Verdienen Frauen wirklich mehr? Was hinter dem „Reverse Gender Pay Gap“ steckt

Anfang März verkündet die britische Boulevard-Zeitung Daily Mail eine Sensation, die auch viele Menschen in Deutschland besorgt: Die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen haben sich umgekehrt. "Reverse Gender Pay Gap" nennt die Zeitung dies: Frauen verdienten mehr als Männer.

Eine Gesellschaft, die traditionell männliche Werte eher belächelt als fördert, habe eine „Krise der Männlichkeit“ ausgelöst, schreibt die Daily Mail. „Statt Gleichheit zu schaffen“, zitiert die Zeitung die ehemalige Politikerin Miriam Cates, „haben wir junge Männer dafür bestraft, Männer zu sein.“ Ihre Karriechancen seien schlecht.

Die Nachricht betrifft Deutschland, weil auch hier einige Politiker seit langem von einer Krise der Männlichkeit sprechen. Nun fragen besorgte Eltern, Schüler und Studenten in sozialen Medien: Beraubt die gleiche Entwicklung in anderen Ländern angeblich Männer ihrer Karrierechancen, müssen Männer auch hier um ihre Zukunft zittern?

Das müssen sie nicht. Aber der Reihe nach.

Krise der Männlichkeit: In Deutschland gibt es sie angeblich schon lange

„Ich sage: Wir müssen unsere Männlichkeit wieder entdecken“, ruft der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke schon 2015 – zehn Jahre vor der Daily Mail – Besuchern eines AfD-Marsches in Erfurt zu. Unter dem Mantel der Gleichberechtigung habe eine "große Verschwulung" 80 Prozent der Männer zu Weicheiern und zehn Prozent zu verkrampften Machos gemacht, sagt er später in einem Interview. Männer seien die großen Verlierer der vergangenen Jahrzehnte. Ihre Krise gefährde das ganze Land. Viele AfD-Politiker behaupten ähnliches.

Bevor Eltern und junge Männer nun meinen, Höcke habe die angebliche Krise kommen gesehen: Die Geschichte der bedrohten Männlichkeit ist deutlich älter als die AfD. In praktisch allen westlichen Ländern behaupten einige Politiker ähnliches. Weil dies zuletzt auch die US-Regierung um Donald Trump öffentlichkeitswirksam tat, entsteht in Deutschland schnell der Eindruck: "Wenn es alle sagen, muss es stimmen." Warum es das nicht muss, erklärt ein Bestseller, den in Deutschland fast niemand kennt. 

„Lasst euch von dieser kaputten Kultur nicht einreden, dass ihr schlechte Menschen seid, nur weil ihr Männer seid, gern Witze erzählt, ein Bier mit Freunden trinkt oder einen Wettbewerbsgeist habt.“ US-Vizepräsident JD Vance

Die "Krise der Männlichkeit" ist ein Marketing-Trick

Im Jahr 2001 veröffentlicht der evangelische Autor John Eldredge einen Bestseller, der noch heute die Vorlage für die Erzählung von der Krise der Männlichkeit liefert. Gott sei ein Krieger und habe Männer in seinem Ebenbild erschaffen, schreibt der US-Amerikaner in "Wild at Heart" (dt.: "Der ungezähmte Mann"): Jeder Mann habe eine Schlacht zu schlagen und eine Schönheit zu retten. Weil die Gesellschaft diese natürlichen Triebe aber unterdrücke, ersetzten Männer sie unterbewusst durch zerstörerische Ersatzbefriedigungen: Alkohol, Gewalt, Pornografie. Deswegen fielen sie gesellschaftlich hinter Frauen zurück.

Klingt soweit wie Höcke und JD Vance. Ebenfalls ähnlich klingt die Lösung, die Eldredge den Menschen anbietet.

Männer sollen die Gesellschaft ignorieren, rät der Autor den über vier Millionen Lesern seines Buchs. Sie müssten zu sich selbst finden. Weil sie das aber nicht allein können, schon gar nicht in unserer Gesellschaft, brauchen sie Gott. Nur wer sich Gott verschreibt, findet sich selbst. Und dazu muss er ein Krieger sein.

