FOCUS online: Frau Kistermann, wo erreichen wir Sie? Auf dem Dach oder in der Nähe eines solchen?
Hannah Kistermann: Das wäre schön. Leider nicht. Aktuell besuche ich die Meisterschule. Gerade stehe ich im Klassenzimmer, heute früh war ich in einer der Werkhallen.
Sie werden Meister, mit gerade mal 20 Jahren?
Kistermann: Das ist inzwischen durchaus üblich. Früher gab es die Regelung, dass man Erfahrungsjahre braucht - das variierte je nach Bundesland und Handwerkskammer. Inzwischen ist diese Regelung komplett abgeschafft. Damit kann man in unserem Beruf schnell aufsteigen. Wenn man mit 16 Jahren die Ausbildung anfängt, ist man mit 19 Geselle.
Wie viele Jahre besucht man die Meisterschule denn?
Kistermann: Jahre? Das sind ein paar Monate. In meinem Fall: Neun. Generell kommt es drauf an, ob man die Meisterschule in Vollzeit oder Teilzeit besucht. In Teilzeit wären es drei Jahre, mit Abendschule. Bei mir ist es so, dass ich durchgängig hier bin. Ich habe Mitte August angefangen und werde im kommenden Frühjahr fertig sein. Zum Glück.
Macht Ihnen die Meisterschule keinen Spaß?
Kistermann: Es ist schon spannend, was wir hier lernen. Aber das Dach fehlt mir. Da oben, zwischen Wind und Wetter, Holz und Ziegeln, habe ich mehr gelernt als in jedem Klassenzimmer, sage ich immer. Ich habe die Ausbildung im väterlichen Betrieb gemacht. An den Wochenenden pendele ich jetzt immer, oft bin ich dann samstags und manchmal auch sonntags mit meinem Vater auf Baustellen unterwegs. Ich liebe das. Wann immer es sich anbietet, gehe ich aufs Dach.
Was gefällt Ihnen daran so?
Kistermann: Da könnte ich gar nicht aufhören zu erzählen… Dieses Gefühl von Freiheit. Und natürlich mag ich den großartigen Ausblick, den man in der Regel hat. Plus, nicht zu vergessen, die frische Luft, das Licht. Gerade heute hatten wir eine Schulung von einer Firma, die Fenster herstellt. Da ging es viel um das Thema Licht und Luft in Innenräumen. Klar, ein belichteter Raum ist einfach schön. Was soll ich sagen? Als Dachdeckerin habe ich das den ganzen Tag. Und nicht nur gefühlt geht es mir damit gut. Tageslicht wirkt auf die Stimmung und das Immunsystem, nachweislich. Heute früh haben wir gelernt, wie viele Stunden die Europäer im Durchschnitt pro Tag drinnen verbringen. 90 Prozent ihrer Zeit! Ganz ehrlich, die schlechte Stimmung und die steigenden Depressionsraten verwundern da doch wenig. Und übrigens, ich merke auch, dass ich sehr viel seltener krank werde als meine Freundinnen, die in der Uni oder im Büro sitzen.
Nun kann aber nicht jeder als Dachdecker arbeiten…
Kistermann: Das Handwerk bietet zahlreiche weitere Berufe, die draußen ausgeübt werden. Wir arbeiten eng mit den Zimmermännern und Maurern zusammen. Und die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Dass junge Leute im Handwerk gesucht werden, ist kein Geheimnis. Dass sich in der Branche was tut, sieht man auch an den Zahlen.
Was für Zahlen meinen Sie?
Kistermann: Bei den Auszubildenden im Dachdeckerhandwerk gab es von 2023 bis 2024 ein Plus von 32 Prozent (Quelle ZVDH). In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es viele, die sagen: Wenn ich nochmal neu anfangen könnte, ich würde mich fürs Handwerk entscheiden. Mein Eindruck ist tatsächlich der: Freunde mit Bürojobs wirken oft gedrückt, wenn sie nach Feierabend von ihrer Arbeit berichten…
Ist das bei Handwerkern anders?
Kistermann: Ich erlebe das so, ja. Vielleicht ist unsere Biologie eine Erklärung? Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, den ganzen Tag rumzusitzen.
Aber sind wir für die schwere körperliche Belastung gemacht, die ein Beruf wie der Ihre nun mal mit sich bringt?
Kistermann: Das hat sich zum Glück etwas entspannt. Wir haben Kräne, Arbeitsbühnen… die Technik macht immer neue Fortschritte. Klar, vor allem am Anfang der Ausbildung ist man nach einem Arbeitstag schon echt erschöpft. Aber da wächst man mit der Zeit rein. Glücklicherweise scheinen immer mehr junge Menschen das Ja zu unserem Beruf zumindest mal genauer durchzuspielen. Das Handwerk hat an Ansehen gewonnen.
War das Ansehen des Handwerks davor denn schlecht?
