Mitten in Neukölln steht der Schrottplatz der Zukunft - und zeigt, wie wir bald bauen

Ungefähr so stellt man sich den Arbeitsplatz eines Berliner Start-ups vor: unverputzte Industriedecke aus Beton, Einbauten aus viel Glas und hellem Holz, schlanke Möbel zum Verschieben und eine Kaffeebar als Herz des Gebäudes, wo es an diesem Morgen ununterbrochen klopft und zischt, so stark wie die schicke schwarz-silberne Siebträgermaschine hier im Dauereinsatz ist.

Recycling auf die Spitze getrieben

Willkommen im CRCLR-Haus in Berlin, einem Gebäude mitten im tiefsten Neukölln, das so entworfen und gebaut wurde, wie man es sich für ganz Deutschland nur wünschen kann.

Zumindest, wenn man noch nicht alle Hoffnung hat fahren lassen zu den Klimazielen in der Bauwelt. Denn das neue Zuhause des Impact Hub Berlin entstand aus einer alten Lagerhalle der Kindl-Brauerei im Rollbergkiez. Die stützenfreie Halle ließ man dafür stehen und setzte darauf einen Neubau aus Holz, Stroh und Lehm, der neben Gewerbeflächen auch Platz für neue Wohnungen bietet.

Sowohl beim Bestandsgebäude als auch bei der Aufstockung galt das Ziel, so viele recycelte Materialien und Bauteilen wie nur möglich zu verwenden. "Wir haben es auf die Spitze getrieben", sagt Christian Schöningh über das Zischen der Kaffeemaschine hinweg. Der Architekt hat mit seinem Berliner Büro "Die Zusammenarbeiter" das CRCLR-Haus für die Genossenschaft TRNSFRM entwickelt.

Im Innenausbau, den das Berliner Büro LXSY mit den Codes der Großstadt versah – inklusive des obligatorischen Cafés – kamen 70 Prozent wiederverwendetes Material zum Einsatz.

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Über den Beitrag

Dieser Beitrag ist für den "Constructive World Award" 2025 eingereicht worden.

Der "Constructive World Award" wurde 2023 von FOCUS online ins Leben gerufen. Mit dem Award soll die gesellschaftliche und journalistische Arbeit derjenigen gewürdigt werden, die unsere Welt konstruktiv nach vorne denken und bewegen.

Die Gewinnerinnen und Gewinner des "Constructive World Awards" werden auf einer feierlichen Veranstaltung am 5. Juni 2025 in Berlin bekannt gegeben.

Dieser Beitrag erschien am 12. September 2024 in der Süddeutschen Zeitung, von der Autorin Laura Weißmüller, Architekturredakteurin bei der SZ. Sie verantwortet dort den Bereich Architektur, Stadtplanung und Design.

Der Bericht zeigt auf, wie Deutschland bei der Kreislaufwirtschaft hinterherhinkt, etwa im Vergleich zu Frankreich und der Schweiz. Er erläutert, welche Änderungen notwendig sind, um dies zu verbessern, beispielsweise durch die Anpassung oder Schaffung neuer Baunormen, damit recycelte Bauteile überhaupt eingesetzt werden können.

Zirkuläres Bauen bleibt bisher die Ausnahme

Das klingt nicht nur außergewöhnlich, das ist es auch. Bauen mit recycelten und wiederaufbereitetem Material, das man als zirkuläres Bauen bezeichnet, ist in Deutschland immer noch die Ausnahme. Dabei dürfte es das längst nicht mehr sein. Zumindest, wenn man das Ausmaß der Zerstörung betrachtet, das die Bauindustrie nach wie vor verursacht. Allein in Deutschland ist sie für etwa 40 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich.

International sieht es nicht besser aus. Wäre die weltweite Zementindustrie ein Land, dann wäre es das Land mit den vierthöchsten CO2-Emissionen nach China, den USA und Indien. Dazu kommt der Müll, der durch das Bauen und Abreißen von Gebäuden entsteht.

In Deutschland gehen 55 Prozent des Abfallaufkommens auf das Konto der Bauindustrie. Unvorstellbare 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle entstehen pro Jahr allein in diesem Land.

Mit anderen Worten: Es bräuchte verdammt gute Gründe für jeden Neubau, der die Aussicht der kommenden Generationen auf eine lebenswerte Zukunft trübt. Was man stattdessen erlebt, ist der Einsatz einiger Unermüdlichen im Kampf gegen den Abriss einzelner herausragender Gebäude, sei es das alte Justizzentrum in München, das Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion in Berlin oder die Städtischen Bühnen in Frankfurt.

