Darmkrebs trifft auch Jüngere: Jetzt führt Deutschland die große Vorsorge-Debatte

Krebs frühzeitig zu entdecken, eröffnet die besten Chancen ihn zu heilen. Das zeigt sich etwa bei Darmkrebs immer wieder – auch bei jungen Menschen unter 50 Jahren. Doch wann ist es Zeit für die erste Vorsorgeuntersuchung? Darüber diskutiert die Fachwelt ebenso wie über die offiziellen Zahlen von Darmkrebs.

Darmexperte Markus Zimmermann, Chefarzt Allgemein- und Viszeralchirurgie der Schön Klinik Neustadt, gehört zu den Befürwortern eines frühen Screenings ab 45 Jahren und erläutert FOCUS online seine Argumente: „Obwohl Darmkrebs in erster Linie ältere Menschen betrifft, ist die Erkrankungsrate bei unter 50-Jährigen in den letzten Jahren deutlich gestiegen“, erklärt Zimmermann. In den USA wurde die Empfehlung für das erste Darmkrebs-Screening daher bereits von 50 auf 45 Jahre gesenkt

Tumoren wachsen in den späten 40ern unbemerkt

Zwar ist das absolute Erkrankungsrisiko unter 50 noch geringer als in höheren Altersgruppen. Aber eine Vorverlegung des Screening-Alters ist nach Einschätzung Zimmermanns gut begründet, angesichts des Trends zu frühbeginnendem Darmkrebs, sogenanntem Early-Onset-Colorectal-Cancer (EOCRC).

Der Hintergrund: Studien zeigen, dass bei 45- bis 49-Jährigen fast genauso häufig Darmtumoren oder fortgeschrittene Polypen entdeckt werden wie bei 50- bis 54-Jährigen. Eine US-Analyse habe zudem einen deutlichen Anstieg der Darmkrebsfälle von 49 auf 50 Jahre ergeben. 

„Dies deutet darauf hin, dass viele Tumoren in den späten 40ern unbemerkt wachsen, bis die reguläre Vorsorge mit 50 beginnt“, erläutert Zimmermann. „Ein früherer Beginn der Vorsorge, ab 45, erscheint daher medizinisch sinnvoll, um diese früh auftretenden Fälle rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln.“

Markus Zimmermann, Chefarzt Allgemein- und Viszeralchirurgie Schön Klinik Neustadt
Markus Zimmermann, Chefarzt Allgemein- und Viszeralchirurgie Schön Klinik Neustadt Schön Klinik Neustadt

Was die Darmkrebs-Zahlen der USA von denen in Deutschland unterscheidet

Genau hier hakt Alexander Katalinic ein. Der Fachmann ist Direktor des Institutes für Sozialmedizin und Epidemiologie und Instituts für Krebsepidemiologie der Universität Lübeck sowie Mitglied der AG Prävention der Nationalen Dekade gegen Krebs der Bundesregierung. Daher hat Katalinic sich mit vielen deutschen Studien zur Darmkrebsvorsorge beschäftigt.

„Eine undifferenzierte Empfehlung der Koloskopie auch für Jüngere, fraglich bis zu welchem Alter, halte ich nicht für sinnvoll“, erklärt der Epidemiologe FOCUS online. Seiner Einschätzung nach gebe es keinen Grund, die Daten aus den USA auf Deutschland zu übertragen. 

Denn: In der noch aktuellen Veröffentlichung von Forscherin Claudia Santucci zur Sterblichkeit unter 50 Jahren zeigte sich zwar in den USA oder auch Mexiko tatsächlich ein Anstieg der Sterblichkeit für Darmkrebs. „In Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien sehen wir aber einen Rückgang“, unterstreicht Katalinic.