Kritiker unterstellen Eldredge, er tausche ein Männerbild gegen ein anderes: Sieht er die Unterwerfung unter einen Stereotyp als Ursprung aller Männerprobleme, müsse er nicht den Stereotyp tauschen, sondern die Unterwerfung beenden: "Seid alle Krieger" sei genauso falsch wie "seid alle brav". Die Lösung laute: "Seid, wer ihr wollt." Vielleicht sei die Unterscheidung zwischen Kriegern und Braven dabei nicht einmal die wichtigste.

Weil Eldredge aber nur den Stereotyp tauscht, entdeckte er eine geniale Marketingstrategie:

  1. Er erfindet eine Bedrohung: Angeblich zerstört die Gesellschaft Männer.
  2. Er erfindet einen Retter: Glauben einige Männer an die erfundene Bedrohung, brauchen sie jemanden, der sie vor ihr beschützt. Diesen Retter liefert ihnen Eldredge.
  3. Der Retter kontrolliert die Männer: Weil ohne den Retter alles verloren ist, müssen die Männer tun, was der Retter verlangt. 

In Eldredges Fall ist der Retter Gott. Es könnte aber auch ein Politiker sein.

Der Marketing-Trick in Deutschland: Rechts wählen und schon klappt's mit der Freundin?

"Jeder dritte junge Mann hatte noch nie eine Freundin", sagt Maximilian Krah, AfD-Spitzenkandidat für die Wahl zum Europarlament 2024, in einem Tiktok-Video. "Du gehörst dazu? Schau keine Pornos! Wähl' nicht die Grünen! Geh raus an die frische Luft! Steh zu dir! Echte Männer sind rechts! Echte Männer haben Ideale! Echte Männer sind Patrioten! Dann klappt’s auch mit der Freundin!"

Mit Videos wie diesem, millionenfach gesehen und tausendfach geteilt, sicherte Krah der AfD bei der Europawahl im Osten die meisten Stimmen unter jungen Männern. 

Krah kopiert die Eldredge-Strategie. Gerade in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands finden Männer oft tatsächlich schwer eine Freundin: Wer studieren will, muss in oft weit entfernte Großstädte ziehen. Weil Frauen dies häufiger tun als Männer, leiden viele Gegenden unter Männerüberschuss. Nicht alle finden eine Partnerin.

Krah verkauft sich als Retter: "Sei rechts, und schon klappt's mit der Freundin." Wer Liebe will, müsse nur AfD wählen. Seine Version "echter" Männlichkeit löst alle Probleme, wie bei Eldredge.

Die Erzählungen vom Kampf gegen die Männlichkeit deuten tatsächliche Entwicklungen als Bedrohung von Männlichkeit um, urteilt Birgit Sauer von der Bundeszentrale für politische Bildung. In diesem Fall tut Krah dies mit dem Männerüberschuss ländlicher Gebiete. Er, die AfD und andere Populisten tun es aber auch mit wirtschaftlichen Abstiegsängsten und anderen Perspektivlosigkeiten. Immer liefern sie gleich die Täter mit, die hinter diesen angeblichen Entwicklungen stecken: Frauen, Feministen und Gleichstellungsbeauftragte; andere Parteien, andere Religionen und sowie alle anderen. 

"Die AfD politisiert diese Verunsicherungen." Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer in der Frankfurter Rundschau

Echte Probleme verdienen echte Lösungen

Der Marketing-Trick funktioniert, aber nur für die Politiker, die ihn nutzen: 

  • In den USA beschreiben sich heute rund ein Drittel aller Wähler als harte Trump-Anhänger. Vor der Wahl waren es nur ein Viertel. Die meisten neuen Trump-Fans: junge Männer.
  • In Russland wirbt Wladimir Putin, echte Männer zögen in den Krieg. "Die Jungs sind weg, die Männer sind geblieben", wirbt eine Anzeige. "Du bist ein echter Mann, also sei einer", wirbt eine andere.
  • In Deutschland erzielt die AfD unter jungen Männern ihre besten Ergebnisse.

Der Marketing-Trick löst die Probleme aber nicht. Bleiben wir bei den Gegenden, aus denen die Frauen wegziehen.

