Als auf Weilheim Bomben fielen
„Guten Tag, ich rufe aus Berlin an. Ich bin der wohl letzte Überlebende des Bombenangriffs am 19. April 1945 auf den Weilheimer Bahnhof.“ Vor einiger Zeit meldet sich Gerhard Gnadl mit diesen Worten bei der Heimatzeitung – und erzählt dann von dem Tag im April, als auf Weilheim Bomben fielen.
Weilheim – Gerhard Gnadl kniet in einem Keller in Weilheim und betet. Zwischen Regalen voller Marmeladen und eingewecktem Obst und Gemüse ist der damals 12-Jährige auf die Knie gegangen und hat die Hände gefaltet. Die drei anderen Kinder, die mit ihm und zehn Nonnen der Englischen Fräuleins in deren Speisekeller geflohen sind, haben auch die Hände zum Gebet gefaltet. Draußen heult der Fliegeralarm über der vormittäglichen Stadt. Das Dröhnen der Bomber kommt immer näher. „Ich hatte solche Angst“, sagt Gnadl heute, 79 Jahre später. Seine Stimme wird leiser, wankt, als er das erzählt. Vielleicht spürt er diese Angst heute noch.
„Wo sind meine Eltern? Komme ich hier lebend heraus?“
Was folgt an jenem Vormittag 1945 im Keller der Englischen Fräuleins sind Einschläge, Detonationen, ganz nah, laut, erschütternd, bedrohlich. Wo sind meine Eltern? Komme ich hier lebend heraus? Tausend Gedanken gehen durch den Kopf des Weilheimer Buben. Nach einer Dreiviertelstunde ertönt die Sirene von zuvor im Dauerton. Entwarnung. Die Kinder und die Nonnen wissen: Es ist überstanden, sie haben überlebt. Den Bombenangriff auf Weilheim, am 19. April 1945. Es sollte bis auf einen kleineren im Februar zuvor der einzige auf die Stadt sein. 24 Menschen kommen dabei ums Leben, der Großteil des Bahnhofs wird zerstört. Nicht mal einen Monat später endet der Zweite Weltkrieg in Europa.
Gerhard Gnadl ist wirklich fit. Die 91 Lebensjahre hört man ihm am Telefon nicht an. Wenn er erzählt, ist seine Erinnerung glasklar. Ob er Fotos von sich per Mail schicken kann? Auch Fotos von früher? Kein Problem für den Berliner. Gnadl ist ein Zeitzeuge, der Gold wert ist. Weil er dabei war, als Weilheim bombardiert wurde. Weil er sich erinnert und auch darüber spricht. Und weil er sich der Bedeutung seiner Erinnerungen bewusst ist – und sich gemeldet hat.

Seinen Vater bewahrte der Beruf vor dem Schlachtfeld
Das Telefonat mit Gerhard Gnadl ist eine Reise ins Weilheim am Ende des Zweiten Weltkrieges. Gnadl lebt mit zwei Schwestern und seinen Eltern am Bahnhof in Weilheim. Er ist das jüngste von fünf Kindern. Die Schwestern gehen in München in die Schule für höhere Töchter, die beiden Brüder sind im Krieg. Der Vater ist Signalwerkmeister, für die Wartung und Instandsetzung der Signale und Weichen zuständig. Gerhard Gnadl wird 1933 in Dorfen geboren. Der Vater, ein „Ur-Eisenbahner“, will bei der Bahn beruflich weiterkommen und lässt sich 1936 nach Weilheim versetzen. Sein Beruf bewahrt ihn vor dem Schlachtfeld: Eisenbahner werden nicht eingezogen. Die Familie lebt in unmittelbarer Nähe zur Güterhalle. In der Bahnhofstraße 13 sind unten Bahnbüros, oben ist die Wohnung der Gnadls.
Es war eine schöne Kindheit am Bahnhof
Es war eine schöne Kindheit dort am Bahnhof, sagt Gnadl. Der Bub beobachtet häufig, wie Waren am Umschlagplatz verladen werden. Sie gehen von München entweder weiter nach Garmisch, Augsburg oder Schongau. Oder sie werden per Pferdefuhrwerk in die Stadt transportiert. Kommt der Münchner Zirkus Krone in die Stadt, marschieren schon mal Elefanten die Laderampe herunter und weiter bis zum Volksfestplatz. Hier auf der Laderampe hat Gnadl Radlfahren gelernt. Und dort sieht er auch die Soldaten, die „verladen in Viehwagons“ an die Front geschickt werden.