Darmkrebs in Zahlen
Die durchschnittliche jährliche Anzahl der Todesfälle durch Darmkrebs bei Männern und Frauen im Alter von 25 bis 49 Jahren wurde für die Zeiträume 2009–2011 und 2019–2021 erfasst. Die Tabellen enthalten außerdem die altersstandardisierten Sterberaten pro 100.000 Einwohner sowie die prozentualen Veränderungen zwischen den beiden Zeiträumen mit den entsprechenden 95%-Konfidenzintervallen. Die Abbildung zeigt ein Ranking der Länder basierend auf der altersstandardisierten Sterberate für den Zeitraum 2019–2021. Oxford University Press

Was für die Darmspiegelung ab 45 Jahren spricht

In Deutschland beginnt das gesetzliche Vorsorgeprogramm derzeit ab 50 Jahren. „Das organisierte Darmkrebs-Screening in Deutschland hat bereits beachtliche Erfolge erzielt. In den letzten zwei Jahrzehnten konnte die Darmkrebssterblichkeit dank der Vorsorge um etwa 40 Prozent gesenkt werden“, bilanziert Zimmermann.

Allerdings trete derzeit ein kleiner Prozentsatz (geschätzt rund fünf Prozent) der Darmkrebsfälle vor dem 50. Lebensjahr auf, also außerhalb des bisherigen Vorsorge-Alters. Diese Tumoren würden oft erst in fortgeschrittenen Stadien entdeckt, wie der Experte erklärt. Ein vorgezogener Screening-Beginn könnte daher weitere Todesfälle verhindern – angelehnt an die Leitlinien der USA. 

„Angesichts der Datenlage erscheint es sinnvoll, fünf Jahre früher anzusetzen“, sagt der Experte. „Für Menschen ohne familiäre Vorbelastung empfehle ich, die Vorsorge-Koloskopie mit 45 Jahren zu beginnen.“

Bestimmten Personengruppen legt er dies besonders nahe:

  • Vor allem Männer sollten frühzeitig zur Darmspiegelung gehen, da ihr Darmkrebsrisiko deutlich höher ist als das von Frauen. 

Auch Personen mit bestimmten Lebensgewohnheiten, 

  • wie starkem Übergewicht,
  • Rauchen oder
  • hohem Alkoholkonsum, sollten die Vorsorge konsequent wahrnehmen. 
  • Denn diese Faktoren erhöhen das Darmkrebsrisiko signifikant. 

    Alexander Katalinic Direktor des Institutes für Sozialmedizin und Epidemiologie & Institut für Krebsepidemiologie (Registerstelle des Krebsregister SH)
    Alexander Katalinic, Direktor des Institutes für Sozialmedizin und Epidemiologie & Institut für Krebsepidemiologie (Registerstelle des Krebsregister SH) Universität zu Lübeck

    Was gegen die Darmspiegelung ab 45 Jahren spricht – und für ab 50 Jahren

    Katalinic blickt hier mit der Nutzen-Schaden-Bewertung anders auf die Daten. In seinen Augen sei das extrem wichtig, weil sich ein Screening zu mehr als 99 Prozent an gesunde Menschen richte. Jedes Krebs-Screening habe einen potenziellen Schaden. 

    Bei der Darmspiegelung könne es beispielsweise zu einer Verletzung/Durchstoßung (Perforation) des Darms kommen (bis zu 0,5 bis 1 pro 1000 Koloskopien), die schwerwiegende Folgen haben kann. Auch sind Herz-Kreislaufbedingte Komplikationen in Folge der Sedierung als Nebenwirkung der Koloskopie bekannt.

    „Für das Darmkrebs-Screening gibt es gute Evidenz für diejenigen, die älter als 50 Jahre sind“, führt der Mediziner aus. „Für jüngere Altersklassen fehlt diese Bewertung, also dass die Nutzen-Schaden-Bewertung positiv ausfällt.“

    Mit hinein rechnet Katalinic auch ökonomische Faktoren. Die Kosten für Darmspiegelungen der unter 50-Jährigen lägen vermutlich sehr hoch, so dass andere medizinische Leistungen vorrangig zu priorisieren wären. 

    Was die Darmkrebssterblichkeit deutlicher senken würde

    Statt bei den unter 45-Jährigen das Darmkrebs-Screening zu forcieren, sollte seiner Meinung nach die Teilnahmerate am Koloskopie-Screening ab 50 Jahren gesteigert werden. Damit ließe sich die Darmkrebsmortalität deutlich(er) senken.