Kistermann: Bei der Wertschätzung hapert es zuweilen. Ich erinnere mich an eine Situation in der Grundschule. Wir sollten Gegenstände mitbringen, um die Berufe der Eltern zu präsentieren. Ich weiß noch genau, wie wir im Kreis saßen, eine Mitschülerin hielt ein Stethoskop in die Luft. Ihre Mutter war Ärztin. Ein Schüler hatte Spielgeld dabei. Der Vater war bei der Bank. Alle Kinder, mich eingeschlossen, hatten mehr Interesse an den akademischen Berufen. Und die Klassiker wie Feuerwehrmann oder Polizist waren natürlich auch ganz weit vorne dabei…
Und dann kamen Sie und haben den Beruf des Dachdeckers vorgestellt?
Kistermann: Ich hatte einen Schieferhammer und eine Schieferplatte dabei, genau. Das hat zwar niemand so gesagt, aber gefühlt waren wir eben „nur“ Dachdecker. Und dieses „nur“ findet sich bis heute, beispielsweise, wenn junge Leute sagen: „Ich habe kein Abi, ich habe nur eine Ausbildung gemacht…“. Ich würde mir so wünschen, dieses „nur“ würde endlich verschwinden! Ich würde mir wünschen, der Dachdeckergeselle wäre genauso stolz auf seine abgeschlossene Ausbildung wie jemand, mit einem abgeschlossenen Studium. Oft fängt das mit der fehlenden Wertschätzung aber schon viel früher an. Nämlich bei der Berufswahl.
Was haben Sie in Sachen Berufswahl erlebt?
Kistermann: Als ich mich zum Ende der Realschule gegen den Besuch des Wirtschaftsgymnasiums und damit gegen das Abi entschieden habe, hat das Umfeld irritiert reagiert. „Deine armen Knochen“! „Das packt eine Frau doch nicht, schon gar nicht ein Leben lang…“ In diese Richtung gingen die Kommentare. Besonders drastisch erinnere ich den Berufsorientierungsunterricht in der 9. Klasse. Als ich meinte, ich wolle eine Ausbildung machen, kam ein Spruch, den werde ich niemals vergessen: „Hannah, du bist doch klug. Warum willst du auf dem Bau? Da gehst du kaputt“. Das sei verschenkte Kompetenz, sagte mein Abteilungsleiter. Verschenkte Kompetenz. Unfassbar! Die Wahrheit ist, zumindest aus meiner Sicht: Der Handwerksberuf eröffnet schier endlose Möglichkeiten. Ich würde mal behaupten, die Möglichkeiten sind sogar größer als die mit einem Studium.
Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Kistermann: Das geht für mich schon in den Lehrjahren los. Die Ausbildungsvergütung im Dachdeckergewerk ist ziemlich gut, besonders, wenn nach Tarifvertrag bezahlt wird. Im dritten Ausbildungsjahr bekommt man bei uns um 1400 Euro brutto. Welcher Student hat das schon? Macht man die Rechnung richtig, gehören natürlich auch die Jahre bedacht, in denen der Azubi schon verdient, während der andere noch die Schulbank drückt.
Können Sie ein paar Beispiele für mögliche Karrieren nach der Ausbildung geben?
Kistermann: Wo fange ich an? Mal abgesehen vom Meisterbrief, der natürlich nochmal mehr Türen öffnet, kann man, falls man keine Lust mehr auf die Baustelle hat, beispielsweise in die Industrie gehen. Oder in den Außendienst. Ich kenne Dachdecker, die heute als Berufsschullehrer arbeiten. Die Weiterbildungsmöglichkeiten sind riesig. Als Dachdeckergeselle kann ich mich beispielsweise zum Photovoltaik-Manager weiterbilden. Oder zum Dachbegrünungs-Manager. Und Weiterbildung ist wie gesagt nur der eine Weg. Die neun Monate bis zum Meister finde ich echt überschaubar. Auch das Wissen viele übrigens nicht: Der Meisterbrief ist gleichzusetzen mit einem Bachelorabschluss. Und auch hier gilt wieder: Ich bin damit keineswegs ans Dach gebunden.
Was meinen Sie?
Kistermann: Mit dem Meisterbrief kann ich, wenn ich möchte, noch andere Gewerke kennenlernen. Konkret bin ich durch den Brief berechtigt, auch hier den Meister zu machen. Den Zimmermannsmeister oder den Spenglermeister. Oder, oder, oder. Und das alles dauert, je nach Meisterschule, wieder jeweils nur wenige Monate. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Wenn ich über die berufliche Zukunft von Dachdeckern spreche, spreche ich, genauso über die Zukunft derer, die lieber Gesellen bleiben möchten. Es macht ja auch keinen Sinn, wenn plötzlich alle den Meister machen. Generell sehe ich die berufliche Zukunft für alle Gruppen ziemlich rosig. Ich sage es mal so: Der Dachdeckerberuf wird nie aussterben. Klar kommt auch bei uns die KI dazu. Aber es wird nie eine KI geben, die aufs Dach steigen wird. Da fällt also ganz viel Unsicherheit, die ich in den akademischen Berufen wahrnehme, weg. Auch der Anteil der Azubis, die vom Betrieb übernommen werden, ist soweit ich weiß, deutschlandweit groß.
