Clemens Herforth berichtet im Autismuszentrum Schwaben aus seinem Leben als Autist
Auf die Sekunde genau getaktet ist jeder Morgen im Leben von Clemens Herforth. 18 bis 22 Pläne arbeitet er ab, bevor er mit der Arbeit beginnt. „Ich brauche das, um gedanklich in den Tag zu starten“, erzählte der 60-Jährige am 2. April. Herforth war anlässlich des Weltautismustag und des 20. Geburtstag des Autismuszentrum Schwaben nach Waltenhofen gekommen, um aus seinem Leben als Autist zu berichten.
Kempten/Oberallgäu – Erst im Alter von 50 Jahren hat Clemens Herforth erfahren, was eigentlich mit ihm los ist. Sein Leben davor beschreibt er als die „Hölle der Hölle“. Auch wenn man mit seiner Leistung zufrieden war, gab es im Unternehmen immer wieder Missverständnisse. Schwierig war für ihn der Aufstieg zur Führungskraft. Denn das Lesen von Gesichtern und zu erkennen, wenn es jemandem nicht so gut geht, fällt ihm schwer, „selbst wenn jemand in Tränen aufgelöst dasitzt“.
Sehr geholfen hat ihm eine Kollegin, die er morgens auf der Fahrt zur Arbeit angerufen hat und die ihn gebrieft hat, nach dem Befinden welcher Mitarbeiter er sich einmal wegen deren auch privater Probleme erkundigen sollte. Zu ihr hatte er Vertrauen. Sie hatte ihm rundheraus gesagt: „Sie sind so schräg, ich weiß gar nicht, wie ich mit Ihnen umgehen soll.“
Eine andere Form von Wahrnehmung
Ob es der Verzicht auf Alkohol, das Problem mit Spontaneität oder das Hören von Musik war, die Herforth hilft, um seinen Geist zu ordnen: Die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen führten zu Distanz zu seinen anderen Kollegen. „Sie respektierten mich, aber gemocht haben sie mich nicht“, erzählt er.
Viel Kraft wendete der damalige Teamleiter bei einem Finanzdienstleister dafür auf, nicht aufzufallen. „Ich bin daran zerbrochen“, schildert er die Krise. David Scheible, der Geschäftsführer des Autismuszentrum Schwaben, sei der erste gewesen, der ihm richtig zugehört habe.
Autismus kann die Kommunikation, das soziale Verhalten und die Fähigkeit zur Interaktion beeinträchtigen. Im Autismuszentrum Schwaben erhalten Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher eine umfassende Beratung. Gezielt können dort Menschen mit Autismus trainieren, etwa wie eine Begrüßung funktioniert, wie man im richtigen Moment zu Wort kommt, nonverbale Signale zu deuten oder Strukturen und Hilfsmittel anzuwenden.
57 Mitarbeitende im Allgäu, in Senden und Königsbrunn setzen sich dafür ein, „Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Autismus-Spektrum zu fördern“, berichtet David Scheible bei der Jubiläumsveranstaltung. 40 Schulbegleiterinnen und -begleiter des Zentrums unterstützen Kinder mit Autismus im Oberallgäu und in Kempten quer durch die Schularten.
„Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten“
Scheible und Psychologin Helen de Vries betonen, dass die Symptome und das Spektrum von Autismus sehr unterschiedlich ausfallen können. Eine Diagnose sei komplex, es gebe zahlreiche Überlappungen mit anderen Diagnosen. „Ich würde zurückhaltend sein, selber eine Diagnose zu stellen“, so de Vries. In der Beratungsstelle sind sie und ihre Kollegen jährlich mit rund 400 Menschen mit Autismus in Kontakt. Eine Erstberatung sei aktuell innerhalb von drei Monaten realisierbar. Die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Autismus, wie etwa eine klare Kommunikation und direkte Ansprache, können auch für Nicht-Autisten hilfreich sein, so de Vries.
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So wie es bei Clemens Herforths derzeitigen Arbeitgeber, einem Inklusionsbetieb in Kaufbeuren die Regel ist. Dort lautete die erste Frage, die man ihm stellte: „Was brauchst du, um dich wohlzufühlen?“ Die Kollegen und Kunden schätzen Herforth, der heute als Organisationsentwickler arbeitet, wegen seiner schonungslosen Ehrlichkeit, seiner unkonventionellen Denkweise und seiner analytischen Fähigkeiten. Sie suchen seinen Rat auch in privaten Angelegenheiten. „Worin ich gut bin, ist herauszufinden, worum es konkret geht und welche Fragestellung hinter einer Emotion steckt.“ Herforth ist froh, auf diese Weise einen Draht zu den Leuten zu bekommen.
Spezielle Begabungen und intensive Leidenschaften
Dass die Menschen mit Autismus oft eine spezielle Begabung oder eine intensive Leidenschaft besitzen, darauf hob auch Kemptens Bürgermeisterin Erna-Kathrein Groll in ihren Glückwunschworten zum Jubiläum ab. Sie berichtete vom Buch „Gute Nacht“, das autistische Kinder, denen es oft schwerfällt, abends zur Ruhe zu kommen, mit ihren Eltern geschrieben haben. Dessen Protagonist Angelo wird von allen Tieren so sehr gemocht, dass sie mit ihm spielen. „Es beschreibt die Menschen, sie haben etwas Besonderes, Tolles“, so Groll.
Die Oberallgäuer Landrätin Indra Baier-Müller appellierte, sich selbst und die gesellschaftlichen Konventionen, die vielleicht nicht für alle so klar sind, zu hinterfragen und voneinander zu lernen. „Das ist für mich Inklusion“, sagte sie.
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