"Jetzt alle töten": Jobcenter-Chef liest Hassmails wegen Bürgergeld vor
Er ist der „Bürgergeld-Meister“ von Gera: Enrico Vogel, 61, leitet seit mehr als 20 Jahren das Jobcenter der ostthüringischen Stadt. Der gelernte Wirtschaftskaufmann und studierte Finanzökonom ist verheiratet und hat drei Kinder.
Bis zum Untergang der DDR arbeitete er im Volkseigenen Betrieb (VEB) Elektronik Gera, 1990 wechselte er ins Arbeitsamt. Seit dem 1. Januar 2005 ist er Geschäftsführer des Jobcenters und dort verantwortlich für rund 150 Mitarbeiter.
FOCUS online: Herr Vogel, gibt es Bürgergeld-Empfänger, die trotz der finanziellen Hilfen auf den deutschen Staat schimpfen?
Enrico Vogel: Natürlich kenne ich solche Fälle. Besonders die, in denen die Unzufriedenheit der Menschen in Beleidigungen und Bedrohungen umschlägt. Die landen regelmäßig auf meinem Tisch.
Regelmäßig? Was soll das heißen?
Vogel: Vor zehn, fünfzehn Jahren waren solche Auswüchse absolute Ausnahmen. Mittlerweile gehören die Angriffe fast schon zu unserem Alltag. Das ist traurig, aber wahr. Wir schauen uns die Fälle genau an und entscheiden, wie wir damit umgehen.
Wie gehen Sie damit um?
Vogel: Dieses Jahr haben wir schon acht Strafanträge bei der Staatsanwaltschaft gestellt. Außerdem haben wir gegen sechs Personen Hausverbote ausgesprochen. In zwei Fällen habe ich die betroffenen Bürgergeld-Empfänger schriftlich aufgefordert, ihre verbalen Attacken auf unsere Mitarbeiter zu unterlassen.
Schon acht Mal haben Sie die Staatsanwaltschaft eingeschaltet? Warum?
Vogel: Übelste Beschimpfungen, Gewalt- und Tötungsfantasien, Morddrohungen. Ich könnte Ihnen aus ein paar E-Mails zitieren. Aber das ist starker Tobak. In einer Betreffzeile stand: „Death by hanging“ – übersetzt „Tod durch den Strang“.
Lesen Sie bitte vor!
Vogel: Am 3. Juli schrieb mir ein Mann, dem wir das Bürgergeld gestrichen hatten:
„Ihr alle könnt Euch aufhängen und ich will davon dann die Videoclips fürs tolle Facebook… Der Jobcenter-Gera-Geschäftsführer Enrico Vogel ist ein Dreckschwein!!! Der wird mich kennenlernen!!! Macht Suizid oder bringt Euch gegenseitig um!!!“
Widerlich. Haben Sie noch etwas?
Vogel: Eine Mitarbeiterin des Jobcenters erhielt vor kurzem diese Nachricht:
„Dein beschissenes, wertloses Leben als Jobcenter-Leistungsfotze ist doch sicherlich voll nur die Oberscheiße. Mach Selbstmord und hänge dich auf…“
Wie bitte?
Vogel: Ein anderes Schreiben an uns:
„Ich möchte diese Leute jetzt alle töten…! Ich schreibe sinnlose Strafanzeigen, anstatt damit zu beginnen, diese Leute wie Rambo alle nacheinander umzubringen...“

Okay, es reicht.
Vogel: Diese Zitate sind nur kleine Ausschnitte. Wir bekommen etliche Drohungen. Nicht alle sind so deutlich, aber in der Summe ist das schon erschreckend und absolut inakzeptabel. An die Staatsanwaltschaft geben wir nur die krassesten Fälle. Fälle, in denen sich unsere Mitarbeiter tatsächlich bedroht fühlen.
Wie schützen Sie die Jobcenter-Angestellten, darunter junge Frauen, vor aggressiven Kunden?
