der Flut hat die staatliche Organisation komplett versagt. Ein Krisenmanagement des Landes Rheinland-Pfalz war nicht wahrnehmbar. Wir hatten keine Ansprechpartner und haben die Koordination der unterschiedlichen Institutionen wie Feuerwehr, THW, Polizei, Bundeswehr, Hilfsorganisationen selbst in die Hand genommen - und das hat gut funktioniert.
Wir werden oft gefragt, was wir aus der Flutkatastrophe gelernt haben. Für uns hat der kölsche Spruch „Et kütt wie et kütt“ eine neue Bedeutung bekommen. Wir haben aber vor allem gelernt, dass ohne ehrenamtliche Eigeninitiative in unserem Land nicht viel passiert."
Ahr-Bürgermeister klagt über fehlenden Flutschutz
Guido Orthen (58, CDU) ist seit 15 Jahren Bürgermeister von Bad Neuenahr-Ahrweiler – jener Stadt, die von der Flut im Juli 2021 am härtesten getroffen wurde. 75 der 135 Todesopfer stammten aus der Kreisstadt. Vier Kirchen gingen verloren, neun Schulen wurden zerstört.
Der Unterricht findet bis heute in Provisorien statt, der Wiederaufbau kommt nur langsam voran. Der Schaden allein an öffentlichen Gebäuden beträgt 1,4 Milliarden Euro, doch bislang wurde weniger als ein Drittel davon ausgezahlt.
Noch immer leben Menschen in Tiny Houses. Schon kurz nach der Flut forderte Orthen eine Sonderzone mit weniger Bürokratie, doch dazu kam es nicht. Zum vierten Jahrestag zieht er für FOCUS online eine ambivalente Bilanz und sagt, wie es jetzt weitergehen muss.
Der Ahr-Pfarrer, der die Seelen nach der Flut heilt
Er war überall, wo Hilfe gebraucht wurde: Pfarrer Jörg Meyrer aus Bad Neuenahr-Ahrweiler wurde nach der Flut zur Hoffnungsgestalt im Ahrtal. Er organisierte Versorgungspunkte, entsorgte Müll, hielt Beerdigungen ab – dort, wo keine Kirchen und Friedhöfe mehr standen. Und er prägte einen Satz, der bis heute nachhallt: „Wir wollen aufbauen, nicht wiederaufbauen.“
Was ist vier Jahre nach der Flut aus diesen Visionen geworden? Hält die Solidarität noch? Wird aufgebaut und nicht nur wiederaufgebaut? Jörg Meyrer erzählt, wie er die Situation heute sieht, und warum er immer weiter macht.
„Die Flut nahm mir die sorglose Zeit mit meinen Kindern“, trauert Ahr-Bürgerin
In der Flutnacht des 14. Juli 2021 trägt Melanie Kalt ihre kleinen Söhne auf den Armen durch das hochsteigende Wasser in Mayschoß. Während ihr Auto im Wasser treibt, rettet sie sich und ihre Nachbarin in ein Haus – „die längsten 20 Meter meines Lebens“, sagt die Polizistin. Ihr Mann Dominik kämpft zeitgleich ums Überleben seiner Eltern in einem einsturzgefährdeten Haus, das später abgerissen wird. Vier Jahre später lebt die Familie mit den Folgen: Behördenstreit, finanzielle Sorgen und den Traum vom Neubeginn an alter Stelle. Trotz allem hält Melanie durch – mit Musik als Therapie und dem festen Willen, das Ahrtal nicht zu vergessen.
Der Flut-Retter, der sich heute für die Ahr-Senioren einsetzt
Oliver Piel erinnert sich genau an die Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021. Bis 22 Uhr saßen die Gäste noch entspannt im Bistro der Jugendherberge Ahrweiler – dann stieg das Wasser plötzlich und unaufhaltsam. Mit rund 100 Gästen, darunter Schulklassen und kleine Kinder, brachte Piel alle in den ersten Stock, während das Haus zur Insel im Flutwasser wurde. Eine Gruppe Jugendlicher und ihre Betreuer waren die einzige, die das Gebäude verließ – ihr Schicksal blieb lange ungewiss.
Trotz des Schocks stand Piel schnell auf: Bereits am 1. November 2021 öffnete die Jugendherberge als erstes Gästehaus im Ahrtal wieder. Heute, vier Jahre später, ist Piel stellvertretender Direktor einer Seniorenresidenz in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Zum Jahrestag spricht er über den Wiederaufbau und seine Kritik am aktuellen Stand.
Ein Ahrtal-Winzer, der mit seiner neuen Vinothek Hoffnung schafft
Die Flut schlich sich in Walporzheim heimlich an. Peter Kriechel, sein Bruder Michael und Nachbarn hatten schon Klappstühle an die Ahr gestellt, um zu feiern. Um 21:30 Uhr schien der Pegel in Altenahr zu sinken – doch das Schlimmste kam erst.
Das Wasser suchte sich einen neuen Weg durch den Weinort. „Jemand rief plötzlich: ‚Das Wasser kommt!‘“, erinnert sich Michael Kriechel. Die Frauen flohen mit den Kindern in die Weinberge, die Brüder versuchten auf ihrem Weingut zu retten, was ging. „Wir stellten Stühle auf Tische – im Nachhinein eine alberne Idee“, sagt Peter Kriechel.
Tausende Liter Wein gingen verloren, der Ausschank in Marienthal wurde überschwemmt. Einige Fässer blieben verschont, daraus entstand der „Flutwein“ – verkauft zur Unterstützung der Winzer.
Noch dieses Jahr eröffnen die Kriechels eine neue Vinothek, die an die Flut erinnert. „Ich will nicht wiederaufbauen, sondern neuaufbauen“, sagt Peter Kriechel. Das neue Haus soll zeigen, dass man aus der Katastrophe gelernt hat.
Wie ein Wärme-Pionier sein Ahr-Dorf in eine grüne Zukunft führt
Rolf Schmitt (64) ist ein Pionier der Nahwärme im Ahrtal. Die Flutnacht 2021 verbrachte er mit seiner Frau Ingrid auf dem Speicher ihres Miethauses in Marienthal, während das Wasser knapp unter dem Dach stand. Am Morgen danach war von dem 100-Einwohner-Ort kaum noch etwas übrig. Die Straßen nach Bad Neuenahr und Dernau waren weggebrochen, und fünf Dorfbewohner hatten ihr Leben verloren.
Rolf Schmitt, damals Bundespolizist, schlug vor, die Garage als Treffpunkt und Anlaufstelle für die Bewohner einzurichten. Bei einer ersten Besprechung sagte er: „Wir können uns jetzt in die Ecke setzen und jammern – oder die Katastrophe als Chance nutzen.“ Die Folge: Marienthal wurde die erste Gemeinde im Ahrtal mit einem Nahwärmenetz. Solarthermie und Holzpellet-Kessel versorgen 30 Haushalte – Öl und Gas sind Geschichte. Auf dem Dorfplatz entsteht eine neue Mitte, mit der sich Marienthal für den rheinland-pfälzischen Innenstädtepreis bewirbt. Rolf Schmitt erzählt FOCUS online Earth, was ihn heute noch antreibt.