Warum viele von uns eine völlig falsche Vorstellung von Demokratie haben

Empörung ist einfach. Demokratie ist anstrengend. Und genau deshalb so wertvoll. Mein Schlüsselmoment beim Constructive World Award, der mir klarmachte, warum konstruktiver Journalismus und eine gesunde Streitkultur wichtiger sind denn je – gerade dann, wenn es unbequem wird:

Ich bin in diesem Jahr zum zweiten Mal als Jurorin beim Constructive World Award von FOCUS dabei – eine Aufgabe, die ich liebe. Nicht nur, weil ich dadurch Zugang zu so vielen mutigen, starken und inspirierenden Projekten bekomme, sondern weil sie meinen Blick auf die Welt verändert hat.

Durch meinen Beitrag im letzten Jahr erhielt ich meine eigene Kolumne bei FOCUS online und so schön diese Aufgabe auch ist, wurde mir dadurch wirklich klar, wie sehr das Bild unserer Gesellschaft sich verändert hat – oder vielleicht wie stark es verzerrt wird.

Viele Menschen nehmen selbst belegbare Fakten nicht mehr als Wahrheit an. Sie bauen sich lieber ein Weltbild, das zu ihrer Meinung passt. Und selbst jene, die laut für Demokratie einstehen, wackeln, sobald Demokratie nicht mehr das liefert, was sie sich erhofft haben.

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FOL

Über die Artikelreihe

Saina Cortez (ehem. Bayatpour) ist eine mehrfach ausgezeichnete Unternehmerin, Uni-Dozentin, Autorin und Speakerin. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Markt- und Werbepsychologie in München und gründete bereits mit 27 Jahren ihr erstes Unternehmen. Mit "SHECIETY" unterstützt Bayatpour Frauen auf dem Weg zum Erfolg. In diesem Jahr war sie Jury-Mitglied des "Constructive World Award" 2025.

Der "Constructive World Award" wurde 2023 von FOCUS online ins Leben gerufen. Mit dem Award soll die gesellschaftliche und journalistische Arbeit derjenigen gewürdigt werden, die unsere Welt konstruktiv nach vorne denken und bewegen.

Die Gewinnerinnen und Gewinner des "Constructive World Awards" werden auf einer feierlichen Veranstaltung am 5. Juni 2025 in Berlin bekannt gegeben.

In einer Reihe von Gastbeiträgen bringen die Jury-Mitglieder ihre Sicht und Ideen für die Lösung von gesellschaftlichen Problemen ein. 

Was, wenn ich die falsche Entscheidung treffe?

Bei der diesjährigen Jurysitzung passierte dann etwas, das mich tief nachdenklich machte. Alle Stimmen waren abgegeben – und es herrschte Gleichstand. Meine Stimme war die letzte. Ich wurde plötzlich zum Zünglein an der Waage. Alle Augen richteten sich auf mich. Und wie das eben so ist, kamen von beiden Seiten Kommentare. Mal charmant, mal spöttisch, mal scherzhaft – aber alle mit einem klaren Ziel: Überzeugung.

"Komm auf meine Seite."

"Du musst dich für unser Projekt entscheiden."

"Wenn du dich dagegen entscheidest, mag ich dich nicht mehr."

Sätze, die eigentlich witzig gemeint waren, aber etwas in mir auslösten. Ich spürte auf einmal Druck. Verantwortung. Und ja – auch Angst. Was, wenn ich die falsche Entscheidung treffe? Was, wenn jemand enttäuscht ist? Was, wenn ich jemanden verliere?

Ich entschied ich aus dem Herzen heraus

Ich zögerte. Ich wurde unsicher und meine Hände etwas schwitzig. Ich suchte nach Wegen mich aus dieser Verantwortung zu erlösen und plädierte aus dem Affekt heraus für eine neue Abstimmung. Zum Glück waren aber einige dagegen, denn sonst wäre ich um meinen Lernprozess gekommen.

Ich will auch unter Druck zu meinen Werten und meinen Entscheidungen stehen, also entschied ich – aus dem Herzen heraus. Für das Projekt, das auch meiner Arbeit bei meinem Frauennetzwerk sheciety sehr nahe kam und für das ich seit über 14 Jahren losgehe.

Eine Seite jubelte, die andere war geknickt. Manche nahmen es sportlich. Andere waren ehrlich enttäuscht. Die Jurykollegin neben mir, die für das andere Projekt gestimmt hatte, sagte mit einem Schmunzeln: "Ach, Demokratie nervt – und bis eben mochte ich dich."

Konstruktiver Journalismus will nicht gewinnen. Er will verbinden.

Wir lachten. Aber innerlich drehte sich etwas in mir. Denn dieser eine Moment sagte so viel über unsere Zeit. Über uns. Viele stehen für Demokratie ein – solange sie das bringt, was sie wollen. Aber Demokratie heißt nicht: Ich bekomme immer, was ich will. Demokratie heißt: Ich halte auch dann aus, wenn ich nicht gewinne. Ich bleibe im Gespräch. Ich vertraue auf den Prozess.

Und genau hier sehe ich die große Chance von konstruktivem Journalismus. Denn während Empörung Klickzahlen bringt, Wut verbindet und einfache Antworten sich gut verkaufen, ist es der konstruktive Blick, der uns wirklich weiterbringt.

Vielleicht ist das der Kern: Konstruktiver Journalismus will nicht gewinnen. Er will verbinden.

Ich lese in meiner Rolle als Jurorin Beiträge, die genau das tun. Geschichten, die nicht vereinfachen, sondern erklären. Die nicht urteilen, sondern zuhören. Die Komplexität nicht scheuen, sondern sie als Teil der Wahrheit anerkennen. Und sie tun das nicht, um zu gefallen – sondern um etwas zu bewegen.

Mehr Herz. Mehr Ehrlichkeit.

Ich wünsche mir mehr davon. Und ich wünsche mir, dass wir aufhören, uns an der Empörung zu wärmen wie an einem kalten Feuer. Denn es gibt eine andere Form von Wärme – sie kommt, wenn wir uns trauen, zu sehen. Zu hinterfragen. Uns selbst zu reflektieren. Und allem voran zu unseren Grundwerten zu stehen. Auch wenn sie sich manchmal subjektiv gesehen unbequem anfühlen.

Neulich schrieb mir eine Frau auf Instagram: „Du bist manchmal zu weich für diese Welt.“ Ich weiß, wie sie es meinte. Aber ich glaube, genau das ist es, was wir brauchen. Mehr Weichheit. Mehr Herz. Mehr Ehrlichkeit.

Ich will nicht mehr gewinnen. Ich will bewegen.

Nicht auf Kosten anderer. Sondern mit ihnen zusammen.