Jobcenter klagen in Bilanz über Gewalt: Bürgergeld-Empfänger rasten aus

Ein Bürgergeldempfänger (56), der im Jobcenter über seine Pflichten aufgeklärt wird, rastet während des Gesprächs im Büro des Sachbearbeiters aus. Er springt wuterfüllt auf, rüttelt am Schreibtisch und wirft schreiend das Telefon in Richtung des Mitarbeiters.

Bedrohungslagen wie diese in Lüchow (Niedersachsen) gehören in deutschen Jobcentern mittlerweile zum traurigen Alltag. Immer wieder kommt es zu verbalen und körperlichen Angriffen auf Angestellte, einige Exzesse endeten tödlich.

Bürgergeld-Frust: Zunehmende Gewalt in Jobcentern 

Jobcenter, die unter anderem für die Bewilligung, Auszahlung und Sanktionierung des Bürgergelds zuständig sind, haben es mit einer schwierigen Klientel zu tun: Menschen, die auf der sozialen Leiter bis ganz nach unten abgerutscht und nun auf Hilfe des Staates angewiesen sind. Viele sind verzweifelt, einige gewaltbereit.

Viele Opfer wurden am Arbeitsplatz, also in ihrem Büro oder auf dem Flur, attackiert. Manche berichten über Vorfälle, bei denen Täter sie in der Öffentlichkeit bloßstellten („Du Schlampe, hast mir mein Geld gekürzt!“) oder sogar in den privaten Bereich verfolgten. Meist handelt es sich um frustrierte Bürgergeld-Bezieher, die wegen gesetzlicher Auflagen oder finanzieller Einschnitte austicken.

Beispiel Leipzig: 49 Hausverbote, 24 Strafanzeigen

Nicht jedes Jobcenter führt über die Attacken Bilanz. Viele, die es tun, melden Zahlen und Vorfälle, die aufhorchen lassen. So das Jobcenter Leipzig. 

Auf Anfrage von FOCUS online teilte Sprecherin Antje Wiesner mit, dass die Behördenleitung in den vergangenen beiden Jahren 49 Hausverbote aussprechen musste, 24 Strafanzeigen gestellt hat und – bei kleineren erstmaligen Auffälligkeiten – 33 „Respektsschreiben“ verschickte. 

Laut der Jobcenter-Sprecherin drehen sich die Strafanzeigen überwiegend um „Beleidigungen und Bedrohungen“ gegenüber den Mitarbeitern. „Zudem sind Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Verleumdung und üble Nachrede häufig angezeigte Delikte.“ Auch vereinzelte „körperliche Angriffe“ habe es im Jobcenter Leipzig schon gegeben, so Antje Wiesner. 

Immer häufiger zu verzeichnen sei Gewalt gegen Sachen. „In den letzten Monaten haben wir rund zehn beschädigte Aufsteller, zwei demolierte Glastüren, eine zerstörte Infektionsschutzscheibe, einen angezündeten Mülleimer vor dem Haus sowie zwei Türen gezählt, die in den dahinter befindlichen Trockenbau gerammt wurden. Der Sachschaden der vergangenen Monate liegt bei rund 7000 Euro.“

Mannheim: „Deutliche Zunahme an verbaler Gewalt“

Dass der Ton gegenüber Jobcenter-Mitarbeitern „insgesamt rauer geworden ist“, sei eine Tatsache, so Sprecherin Wiesner. 

Ihre Kollegin Anja Brede vom Jobcenter Mannheim kann das bestätigen. Auch ihre Behörde registriere eine „deutliche Zunahme an verbaler Gewalt“. Als Ursachen nennt Brede gegenüber FOCUS online die „allgemeine kommunikative Verrohung der Gesellschaft und das Absinken der Hemmschwelle, die auch in anderen Bereichen wahrzunehmen ist, etwa in den sozialen Medien“.

Ähnlich äußert sich Katrin Hugenberg vom Jobcenter Duisburg: „Insbesondere die verbale Gewalt nimmt zu, also persönliche oder globale Drohungen und Beleidigungen. Hier ist die Hemmschwelle gesunken.“ Bei ihren Attacken würden die Täter vor keiner noch so üblen Formulierung zurückschrecken. „Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt“, so Hugenberg. 

Sie betont, die Sicherheit der Jobcenter-Mitarbeiter habe in Duisburg „oberste Priorität“. Hugenberg: „In allen Geschäftsstellen mit Kundenverkehr ist ein Sicherheitsdienst vor Ort.“ Wenn es sein muss, werde hart durchgegriffen. Bis Mitte November 2025 seien „13 Hausverbote vollzogen und sechs Strafanzeigen gestellt“ worden. Zudem gebe es immer wieder „Gefährdungsansprachen der Polizei“. 