Vogel: Zum einen haben wir einen Sicherheitsdienst im Haus, der in bestimmten Situationen eingreift. Zum anderen verfügen alle Mitarbeiter über Notfallknöpfe, die sie in Bedrohungslagen drücken können. Dann werden die Kollegen in den umliegenden Büros alarmiert und können sofort zu Hilfe kommen. Außerdem haben wir alle Arbeitsplätze so gestaltet, dass niemand gefangen ist, wenn es kritisch wird. Es gibt immer einer offene Fluchtmöglichkeit.
Ist es nicht Wahnsinn, dass Jobcenter-Mitarbeiter in ständiger Angst leben müssen, verbal oder körperlich angegriffen zu werden?
Vogel: Natürlich. Aber dieses Schicksal teilen wir uns mit vielen anderen. Notärzte, Sanitäter, Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Busfahrer, Bahnbedienstete, Behördenmitarbeiter – sie alle sind solchen Risiken ausgesetzt. Von unseren Polizisten ganz zu schweigen. Die Tendenz zur Gewalt hat in den vergangenen Jahren spürbar zugenommen. Auch gegen Jobcenter-Mitarbeiter.
Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Vogel: Das will ich jetzt gar nicht kommentieren. Und es ist auch nicht so, dass jeder Kunde, der unser Jobcenter betritt, pöbelt, droht oder beleidigt. Manchmal loben uns die Leute auch und bedanken sich. Aber eines möchte ich klarstellen: Hinter allen schweren Delikten, die wir an die Staatsanwaltschaft gegeben haben, stecken Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, also Deutsche. Das gilt auch bei den Hausverboten.
Die Aggressionen gehen also nicht zuerst von ausländischen Bürgergeld-Empfängern aus?
Vogel: Nein. Die Zuwanderer sind nicht unser Problem. Nicht beim Thema Gewalt und auch nicht in anderer Hinsicht. Einigen Menschen mag das jetzt komisch vorkommen, aber ich sage es ganz deutlich: Für den Arbeitsmarkt in Gera sind Zuwanderer aus den großen Asylherkunftsländern und Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine eine große Bereicherung.

Warum?
Vogel: Ohne die zugewanderten Personen hätten wir große Probleme, Arbeitsstellen in unserer Stadt zu besetzen. Vor dem Eintreffen der großen Flüchtlingsgruppen ab 2015 war Gera am Ausbluten. Junge Menschen haben uns in Scharen verlassen, weil sie hier keine beruflichen Chancen hatten. Die Stadt war überaltert und eigentlich ohne Perspektive. Das hat sich geändert.
Zuwanderer retten Gera?
Vogel: Die Zuwanderer sind nicht nur gut für den Arbeitsmarkt, sondern auch für die Kaufkraft in dieser Stadt, für das soziale Gefüge. Uns haben vor allem junge Frauen mit Kindern gefehlt. Die sind jetzt da, vor allem aus der Ukraine. Der Bevölkerungsschwund in Gera ist gestoppt worden. Für die Stadt ist Zuwanderung strategisch gesehen ein enormer Gewinn.
Aber was bringen uns Zuwanderer, die von Bürgergeld leben? Wir brauchen doch Leute, die unsere Wirtschaft ankurbeln, vor allem gut qualifizierte Fachkräfte, oder nicht?
Vogel: Das stimmt, und die kriegen wir ja auch zunehmend. Schauen Sie sich die Ukrainer an: Von den rund 300 Ukrainern in sozialversicherungspflichtigen Jobs sind 130 Fachkräfte und 50 Spezialisten beziehungsweise Experten. Viele arbeiten in Fertigungsberufen, im Gesundheitswesen und sogar in der Unternehmensführung.
Moment! Nur 300 Ukrainer arbeiten in sozialversicherungspflichtigen Jobs? Aktuell beziehen fast 2660 Menschen aus der Ukraine Bürgergeld, rund 1850 von ihnen gelten als erwerbsfähig. Wie erklären Sie das Missverhältnis?
Vogel: Wer bei uns eine gute, qualifizierte Arbeit aufnehmen will, muss Deutsch sprechen. Im Moment können das die wenigsten Ukrainer. Viele von ihnen lernen gerade Deutsch und gehen deshalb noch keiner Arbeit nach. Wenn sie die Integrations- und Sprachkurse erfolgreich beendet haben, wird sich das schnell ändern.