    „Ich persönlich würde für junge Menschen eine andere Strategie wählen“, erläutert der Fachmann. Die meisten Darmkrebsfälle unter ihnen seien familiär, also genetisch bedingt. Folgerichtig wäre hier eine Risikoadaption, mit der junge Menschen identifiziert werden können, die ein erhöhtes Darmkrebsrisiko haben. 

    Dazu gäbe es bereits erfolgversprechende Ansätze wie die FAKOR-Studie und andere Initiativen, in denen beispielsweise Familienmitglieder von Darmkrebserkrankten angesprochen werden.

    Trifft auch immer mehr Jüngere? Das bedeuten die Zahlen

    Der Experte ordnet weitere Zahlen ein:

    1. Häufigkeit von Darmkrebs

    Pro Jahr treten etwa 3000 Fälle unter 50 Jahren auf. Dem gegenüber stehen etwa 55.000 Fälle bei den über 50-Jährigen. 

    Das heißt: Darmkrebs unter 50 Jahren ist selten. Sprich von 100.000 Menschen erkranken pro Jahr etwa zehn neu an Darmkrebs. Bei 50 Jahren und älter liegt die Zahl 20-mal höher.

    2. Trends bei Darmkrebsfällen

    „Die berichteten Steigerungen in der Darmkrebsinzidenz sind zumindest für Deutschland mit gewisser Vorsicht zu sehen“, erläutert Katalinic. Erstens sei eine neue, sehr exakte Analyse auf Basis von Krebsregisterdaten auf dem DGHO-Kongress vorgestellt worden. Hier wurde ersichtlich, dass bei den 40-49-Jährigen nahezu konstante Trends vorliegen und es nur bei den ganz Jungen (20-39) geringe Steigerungsraten gibt. Dabei sollten aber nicht nur auf die Prozente geschaut werden, gibt der Krebsexperte zu bedenken und rechnet vor:

    „Nehmen wir mal an, dass die Fallzahl bei den 20- bis 29-jährigen um zehn Prozent angestiegen ist. Dann wären das statt circa 250 Fällen in Deutschland nun 275 Fälle. Für mich relativiert sich hier Relevanz des Anstiegs.“

    Wie Sie Darmkrebs vorbeugen können

    Vorsorge spielt eine entscheidende Rolle zur Früherkennung. Viele Risikofaktoren von Darmkrebs können wir zudem selbst beeinflussen. Der Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums rät:

    • Aktiv werden: Bewegen Sie sich regelmäßig – mindestens eine halbe Stunde täglich.
    • Gesund ernähren: Nehmen Sie ausreichend Ballaststoffe zu sich, beispielsweise aus Getreideprodukten, Hülsenfrüchten und Gemüse. Essen Sie wenig rotes Fleisch und wenig verarbeitete Fleischprodukte wie etwa Wurst.
    • Übergewicht vermeiden: Werden Sie überflüssige Kilos los.
    • Auf Zigaretten verzichten: Rauchen Sie nicht.
    • Auf Alkohol verzichten: Trinken Sie Alkohol nur in Maßen.

    Wann Sie zur Darmkrebs-Vorsorge gehen sollten

    Es gibt verschiedene Untersuchungsmethoden, um Darmkrebs(-vorstufen) zu erkennen, wie die Felix Burda Stiftung erklärt. Die sicherste Methode ist die Darmspiegelung, die Koloskopie. Sie wird Männern und Frauen ab 50 Jahren empfohlen.

    Wenn aufgrund von Darmkrebs in der Familie oder einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung ein erhöhtes Risiko vorliegt, sollten Sie ihren Darm wesentlich früher checken lassen: Bei Darmkrebs in der Familie spätestens mit 40 bis 45 Jahren. Ob Sie ein erhöhtes Risiko haben, lesen Sie hier.

    Die Felix Burda Stiftung gehört wie FOCUS online zu Hubert Burda Media.