50 Prozent wurden im Job beschimpft oder angegriffen

Auch in anderen Häusern begegnet man Störenfrieden mit der gebotenen Konsequenz. So gelte im Jobcenter Vogtland „eine Null-Toleranz-Einstellung bei der Anwendung von Gewalt gegen Beschäftigte“, erklärt Sprecher Sebastian Preiss auf Anfrage von FOCUS online. Im Einzelfall würden auch verbale Übergriffe „bei der Polizei zur Anzeige gebracht“.

Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, ob Aufsicht im Schwimmbad, Polizist, Rettungskraft, Busfahrer oder Mitarbeiter im Jobcenter, sehen sich immer häufiger gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt. In einer aktuellen Umfrage des Deutschen Beamtenbunds (DBB) unter rund 2000 Bürgern gaben 50 Prozent der im öffentlichen Dienst Beschäftigten an, selbst schon einmal bei ihrer Tätigkeit behindert, beschimpft oder tätlich angegriffen worden zu sein. 

Beispiel Jobcenter Bochum. Dort registrierte man in den vergangenen beiden Jahren knapp 90 Fälle von Bedrohungen und Beleidigungen gegen Mitarbeiter. Die Attacken wurden „sowohl im persönlichen Gespräch in Büros und an Kundentheken als auch schriftlich in Mails und Schreiben an das Jobcenter geäußert“, so Sprecher Johannes Rohleder zu FOCUS online. 

Allein 2025 seien 16 Hausverbote erlassen und 25 schriftliche Ermahnungen erteilt worden. „Zudem pflegen wir einen guten Kontakt zu den benachbarten Polizeidienststellen der jeweiligen Standorte.“

Rohleder betont, bei insgesamt fast 30.000 Kunden fielen die „sehr wenigen Einzelfälle“ kaum ins Gewicht. Dennoch bleibe jedes Vergehen „eines zu viel“. Deshalb werde man in Bochum „auch in Zukunft unsere bewährte Null-Toleranz-Strategie weiterhin konsequent verfolgen“.

Gelsenkirchen: Mitarbeiter haben Angst, Täter anzuzeigen

Im Jobcenter Gelsenkirchen geht man einen ähnlichen Weg, stößt dabei aber auf Schwierigkeiten. „Viele Mitarbeitende sehen von einer Strafanzeige ab, da sie Sorge haben, den Kunden vor Gericht erneut zu begegnen und dass ihre private Anschrift durch Akteneinsicht der gegnerischen Partei bekannt wird“, so Jobcenter-Sprecherin Anke Schürmann-Rupp zu FOCUS online.

Die bittere Folge: In diesem Jahr wurden gerade mal zwei Strafanzeigen gegen Jobcenter-Krawalleure gestellt. Dabei registrierte die Behörde in Gelsenkirchen allein bis Mitte November dieses Jahres 44 Vorkommnisse wie Bedrohungen und Beleidigungen, rund 16 Prozent mehr als im gesamten vergangenen Jahr (38 Fälle). Die Behördenleitung sprach 21 Hausverbote aus – ein neuer Höchststand seit dem Jahr 2019. Zudem gab es mehrere Fälle von Vandalismus. Anke Schürmann-Rupp spricht von einem „besorgniserregenden Phänomen“.

Über 100.000 Euro Schaden: Gewaltwelle in Gera

Das Jobcenter Gera (Thüringen) sieht sich in diesem Jahr einer regelrechten Gewaltwelle ausgesetzt. So zerstörten unbekannte Täter Ende Oktober in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Briefkastenanlage des Jobcenters Gera und der Agentur für Arbeit Thüringen Ost, die im selben Gebäude sitzen. Auch wurden die gläserne Eingangstür mit einem großen Stein zertrümmert und sechs Fensterscheiben im Erdgeschoss demoliert. Zuvor waren fünf Dienstfahrzeuge zerstört worden. Schaden: mehr als 100.000 Euro. 

Schon bis Anfang August 2025 musste die Behörde unter ihrem Chef Enrico Vogel acht Strafanträge bei der Staatsanwaltschaft stellen und gegen sechs Personen Hausverbote verhängen. „In zwei Fällen habe ich die betroffenen Bürgergeld-Empfänger schriftlich aufgefordert, ihre verbalen Attacken auf unsere Mitarbeiter zu unterlassen“, so Vogel zu FOCUS online.

E-Mail mit Morddrohung: „Tod durch den Strang“

In Gera wurden mehrere Sachbearbeiter und der Jobcenter-Chef selbst zum Ziel schwerster verbaler Entgleisungen. So schrieb ein Mann, dem die Behörde das Bürgergeld gestrichen hatte: 

„Ihr alle könnt Euch aufhängen und ich will davon dann die Videoclips fürs tolle Facebook… Der Jobcenter-Gera-Geschäftsführer Enrico Vogel ist ein Dreckschwein!!! Der wird mich kennenlernen!!! Macht Suizid oder bringt Euch gegenseitig um!!!“

In der Betreffzeile der E-Mail stand: „Death by hanging“ – übersetzt „Tod durch den Strang“.