Im Gespräch mit Flüchtlingen zeigt Merkel Reue – aber nicht für Fehler von 2015

Wie Los Angeles hatte sich das iranische Paar Sadegh und Mahsa – ebenso wie Akram aus Syrien und Narges aus Afghanistan – dieses Deutschland vorgestellt: modern und glänzend, mit vielen Hochhäusern und vielen Fußballstadien. Akrams Oma hatte für Deutschland als Ausreiseziel votiert, weil sie Torwart Oliver Kahn so verehrte. Deutschland, dachte der Kurde Heva vor seiner Flucht, ist das Land, "wo Gleichberechtigung, Leistung und Menschenrechte zählen".

Als der Bus mit Sadegh und Mahsa an Bord im Februar 2016 das sächsische Clausnitz erreichte, dachte das junge Paar zunächst, die Menschen an der Haltestelle seien gekommen, um sie zu begrüßen. In Wahrheit brüllte die Meute ihnen "Ausländer raus" entgegen. Man skandierte: "Wir sind das Volk!" Schließlich knallen die ersten Schneebälle gegen die Scheiben des Busses. Und die Insassen spürten: Das kann keine Willkommenskultur sein.

"Wir schaffen das": Eine Metapher für das Flüchtlingsdebakel 2015

Zehn Jahre "Wir schaffen das": Am 31. August 2015 hatte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Bundespressekonferenz jenen Ausspruch getätigt, der inzwischen zur Metapher für das Debakel der Flüchtlingskrise 2015/2016 geworden ist. 

Oft wurde das Zitat als ein Versprechen Deutschlands gegenüber sich selbst und den Ankommenden missdeutet. Dabei war es eigentlich als Ansporn gedacht. Im Wortlaut sagte die CDU-Politikerin nämlich: "Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!"

Ex-Kanzlerin Angela Merkel im Gespräch mit Geflüchteten
Ex-Kanzlerin Angela Merkel im Gespräch mit Geflüchteten WDR

Ob Versprechen oder kollektive Motivation: In diesen Tagen muss sich auch Merkel an diesen Worten messen lassen. Sie, die sich seit ihrem Abschied aus der Politik nur noch sporadisch blicken lässt, hat dafür ausgerechnet dem Spartenformat WDRforyou ein Gespräch zugesagt. Und eingewilligt, sich mit Geflüchteten zusammenzusetzen zu einem Austausch über das, was auch im Ausland als ein Versprechen interpretiert wurde: Wir schaffen das – für und mit euch!

Merkel will mit Flüchtlingen sprechen statt über sie

Mit "Die Anfrage fand ich interessant", begründet Merkel, warum sie angesichts zahlloser Medienanfragen zum Jahrestag WDRforyou – eigentlich ein Informationsangebot des WDR für Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund – zusagte. "Wir sprechen zwar sehr oft über Menschen, die zu uns kamen, aber vielleicht nicht oft genug mit Menschen, die zu uns kamen", begründet Angela Merkel ihre Entscheidung.

Vielleicht gab es aber auch die Erwartung, dass weder von den Moderatoren Borhan Akid und Bamdad Esmaili noch von den Geflüchteten selbst viel Kritik kommen dürfte. Zudem ist hinreichend klar, was eine Mehrheit über "Wir schaffen das" denkt ­– vielleicht zeigen die Eingereisten hier mehr Verständnis als das Volk? Falls es diese Hoffnungen gab, erfüllen sie sich größtenteils: Das Treffen Ende Juni 2025 in einem syrischen Restaurant in Berlin wird für Merkel vor allem zu einem Wohlfühlmoment.