Wie sieht es bei Zuwanderern aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak aus?
Vogel: Aktuell sind in Gera 1713 Zuwanderer aus den acht größten Asylherkunftsländern sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Zahl der Fachkräfte und Experten ist mit knapp 350 tatsächlich überschaubar und im Vergleich zu den Ukrainern sehr gering. Die allermeisten dieser Personen arbeiten als Helfer, etwa in der Logistikbranche.
Haben Sie Hoffnung, dass die Zahl der Fachkräfte aus den Asylherkunftsländern steigt?
Vogel: Es muss uns als Gesellschaft gelingen, die Kinder der Zuwanderer so in unser System einzubinden, dass sie die Fachkräfte der Zukunft sind. Sollten wir das schaffen, wäre das ein großer Gewinn.
Davon sind wir weit entfernt.
Vogel: Derzeit überwiegen noch die Schwierigkeiten, da haben Sie völlig recht. Es gibt eine Menge Probleme bei der Integration, bei der Sprache, in den Schulen, auch bei der Kriminalität. Das kann man nicht leugnen oder wegdiskutieren. Da liegen noch große Aufgaben vor uns. Aber wir müssen diese Phase überstehen. Danach werden wir alle profitieren.

In einigen Großstädten wurden Fälle von organisiertem, bandmäßigem Betrug beim Bürgergeld aufgedeckt. Gibt es so etwas bei Ihnen auch?
Vogel: So ein richtiger Knaller, den ich anonymisiert an meinem Stammtisch erzählen könnte? Nein! So etwas gibt es in Gera nicht, da sind wir zu sehr Provinz.
Naja, selbst eine Stadt wie Gera wird ihre Erfahrungen mit Tricksereien und Täuschungsmanövern beim Bürgergeld gemacht haben, oder?
Vogel: Die meisten Leute sind ehrlich. Aber es gibt eine relevante Gruppe von Leuten, die fahrlässig Fehler machen, etwa indem sie uns ihr Nebeneinkommen nicht rechtzeitig melden. Davon haben rund 1000 Fälle im Jahr. Die kommen in der Regel mit einem Bußgeld davon. Und dann gibt es noch eine kleine Gruppe von Personen, die in Täuschungsabsicht handeln.
Können Sie Beispiele nennen?
Vogel: Da reden wir über Urkundenfälschung oder verschwiegenes Vermögen. Manchmal werden auch Kinder angegeben, die gar nicht existieren oder für die man nicht sorgeberechtigt ist. Oder man gibt fälschlicherweise an, getrennt zu leben, um einen höheren Regelsatz zu bekommen. 2024 hatten wir davon insgesamt um die 30 Fälle, in diesem Jahr sind es schon 20.
Wie reagieren Sie darauf?
Vogel: Wenn es zu betrügerischen Handlungen im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen kommt, geben wir die Fälle an das zuständige Hauptzollamt ab. Bei den harten Betrugsdelikten schalten wir die Staatsanwaltschaft ein. Im vergangenen Jahr ist das 13 Mal passiert.
Verfügen Sie über eine spezielle Ermittlungsgruppe, die Betrüger aufspürt?
Vogel: Das Jobcenter ist keine Ermittlungsbehörde, auch keine Strafverfolgungsbehörde. Wir müssen nicht bei jedem Verdacht auf Leistungsmissbrauch vor den Wohnungen stehen. Wir haben andere Wege, Ungereimtheiten aufzuklären. Wir sind gut vernetzt mit anderen Stellen, mit der Familienkasse etwa oder mit der Ausländerbehörde. Unsere Kontroll- und Prüfmechanismen greifen.
Sie berichten von etlichen Regelverstößen. Warum hat das Jobcenter Gera dann im vergangenen Jahr lediglich gegen 84 Bürgergeld-Empfänger Sanktionen verhängt?
Vogel: Die Quote war vor Jahren noch deutlich höher. Das Problem ist: Wir brauchen endlich ein Instrument, das uns rechtssicher in die Lage versetzt, bestimmte Sanktionen verhängen zu können. Also eine klare Regelung, die besagt: Wenn ein Bürgergeld-Empfänger das und das anstellt, dann hat das für ihn die und die Konsequenzen. Das geht im Moment nur sehr bedingt.