Lösungen, die die Altersarmut bei Frauen verringern, die Kinderbetreuung verbessern und die Pflege erleichtern (wichtige Gründe, warum Frauen weniger arbeiten), helfen allen. In unserer Gesellschaft kämpfen nicht Männer gegen Frauen. Sie sitzen im gleichen Boot. Es gewinnen alle oder keiner

Der Werbetrick von der Krise der Männlichkeit vertuscht das: Er behauptet, damit es einigen besser geht, müsse es anderen schlechter gehen. Das klingt logisch: Bekommt am Kaffeetisch eine Person ein größeres Stück vom Kuchen, muss eine andere Person ein kleineres bekommen. Die Politik funktioniert so aber nicht: Wie das Wirtschaftswachstum seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt, können wir den gesamten Kuchen vergrößern. Dann wachsen auch die Stücke für alle. Wächst das Stück des anderen, muss das für uns nicht schlecht sein.

Wer aber behauptet, es müsse immer jemand benachteiligt werden, damit es jemandem besser gehen könnte, vergrößert den Kuchen nicht. Damit schadet er allen. Echte Probleme, von strukturschwachen Landkreisen bis schlechteren Schulleistungen von Jungs, verdienen echte Lösungen statt Werbetricks.

Der Marketing-Trick ist leicht erkennbar

Wie wir es vermeiden, auf diesen Marketing-Trick hereinzufallen, zeigt wieder die Daily Mail. Diese übernimmt in ihrem Artikel über den vermeintlichen Reverse Gender Pay Gap, ohne die Argumentation eines britischen Thinktanks zu hinterfragen, der ebenfalls den Eldredge-Werbetrick versucht. Das hätte die Zeitung erkennen müssen: 

  1. Die Studie belegt ihre Aussage vom umgekehrten Gender-Pay-Gap nur mit einer Statistik, die das Medianeinkommen von Männern und Frauen zwischen 16 und 24 Jahren vergleicht: Zwei Kurven, die recht eng beieinander verlaufen und sich jüngst wieder kreuzen.
  2. Die Grafik lässt keine grundlegende Entwicklung erkennen. Zwei Linien verdeutlichen keine tiefen gesellschaftlichen Veränderungen. Womöglich kreuzen sie nächstes Jahr wieder zurück.
  3. Die Studie begründet nicht den Zusammenhang: Wieso soll ausgerechnet eine Krise der Männlichkeit die Gehaltsentwicklung junger Männer und Frauen bestimmen? Im Alter zwischen 16 und 24 gehen viele Menschen noch zur Schule oder studieren. Ihre Einkommen sagen wenig über die gesamte Gesellschaft aus.
  4. Die Daily Mail sucht keine Gegenargumente und blendet die vielen Statistiken aus, die auch für Großbritannien eindeutig belegen: Männer verdienen, auch bereinigt um Teilzeitarbeit und andere Einflüsse, weiter mehr als Frauen.

Wieder gilt: Natürlich erzielen Jungs in der Schule im Durchschnitt schlechtere Noten als Mädchen. 

Wer die Welt sehen will, wie sie ist, muss diese Fehler vermeiden. Verschiedene Quellen vergleichen, Gegenbeweise suchen, Zusammenhänge hinterfragen. 

Für Deutschland heißt das: Alle renommierten Studien zeigen, dass Frauen weiter weniger verdienen als Männer. Das gilt auch, wenn diese Studien Einflüsse wie Teilzeit und Kindererziehung herausrechnen. Leben ein Mann und eine Frau exakt das gleiche Leben - gleiche Ausbildung, gleiche Arbeitszeiten -, hat der Mann am Ende mehr Geld und die Frau leidet eher unter Altersarmut. Daran ändern auch Marketing-Tricks nichts. 

Ist das wirklich eine Umkehr? Die Einkommensentwicklung bei Männern und Frauen zwischen 16 und 24 im Median, wie sie die Daily Mail zitiert. Diese sehr enge und junge Zielgruppe sagt aber weniger über die Gesellschaft aus als Statistiken, die das gesamte Arbeitsleben abdecken.
Ist das wirklich eine Umkehr? Die Einkommensentwicklung bei Männern und Frauen zwischen 16 und 24 im Median, wie sie die Daily Mail zitiert. Diese sehr enge und junge Zielgruppe sagt aber weniger über die Gesellschaft aus als Statistiken, die das gesamte Arbeitsleben abdecken. Screenshot Daily Mail