WDR zeigt vor allem die, die es geschafft haben

Das liegt auch daran, dass WDRforyou vor allem jene an den Tisch geholt hat, die es tatsächlich in Deutschland geschafft haben. Die Iraner Sadegh und Mahsa sind Eltern von zwei Kindern und planen, in Buxtehude einen Limousinen-Dienst aufzuziehen. Die Afghanin Narges Tavakkoli fühlt sich nach vielen Jahren in Notunterkünften nun in Berlin zu Hause und studiert Medieninformatik. Akram al Homsy macht eine Ausbildung zum Physiotherapeuten und arbeitet parallel daran, Schauspieler zu werden. Sein größter Traum: eine Rolle im Münsteraner "Tatort".

Die Kritik, die die Migranten an Deutschland üben, ist sehr zaghaft. Akram etwa ging es seelisch sehr schlecht, als er nach Deutschland kam, doch psychologische Hilfe habe es "zu spät, also wirklich zu spät" gegeben. Er wurde schließlich in die Psychiatrie eingewiesen, gegen seinen Willen. Doch heute sagt er: "Ich brauchte das."

Merkels Wegducken wirkt angesichts von Gewalttaten deplatziert

Einen guten Umgang mit den teilweise schwer traumatisierten Menschen, die in den Flüchtlingsjahren nach Deutschland drängten: "Wir haben in vielen Hinsichten vieles geschafft, nur in dieser Hinsicht haben wir das bis heute nicht wirklich geschafft", urteilt Akram. 

Angela Merkel stimmt zu, das Problem sei in dem Fall allerdings das mangelnde medizinische Personal gewesen: "Das können wir auch nicht aus dem Boden stampfen", gibt sie zu verstehen. "Das ist schwierig." Angesichts der Gewalttaten in Deutschland, die unter anderem von Geflüchteten mit schweren psychischen Problemen begangen werden, wirkt dieses Wegducken besonders deplatziert.

Merkel ist nicht gekommen, um sich zu entschuldigen

Merkel ist ganz klar nicht zu dem Treffen gekommen, um sich zu entschuldigen. Und schon gar nicht für die Entscheidung von 2015, die deutschen Grenzen offenzulassen. Mit dem Blick auf damals würde sie "die Entscheidung in der Situation, wie sie damals war, wieder so treffen". Der Fehler sei eher 2013 gemacht worden: "Wir haben lange nicht genug hingeschaut: Wie sieht es in den Flüchtlingslagern im Libanon aus, bei den Binnenflüchtlingen, wir haben dem Welternährungsprogramm der UNO nicht genug Geld gegeben." 

Das habe die Hoffnungslosigkeit bei vielen Menschen in den Erstaufnahmeländern nur gesteigert, die sich dann aufmachten in Richtung Europa und Deutschland. "Und darauf", so Merkel "waren wir natürlich auch nicht vorbereitet". Ein verbales Schulterzucken, mehr nicht.

"Sie ist gerade angekommen, und jetzt ist sie weg"

Ob seitens der Deutschen oder der Menschen, die nach Deutschland kamen: Die Erwartungshaltung war 2015 auf beiden Seiten enorm groß. Doch Merkel schafft es, darauf mit kleinen Worten zu antworten. Es sei damals nun einmal nicht so ganz einfach gewesen, als Bundeskanzlerin müsse man "auch harte Entscheidungen treffen". Sie müsse sich schließlich auch "an Recht und Gesetz halten". Und überhaupt: "Ich kann ja nicht allen Menschen helfen."

Am Ende der Gesprächsrunde erhält Merkel ein paar Geschenke der Geflüchteten, die viel mit deren Heimat zu tun haben. Sie verteilt im Gegenzug Autogramme. "Das war so schnell", urteilt Akram al Homsy nach dem einstündigen Gespräch: "Sie ist gerade angekommen, und jetzt ist sie weg". 

Ein Gefühl, das viele Deutsche vielleicht nachempfinden können: Bevor wirklich zur Sprache kommen konnte, was in der Ära Merkel nicht rundgelaufen ist, war sie auch schon wieder weg. Und mit ihr hoffentlich die Vision, dass sich alles schon irgendwie regelt, wenn man es nur schaffen will.