Ansonsten schwingt die Abrissbirne in diesem Land fast ungehindert. Die Verfasser des offenen Briefes, die im Herbst 2022 ein Abrissmoratorium von Bauministerin Klara Geywitz forderten, warten noch immer auf eine Antwort aus dem Bauministerium. Und das, obwohl der Abriss vieler Gebäude längst gegen geltendes Gesetz verstößt. Doch dazu später.

Kreislauffähiges Design ermöglicht den einfachen Rückbau und die Wiederverwendung von Bauteilen – Gebäude als Materiallager der Zukunft. STUDIO BOWIE

Concular gibt alten Baustoffen neues Leben

Erst einmal zu denen, die seit dem Jahr 2020 und mittlerweile etwa 450 realisierten Projekten zeigen, wie kreislaufgerechtes Bauen funktionieren kann. Es geht um das Berliner Start-up Concular, das passenderweise im CRCLR-Haus seinen Sitz hat.

Grob gesagt, handelt die Firma mit wiederverwendetem Baumaterial auf ihrer digitalen Plattform. Egal, ob großes oder kleines Projekt, Bauherren können dort nach Materialien suchen. Außerdem können aber auch Gebäudebesitzer Concular kontaktieren, wenn sie ihre Bauten abreißen wollen.

Bevor die Mitarbeiter das Gebäude besichtigen, versuchen sie erst einmal herauszufinden, welche Materialien und Bauteile dort verbaut sind und wie groß das Schadstoffpotenzial ist.

Wenn ihre Prüfung vielversprechend ist, geht ein Team ins Gebäude und inventarisiert mit einer App, was sich zum Wiederverkauf eignet. Das können Brandschutztüren, Büromöbel und Leuchten sein, aber auch Ziegelsteine, Glasscheiben bis zu Stahlbeton-Fertigteilen.

Schrauben statt kleben

"Alles, was fest verklebt ist, ist unser Feind", sagt Franziska Stein, Senior Marketing Managerin von Concular am Bistrotisch im Café. Das ist auch der Grund, warum es beim Innenausbau im Impact Hub Berlin so viele unverputzte Wände und verschraubte statt verklebte Verbindungen gibt.

Kreislauffähig zu entwerfen, bedeutet eben auch, Bauteile so einzusetzen, dass sie später einmal mit wenig Aufwand rückgebaut und wiederverwendet werden können. Das errichtete Gebäude wird damit zum Materiallager der Zukunft.

Nach Zukunft klangen auch mal die Kleber, Beschichtungen und Folien, die etwa ab den Sechzigerjahren auf den Markt kamen und sofort Verwendung fanden. "Das war Fortschritt", sagt Architekt Schöningh heute dazu. "Man kann die Begeisterung, die damals für die neuen Materialien herrschte, nachvollziehen. Aber heute haben wir mit dem ganzen Müll zu tun."

Anders verhalte es sich bei älteren Gebäuden wie der Lagerhalle aus der Gründerzeit. "Das ist fast sortenreines Bauen", so der Architekt. Entsprechend einfacher ließen sich diese Häuser rück- oder umbauen.

Hat Concular die Materialien ausgebaut, geht es ans Aufbereiten. Das funktioniert so gut, dass der Kunde später oft keinen Unterschied mehr erkennen kann, etwa bei Systemtrennwänden. Die Kosten liegen im Vergleich zur Neuware um bis zu 30 Prozent niedriger, der CO2-Ausstoß bei 50 Prozent, und geprüft werden die Materialien von Concular auch, bevor sie zum Verkauf angeboten werden. Bauen wird also nicht nur nachhaltiger, sondern auch günstiger dadurch.

Woran liegt es dann, dass die Kreislaufwirtschaft beim Bauen hierzulande nur so schleppend vorankommt?

Fehlende Anreize

"In Deutschland gibt es überhaupt keine Anreize, zirkulär zu bauen", sagt Dominik Campanella. Er hat mit Julius Schäufele das Unternehmen gegründet. Im Gegensatz zu Frankreich. Dort ist es seit Juni 2023 verpflichtend, vor einem Rückbau die verbauten Materialien zu sichten und zu prüfen, was wiederverwendet werden kann. Seit diesem Jahr müssen Hersteller dort außerdem ihre Materialien wieder zurücknehmen.

"Das hat den Markt komplett verändert", sagt Campanella. Neue Unternehmen hätten sich gegründet, die sich darauf spezialisiert haben, Material zurückzunehmen, aufzubereiten und wiederzuverkaufen. "Es ist verrückt, was gerade in Frankreich in so kurzer Zeit passiert. Wir bauen hier Fabrikhallen ab, die bauen neue Fabriken auf."

Baubranche ohne Rückführungssysteme

Auch in Deutschland bräuchte es deswegen, so Campanella, eine sogenannte "Pre-Demolition-Audit": die Verpflichtung, bei jedem Rückbau zu prüfen, welche Materialien im Gebäude sind und wie man die hochwertigen davon wieder in den Kreislauf zurückbringen kann.