Ein Beispiel?
Vogel: Nehmen Sie die Totalsanktionierung. Die Maßnahme wurde von der letzten Bundesregierung vollmundig angekündigt. In der Bevölkerung kam die Botschaft an: Wenn sich jemand einer Arbeitsaufnahme komplett verweigert, hat er keinen Anspruch auf Leistungen des Jobcenters. In der Praxis ist das schlichtweg nicht umsetzbar, da es viel zu viele Einschränkungen gibt. Selbst eine Leistungskürzung von 10 Prozent ist nur unter sehr strikten Auflagen möglich.

Warum ist Bürgergeld so ein Reizthema?
Vogel: Das Bürgergeld wird aus Steuermitteln finanziert. Und jeder Steuerzahler hat einen Anspruch darauf, dass mit seinem Geld vernünftig umgegangen wird. Ich halte es deshalb für völlig legitim, dass die Menschen ganz genau wissen wollen, welche Personen Bürgergeld bekommen, wie bedürftig sie sind, ob sie wirklich einen Anspruch darauf haben.
Genau das ist oft die Frage. Nicht wenige Menschen, die eigentlich arbeiten könnten, leben lieber von Bürgergeld, nach dem Prinzip: Arbeiten lohnt sich nicht.
Vogel: Ein kleiner Prozentsatz der Bürgergeldempfänger ist irgendwann falsch abgebogen. Diese Leute glauben, der Staat gebe ihnen ein bedingungsloses Grundeinkommen und sie müssten nichts dafür tun. Im Hinblick auf die gesamte Gruppe der Leistungsempfänger ist das jedoch nur ein sehr kleiner Teil.
Aber genau diese kleine Gruppe bestimmt in weiten Teilen die öffentliche Debatte. Sind die Faulpelze und Jobverweigerer schuld am schlechten Image des Bürgergelds?
Vogel: Im Leben ist es oftmals so, dass wenige schwarze Schafe die Farbe der ganzen Herde bestimmen. Und das Argument, Arbeit würde sich oftmals nicht lohnen, kann ich nicht nachvollziehen.
Das sehen die Betroffenen anders…
Vogel: Im Einzelfall kann es schon sein, dass jemand für sich privat eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellt und sagt: Für 300 Euro mehr im Monat stehe ich morgens nicht auf. Aber Arbeit ist mehr als Geld. Sie ist ein Wert an sich. Wer arbeitet, ist besser in die Gesellschaft integriert, hat ein anderes Selbstwertgefühl, sichert sich einen höheren Rentenanspruch, erhält oft eine bessere Versorgung im Krankheits- oder Pflegefall. Solche Dinge muss man mitdenken.
Die neue Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz (CDU) will den Kurs beim Bürgergeld drastisch verschärfen. Wie finden Sie das?
Vogel: Ich will das nicht werten. Grundsätzlich finde ich es richtig, dass der Gesetzgeber in regelmäßigen Abständen die Wirksamkeit seiner Instrumente überprüft. Das geschieht gerade. Nach einer längeren Phase, in der das Fördern eine große Rolle gespielt hat, scheint es nun wieder in Richtung Fordern zu gehen.
Was erhoffen Sie sich konkret?
Vogel: Wir brauchen keine politischen Sonntagsreden, keine Absichtserklärungen, die in der Bevölkerung hohe Erwartungen schüren und am Ende nur zu Frustrationen führen. Was wir als Verwaltung brauchen, sind klare gesetzliche Regelungen, die sich in der Praxis gut umsetzen lassen. Die haben wir im Moment nicht. Ich bin gespannt, was die neue Regierung ändert.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will, dass Ukrainer kein Bürgergeld mehr bekommen, sondern die geringeren Asylbewerberleistungen. Was halten Sie davon?
Vogel: Eine solche Entscheidung ist allein Sache des Gesetzgebers. Aus meiner Sicht ist es egal, aus welchem Topf die Ukrainer Geld erhalten. Die Frage ist nur, ob die anderen Systeme genauso gut in der Lage sind, Menschen aus der Ukraine in Arbeit und Ausbildung zu bekommen.