Plötzlich ist das Unbehagen da. An einem Samstagmittag steht Yessica am Bahnhof in Neumünster und wartet auf Freunde. Zu ihrer Linken grölen drei Jugendliche etwas in einer Fremdsprache und heben die Hände, zu ihrer Rechten kommt ein Vierter und schließt sich der Gruppe an.
Die zuvor lockere Körperhaltung der 39-Jährigen, die ihren Nachnamen lieber nicht nennen will, wirkt jetzt deutlich angespannter, auch wenn die Situation selbst wenig Bedrohung ausstrahlt. „Wäre ich hier alleine, würde ich jetzt weggehen“, sagt die Wartende dem Reporter: „Sie sind vom Temperament lauter. Das ist schon wieder unangenehm.“ Ohnehin gucke sie inzwischen mehr nach rechts und links.
Gewalt und Kriminalität in deutscher Durchschnittsstadt
Mit dem mulmigen Gefühl ist Yessica in Neumünster nicht allein. Nach mehreren aufsehenerregenden Straftaten ist das Sicherheitsgefühl vieler Bewohner erodiert. Ein Auszug der Polizeimeldungen im September: Drogendealer im Bahnhof verhaftet, Öffentlichkeitsfahndung nach Sexualdelikten, unter anderem im Bahnhof Neumünster, schlafender Mann im Bahnhof bestohlen, Polizeieinsatz nach Auseinandersetzung, Streit in der Innenstadt, Fahndungserfolg nach Messerstecherei, Tötungsdelikt. Alles im öffentlichen Raum.
Und es geht hier nicht um deutschlandweit berüchtigte Orte wie Berlin Alexanderplatz oder das Frankfurter Bahnhofsviertel. Es geht um den Bahnhof in Neumünster, einer ganz normalen deutschen Durchschnittsstadt mit rund 80.000 Einwohnern.
Polizei richtet Kontrollbereich ein
Die Meldungen haben bei Yessica Eindruck hinterlassen. „Die Gewalttaten haben sehr zugenommen“, sagt sie: „Man kriegt schon Angstzustände, geht zur Arbeit und denkt: ‚Hoffentlich folgt mir keiner.‘ Das ist kein gutes Gefühl.“
Seit Oktober reagiert die Polizei mit einem Kontrollbereich rund um den Bahnhof Neumünster. Bedeutet: Die Beamten haben jetzt die rechtlichen Rahmenbedingungen für anlasslose Kontrollen und dürfen zum Beispiel auch Rucksäcke durchsuchen. FOCUS online hat am Vorabend die beiden Polizeikommissare Inken Peters und Fynn Ballke bei einer Streife begleitet. „Die Polizei soll besonders sichtbar sein: für ein besseres Sicherheitsgefühl und als Ansprechpartner. Außerdem schauen wir, wer innerhalb des eingerichteten Kontrollortes unterwegs ist“, sagt Ballke.
Für die Polizei ist die Situation nicht ganz neu. Bereits 2023 beschloss die Stadt, über die Sommermonate eine Videoüberwachung im innerstädtischen Rencks Park einzurichten. Auch hier hatte es mehrere Straftaten gegeben. Die Erfahrungen seitdem beschreibt Ballke als positiv.
Neue Anlaufstelle für Bürger
Ob in der Innenstadt die Gewalt tatsächlich zunimmt, wird die Statistik zeigen müssen. „Im vergangenen Dreivierteljahr ist im Innenstadtbereich die Anzahl der bekannt gewordenen Straftaten nicht signifikant angestiegen“, so Ballkes Eindruck. Doch wenn das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung nach mehreren öffentlichkeitswirksamen Ereignissen leide, bestehe für die Polizei Handlungsbedarf. Neben den vermehrten Streifen haben Landes- und Bundespolizei Anfang November eine neue Innenstadtwache eingerichtet. Auf dem Bahnhofsvorplatz sind die Beamten künftig in einem ehemaligen Imbiss ansprechbar.