Die Hersteller müssten dafür ihre Prozesse in gewisser Weise rückwärts drehen. "Die haben die Hallen, die Maschinen und die Expertise, ihre Produkte wieder zu zertifizieren", sagt Stein. Doch die Hersteller verlieren die Spur ihrer Bauprodukte ab dem Verkauf. Sie dokumentieren weder, wo diese hingehen, noch wie sie verbaut sind.

"Die wissen bis heute nicht, wie viel Potenzial ihnen da eigentlich verloren geht", so Stein. Das umzudrehen, mag revolutionär klingen, ist es aber eigentlich nicht. "Die Baubranche ist die einzige Branche, bei dem es kein System der Rückführung gibt. In der Elektronik, bei den Pfandflaschen – überall gibt es Rücknahmesysteme, nur nicht bei den Bauprodukten", sagt Campanella.

Was als Recycling gilt, ist oft nur Entsorgung

Nach dem Grund dafür muss man nicht lange suchen. Für die Hersteller ist die Gewinnmarge deutlich größer, wenn sie neue Produkte verkaufen, statt alte Materialien aufzubereiten. Für Rückenwind sorgt in gewisser Weise die Tiefbauindustrie, deren Bedarf von Bauschutt immens ist. Und für Schotter braucht es einen Abriss statt eines behutsamen Rückbaus.

Perfider Weise sorgt genau dieses Vorgehen – Abriss statt Umbau – für eine Recyclingquote von 90 Prozent aller mineralischen Bauabfällen. Nur dass der Bauschutt in den allermeisten Fällen nicht für Neubauten eingesetzt wird, sondern als Schotter unter dem Straßenbelag landet oder zur Verfüllung einer Baugrube dient. Mit anderen Worten: Das, wofür sich der Verband des Deutschen Baugewerbes feiern lässt, ist klassisches Downcycling.

Das fällt so lange nicht auf, wie das Kreislaufwirtschaftsgesetz derart lax ausgelegt wird wie gegenwärtig. "Eigentlich steht da schon alles drin", sagt die Architektin Ann Kathrin Goerke, die für Concular Bauherren berät.

Zum Beispiel, dass das Material in einem Abbruchhaus, das sich für eine Wiederverwendung eignet, ausgebaut und recycelt werden muss. Die Verantwortung dafür liegt beim Bauherren. "Aber fast keiner kennt das Gesetz. Viele Bauherren und Architekten hören bei uns davon zum ersten Mal", so Goerke. Und Campanella ergänzt: "Es gibt niemanden, der das überprüft. Die Behörden müssten das machen, aber keine fühlt sich zuständig."

Ein Schritt zu nachhaltigem Bauen

Um das zu ändern, hat der Gründer von Concular sogar eine Norm geschrieben. Das ist, zumindest in Deutschland, dem Land, in dem beim Bauen alles verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, so etwas wie der heilige Gral.

Campanella startete also einen öffentlichen Aufruf und fragte, wer beim Verfassen der Norm dabei sein möchte. Vom Verband der Deutschen Bauindustrie bis zu einem der führenden Bauunternehmen waren das einige.

Heraus kam die DIN SPEC 91484 oder im feinsten Bürokratendeutsch: das "Verfahren zur Erfassung von Bauprodukten als Grundlage für Bewertungen des Anschlussnutzungspotenzials vor Abbruch- und Renovierungsarbeiten". Die DIN-Norm wurde vor einem Jahr auf Deutsch und Englisch veröffentlicht.

Die Schweiz, Frankreich und Dänemark – alle drei Vorreiter im zirkulären Bauen – haben die Norm bereits übernommen. Deutschland nicht. Bauen sei Ländersache, hieß es aus dem Bauministerium, das die Verantwortung dort hinschob. Weswegen bislang nur Berlin und Hamburg die Norm anwenden, und das auch nur bei öffentlichen Gebäuden. "Es gibt keinen Druck", sagt Dominik Campanella. "Es wird auch nicht gesellschaftlich diskutiert, dass wir das unbedingt brauchen."

Was helfen dürfte: die Gesetzesvorgaben der EU. Seit Januar 2020 gilt die EU-Taxonomie, die unter anderem den "Übergang in eine Kreislaufwirtschaft" vorschreibt. Ein CO2-Grenzwert beim Bauen dürfte ähnlich wie in Dänemark und in Frankreich auch in Deutschland auf absehbare Zeit kommen und klare Vorgaben machen, wie hoch der CO2-Ausstoß beim Bau eines Gebäudes sein darf. Bis es so weit ist, lässt sich bei Concular studieren, wie es jetzt schon geht.