Sie engagieren sich ehrenamtlich in der Nachwuchsgewinnung. Wie kann man sich das genau vorstellen?
Kistermann: Ich gehöre dem sogenannten Nachwuchsgewinnungsausschuss vom Dachdeckerverband Nordrhein an. Wir treffen uns alle paar Monate, erarbeiten Konzepte für die Betriebe und auch für die Azubis – es geht unter anderem darum, die Kommunikation zwischen beiden Seiten zu verbessern. Und ich gehe an Schulen und spreche im Rahmen von Berufsorientierungstagen. Schülerinnen und Schüler sollen Impulse bekommen, um sich für ihr Pflichtpraktikum in der neunten Klasse entscheiden zu können. Beim letzten Mal waren neben mir ein Maschinenbauer, die Sparkasse und die Stadt da. Die Resonanz auf meinen Beruf war der Wahnsinn, damit hatte ich nicht gerechnet. Für die Zukunft des Dachdeckergewerbes macht das Mut.
Wie kann man sich die Resonanz genau vorstellen?
Kistermann: In der Pause war ich umgeben von Schülerinnen und Schülern. Mehrere haben mich gefragt, ob sie bei mir ein Praktikum machen könnten. Vielleicht ist das ja der von vielen so ersehnte Wendepunkt Hin zu mehr Wertschätzung unseres Berufs? Ich würde mir das wünschen. Für unser Gewerk. Und für die jungen Menschen.
Letzteres betonen Sie?
Kistermann: Ja, weil ich den Eindruck habe, dass ein großer Teil der Gen Z echt orientierungslos ist. Bevor die Schüler und Schülerinnen sich Gedanken um eine Ausbildung machen, bleiben sie lieber oft noch drei Jahre in der Schule. Das Thema Orientierung würde ich übrigens noch weiterfassen als allein auf die beruflichen Möglichkeiten bezogen. Erst neulich hatte ich da wieder so ein Erlebnis…
Erzählen Sie.
Kistermann: Ich war mit meiner kleinen Schwester im Zug in Berlin unterwegs. Während der Fahrt sind dann zwei junge Burschen zugestiegen, die offensichtlich gerade Feierabend gemacht haben. Sie waren in Zunft, so, wie ich sonst oft auch. Wir kamen sofort ins Gespräch. Wenn ich in Zunft unterwegs bin, fühle ich mich wohl. Ich weiß, wo ich hingehöre, und mein Umfeld weiß das auch. Zudem ist man immer schick angezogen. Ich glaube, viele junge Menschen vermissen sowas. Zugehörigkeit. Und auch wer glaubt, Ausbildungsberufe würden unflexibel machen und zu sehr an die Heimat binden, der irrt. Ich höre jedenfalls immer wieder, dass junge Leute studieren, weil sie flexibel sein wollen.
Was entgegnen Sie?
Kistermann: Tatsächlich ist kaum jemand beruflich so flexibel wie ein Handwerker. Das Einzige, was wir brauchen, sind schließlich unsere Hände. Ich bin sicher: Ich könnte überall in Deutschland einen Job kriegen. Für große Teile des Auslands gilt das vermutlich auch. Bei all den beschriebenen Vorzügen ist es sicher nicht übertrieben, wenn man sagt, das Handwerk hat einen goldenen Boden… Ich bin sicher, diese Erkenntnis wird sich mehr und mehr durchsetzen. Nachdenklich sind viele schon länger, glaube ich.
Warum?
Kistermann: Naja, denken Sie nur an den Klassiker: Die Spülmaschine oder die Waschmaschine ist kaputt und man braucht dringend Hilfe. Und dann, wenn der Handwerker wieder weg ist, wundert man sich…
Über die Höhe der Aufwände, meinen Sie?
Kistermann: Genau. Dieses Muster kenne ich. Wir bekommen auch immer mal wieder solche Anrufe…
Was für Anrufe meinen Sie?
Kistermann: Der Kunde, der sich für unsere tolle Arbeit bedankt. Doch dann kommt so was wie… „Aber die Rechnung hat mich erstaunt… Ihr verdient ja fast mehr als ein Akademiker“.
Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sowas hören?
Kistermann: Dass es zu einem Umdenken kommen muss. „Nur“ Handwerker – das ist Blödsinn. Ich will mich da jetzt nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber so viel: Ich finde, wir verdienen gut. Zurecht. Wer weiß, vielleicht liest das jetzt ja auch mein Lehrer? Der, der mir damals von meiner Ausbildung abraten wollte? Zum Glück habe ich nicht auf ihn gehört!
Mehr über Hannah Kistermann bei Insta: @hannah.kistermann