Beim Rundgang achten Peters und Ballke auf alles, was ihnen auffällt. Eine Frau stellt ihr Auto regelwidrig auf dem Fußweg ab und erhält eine freundliche Ermahnung. So ergeht es auch anderen Fahrern, die beim Halten den Motor laufen lassen. Ein Mann schiebt einen E-Scooter und kann zunächst nicht so recht erklären, wem das Gefährt gehört – ein Freund löst nach einigen Minuten auf.
Immer wieder grüßen die beiden Beamten die vorbeigehenden Fußgänger und werden freundlich gegrüßt. Ein Vater spielt mit seinem Sohn eine Festnahme nach. Peters und Ballke lachen amüsiert: „Schönen Abend!“ Ein anderer Mann gibt den beiden einen Tipp, wo in Neumünster mit Drogen gehandelt wird – da zückt Ballke prompt sein Notizbuch. „Wir verbreiten das unter den Kollegen und werden uns das mal anschauen“, erklärt Peters, und Ballke betont die Wichtigkeit solcher Gespräche: „Ohne Hinweise kriegen wir nichts mit.“ Auch dafür bietet sich die Streife gut an.
Polizeipräsenz zeigt doppelte Wirkung
Beim Gang durch ein Parkgelände zeigt sich ein weiterer Vorteil. „Man sieht bei den Streifen oft die gleichen Personen“, sagt Peters. Das helfe den Beamten, die Situation besser einzuschätzen. Hinzu kommt für Ballke: „Man fühlt sich als Ganove vielleicht nicht mehr so sicher in seinen dunklen Ecken.“ Und diese dunklen Ecken steuert das Duo gezielt an.
In einem unbeleuchteten Pavillon steht zum Beispiel ein junger Mann mit schlechten Deutschkenntnissen und raucht. Er hat geringe Mengen Cannabis dabei; inzwischen ist das erlaubt. Als Händler ist er der Polizei nicht bekannt, also kein Problem. „Wenn er sich eine ruhige Ecke sucht, wie im Gesetz beschrieben, ist uns egal, wenn er konsumiert“, beschreibt Ballke die neue Linie der Polizei.
Im Parkhaus nebenan sieht Peters eine weitere Gestalt, mit Kapuze umhüllt. Der junge Mann beschwert sich zunächst in gebrochenem Deutsch, dass er ständig kontrolliert werde. „Ich sitze hier nur“, sagt er. Ballke weist auf den Kontrollort hin und betont: „Sie haben nichts falsch gemacht.“ Zumindest nicht heute. Bei der Personenkontrolle stellt sich heraus: Der Mann ist bereits als Cannabishändler aufgefallen und hat auch heute geringe Mengen dabei. Doch dieses Mal stellt die Polizei nichts Strafbares fest. „Selber rauchen ist okay, aber nicht verkaufen“, mahnt Ballke daher zum Abschied.
In den zwei Stunden am Freitagabend wirkt Neumünster wie ein typisches Mittelzentrum. Es gibt die dunklen Ecken und Gestalten, die bei jedem erst einmal Unbehagen auslösen. Aber das Bild wirkt nicht wie das einer Stadt, die in Gewalt und Chaos versinkt. Blumenhändlerin Silke Rohr führt das auch auf die neuerliche Polizeipräsenz zurück. „Es ist ruhiger geworden. Wir haben hier schon Schlimmes erlebt“, sagt sie. Jugendbanden, die klauen, Drogenhandel, Schlägereien bis hin zu der verheerenden Schießerei: „Es gab Zeiten, da hatten wir richtig Angst hier.“
Neumünsters eigentliches Stadtbild-Problem
Passantin Yessica bestätigt den Eindruck, dass sich das Stadtbild in Neumünster gewandelt hat. Das liegt allerdings nur zu einem Teil an den Menschen, die in den vergangenen Jahren zugezogen sind. „Die Innenstadt wird immer leerer. Es ist ein Kommen und Gehen, weniger Läden halten sich“, sagt sie. Aus ihrer Kindheit hat sie die schönen Läden in Erinnerung, in denen sie mit Freundinnen stöbern ging. Diese Auswahl fehlt heute. Doch ihren 15-jährigen Sohn würde sie nicht mehr alleine in die Stadt lassen.