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Die Weilheimer haben noch Glück im Unglück
Diese Front, die rückt am 19. April 1945 plötzlich ganz nah heran an die Weilheimer. Es ist „strahlend schönes Wetter“, erinnert sich Gnadl. Er hat nicht viel davon, muss bei den Englischen Fräuleins in der Schützenstraße 10 Mathematik und Englisch pauken. Die Nonnen bieten Nachhilfe an, nachdem sie unter den Nazis ihre Mädchenschule nicht mehr betreiben dürfen. Um 10 Uhr heult der Fliegeralarm los. Für Gnadl nichts besonderes mehr. „Was meinen Sie, wie oft ich als Zehn-, Elfjähriger im Keller saß?“ 99 Prozent der Bomber, die in den Kriegsjahren über Weilheim aufgetaucht sind, seien aber weitergeflogen, von Italien kommend in Richtung München. Doch diesmal ist es anders. Und dabei haben die Weilheimer noch Glück im Unglück. Die Amerikaner schicken ihre schweren Bomber an dem Tag an den Brenner, nach Weilheim fliegen Maschinen mit „nur“ 250-Kilo-Bomben, unter den Tragflächen befestigt.
Gnadls Eltern sind zuhause am Bahnhof, als die ersten dieser Bomben fallen. Vater und Mutter flüchten sofort in den Kohlenkeller unter dem Wohnhaus. Doch der Vater ahnt: „Die amerikanischen Bomber haben es speziell auf den Weilheimer Bahnhof abgesehen.“ Nach der ersten Angriffswelle – zwei weitere sollten noch folgen – eilen Gnadls Eltern aus dem Keller und laufen in Richtung Innenstadt. „Sie haben mir danach erzählt, sie wollten nur weg vom Bahnhof, egal wohin.“ Vom Flieger aus seien sie dann mit Maschinengewehren beschossen worden. „Obwohl sie eindeutig als Zivilisten erkennbar waren. Die Sichtverhältnisse waren sehr gut“, meint Gnadl. „Das hat einfach keinen interessiert“, ist er sich sicher. Schließlich hätten die Amerikaner an diesem Tag auch einen Lazarettzug aus Ungarn, der am Bahnhof stand, bombardiert. „Und da waren rote Kreuze drauf.“ Die Eltern schaffen es, sich irgendwo in Sicherheit zu bringen, wo, weiß Gnadl nicht. Sie überleben jedenfalls die zweite und auch die dritte Bombenwelle – wie der Sohn im Speisenkeller der Englischen Fräuleins.
Alle sind wohlauf, doch das Haus ist unbewohnbar
Als sich Eltern und Sohn nach der Entwarnung am Wohnhaus wiedersehen, ist die Erleichterung groß. Alle sind wohlauf. Doch das Haus ist unbewohnbar, durch Maschinengewehrbeschuss beschädigt. „Wir haben noch ein paar Sachen herausgeholt, das Bettzeug der Eltern zum Beispiel“, erinnert sich Gnadl. Viel ist es nicht. Die Gnadls werden nach Wielenbach ausquartiert, zu einer Landwirtsfamilie. „Wir haben zu fünft die gute Stube bewohnt, Küche und alles andere mit den Bauern geteilt.“ Im Nachbarzimmer wohnt schon eine ausgebombte Münchner Familie. Die Wielenbacher nehmen alle herzlich auf – „man hielt damals zusammen.“
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Heute erinnert sich Gerhard Gnadl gern an Weilheim
Jetzt, all die Jahrzehnte später, erinnert sich Gerhard Gnadl trotz dieses erschreckenden Vormittags im April 1945 gern an Weilheim. Beruflich hat es ihn ab den 1950ern nach Bayreuth, Stuttgart und Berlin verschlagen, wo er heute noch lebt. „Aber ich wollte eigentlich immer zurück.“ Wegen der Arbeit hätte es nicht geklappt, sagt er. Und jetzt sei es zu spät, ein Umzug zu mühsam. Im Herbst wird Gnadls zweite Ehefrau 80 Jahre alt. Dann wollen die beiden nach München reisen, den Geburtstag mit Gnadls Tochter feiern, die dort lebt. Vielleicht besuchen sie dann auch Weilheim, sagt er. Die alte Heimat, den Ort seiner Kindheit und Jugend. Wo Gnadl Elefanten bestaunte – und den Bomben entkam.
Veronika Mahnkopf