Blumenhändlerin Silke Rohr bestätigt das mulmige Gefühl. „Abends möchte ich hier nicht alleine laufen“, sagt sie und nennt zum Beispiel den Bahnhofstunnel als Brennpunkt: „Das hat mich früher nie gestört.“
Für die beiden Frauen hat Friedrich Merz recht, wenn er sagt: Im Stadtbild muss sich etwas ändern. Nur würden mehr Abschiebungen das Problem lösen? „Ohne Ausländer? Wer soll dann arbeiten?“, fragt Rohr. Sie habe selbst Kontakt mit gut integrierten Flüchtlingen. Außerdem gebe es auch noch andere Problemgruppen in der Stadt. Passantin Yessica findet zwar, dass Deutschland in den vergangenen Jahren zu viele Menschen aufgenommen hat, zeigt aber keine grundsätzliche Ablehnung: „Die Welt hat sich einfach verändert. Es ist klar, dass wir helfen, unterstützen und Flüchtlinge aufnehmen.“ Gleichwohl sei es für sie problematisch, wenn sie als alleinerziehende Mutter jetzt mit ihnen um den knappen bezahlbaren Wohnraum konkurrieren müsse – weil die Politik nicht die notwendigen Weichen stellt.
Innenstadtbelebung bleibt Mammutaufgabe
Die Folgen spürt auch Kiosk-Filialleiter Lars Franzisket. „Viele, speziell Ältere, trauen sich nicht mehr her. Das beeinträchtigt das Geschäft“, sagt er, der selbst zehn Jahre als Sicherheitsmann in einer Flüchtlingsunterkunft gearbeitet hat. Wenn er morgens den Laden aufschließe, lägen noch immer Junkies vor der Tür, daran habe auch die Polizeipräsenz tagsüber nichts geändert. Auch er sieht, dass die Attraktivität der Innenstadt deutlich nachgelassen hat. „Richtige Einkaufsmöglichkeiten gibt es nicht mehr“, sagt er und wünscht sich, dass „alles ein bisschen ordentlicher wird“.
Bei der Frage nach dem Wie kommen alle Gesprächspartner ins Straucheln. „Die Geschäfte sind weg und kommen nicht wieder. Die Mieten sind zu teuer“, sagt Franzisket. Der nächste Schnellimbiss, Friseur, Barbier oder Beautysalon wird die Innenstadt nicht beleben. Der Leerstand ohne sie aber genauso wenig. „Die Läden fehlen. Es gibt keinen Anlaufpunkt, irgendwas Schönes, Nettes“, beschreibt Passantin Yessica. Blumenhändlerin Silke Rohr beobachtet, dass sich das einstige Stadtleben weitgehend in das bahnhofsnahe Einkaufszentrum verlagert hat. „Es ist selten, dass ich durch die Innenstadt gehe – da gibt es ja nichts mehr“, sagt sie.
Neumünster steckt in einem Teufelskreis
Nach den Gesprächen und Beobachtungen drängt sich der Eindruck auf, dass Neumünster in einem Teufelskreis steckt – ein Beispiel für viele ähnliche Städte im Land. Mangels Angeboten bleiben die Menschen fern. Mangels Publikums kommen keine neuen Angebote. Im Stadtbild präsent bleiben diejenigen, die keine anderen Anlaufpunkte haben; ebenso wie die Nachrichten von Gewalt und Verbrechen.
Immerhin einen Lichtblick sehen die Neumünsteraner. „Es ist schön, dass der Weihnachtsmarkt kommt. Da ist Innenstadtleben“, sagt Yessica. Dass daraus der Normalfall wird, so dass auch das Gegröle von Jugendlichen kein Unbehagen mehr bereitet, bleibt die große Herausforderung. Die wahrgenommene Beruhigung infolge der erhöhten Polizeipräsenz könnte ein erster Schritt sein.