Experten erklären - Falls Putin wirklich Nato-Gebiet angreift: Das sind Europas große Armee-Probleme

Nachdem Wladimir Putin am vergangenen Dienstag US-Präsident Donald Trump seine Bedingungen für eine Waffenruhe in der Ukraine unterbreitet hatte, freute sich in Moskau einer mal wieder ganz besonders: Ex-Kremlchef Dmitri Medwedew.

Endlich säßen nur noch die beiden Großmächte im „Esszimmer“, schrieb Medwedew hämisch auf der Social-Media-Plattform X. Die Ukraine und andere europäische Staaten verglich er mit kulinarischen Gerichten, die es nun zu verspeisen gelte. „Guten Appetit!“, so der 59-Jährige wörtlich.

Nun ist es nicht das erste Mal, dass der Ukraine-Hasser Medwedew sich in ebenso zynischen wie überzogenen Schimpftiraden ergeht. In der Vergangenheit drohte er mal mit Atomschlägen, mal mit dem Dritten Weltkrieg. Und: Er ist zwar Vize-Chef des russischen Sicherheitsrats, spricht aber keinesfalls offiziell für den Kreml.

Dennoch untermauern seine Worte ein Bedrohungsszenario, das spätestens seit dem Beginn von Trumps Appeasement gegenüber Moskau viele umtreibt: Könnte Russland – wenn es mit der Ukraine durch ist – als Nächstes einen europäischen Nato-Staat angreifen?

Zwei Experten erklären, was Europa dem entgegenzusetzen hätte – und wo dringend Nachholbedarf besteht.

1. Wie groß sind Europas Armeen?

Im vergangenen September befahl Putin per Dekret, die Anzahl aktiver russischer Soldaten auf 1,5 Millionen zu erhöhen. Es war die bereits dritte Vergrößerung der eigenen Armee seit Beginn der Vollinvasion in die Ukraine im Februar 2022.

Alle europäischen Nationalstaaten kommen zusammen auf rund 1,9 Millionen aktive Soldatinnen und Soldaten, Reservistinnen und Reservisten werden also nicht mitgezählt. Das sieht im Vergleich erstmal gut aus – könnte man denken. Doch der Schein trügt, sagt Militärexperte Gustav Gressel dem Tagesspiegel.

  • Gustav C. Gressel ist Experte für Osteuropa, Sicherheitspolitik, Militärstrategien. Er war bis 2024 Forscher am European Council on Foreign Relations

Wirft man einen genaueren Blick auf die Zahlen, fällt auf: Die mit Abstand größte europäische Armee hat die Türkei mit mehr als 355.000 aktiven Soldaten. Ein gutes Stück abgeschlagen folgen Frankreich mit rund 200.000, Deutschland mit knapp 180.000 und Polen mit gut 160.000 Militärdienstleistenden.

Die Türkei jedoch als Garant europäischer Sicherheit zu betrachten, wäre fahrlässig, meint Gressel: „Die Türkei hat zwar mit weitem Abstand die größte Nato-Armee jenseits der USA, aber wird sie im Falle einer Konfrontation mit Russland die Nato retten? Wenn die USA nicht mitmachen? Das ist sehr unwahrscheinlich.“

Zudem seien die türkischen Streitkräfte nicht verlegungsfähig, fügt der Experte hinzu. „Sie sind dafür ausgelegt, in den und um die eigenen Staatsgrenzen zu kämpfen. Wenn es im Baltikum kracht, sind sie weit weg.“

2. Woran fehlt es Europa?

Auf dem Papier mag die Lage nicht allzu dramatisch wirken, erläutert Gressel – auch mit Blick auf Kampfpanzer, Jets und weiteres Gerät nicht. Doch die Hauptherausforderung der Europäer seien die praktische Einsatzbereitschaft und Kampffähigkeit: „Viele Verbände müssen erst in Material und Personal ergänzt werden, um in den Einsatz geschickt werden zu können“, sagt er. „Das braucht Zeit.“

Das sei bei den russischen Streitkräften zu Beginn der Vollinvasion auch nicht anders gewesen, führt Gressel aus. "Sie gingen mit 190.000 von damals 880.000 Mann in den Krieg. Mittlerweile sind mehr als drei Jahre vergangen, und die Zahl der kämpfenden Russen hat sich deutlich erhöht. Schätzungen zufolge waren es im Sommer 2024 rund 650.000 Mann.

Wie sieht es bei den Luftstreitkräften aus? Laut „Spiegel“-Recherchen verfügen die europäischen Nato-Staaten zusammen über 2334 Kampfflugzeuge – deutlich mehr als Russland mit 1387 Jets.

"Die Europäer hätten das Problem, dass, wenn der Krieg beginnt, sie erst am Anfang eines mühsamen Aufwuchsprozesses stehen" Gustav Gressel, Militärexperte

Doch auch hier sieht Gressel Probleme: „Bei den Luftstreitkräften kommt erschwerend hinzu, dass Europa zwar viele Kampfflugzeuge hat, diese aber nur zusammenwirken können, wenn die Amerikaner Führungsinfrastruktur und Munition zur Verfügung stellen“, sagt er.

„Viele kleine europäische Luftwaffen haben Training und Ausbildung zudem auf Luftpolizeiaufgaben beschränkt. Sie haben zwar Kampfflugzeuge, aber weder das Training noch die Ausrüstung, diese in komplexen Luftoperationen einzusetzen.“

Die russischen Luftstreitkräfte hingegen seien zwar deutlich kleiner, jedoch einheitlich geführt. „Und sie verfügen über genügend Munition“, sagt der Experte. „Die Europäer hätten das Problem, dass, wenn der Krieg beginnt, sie erst am Anfang eines mühsamen Aufwuchsprozesses stehen, während die Russen den schon hinter sich haben.“

3. Wie schnell kann aufgerüstet werden?

Angesichts der drohenden Gefahr aus Russland will die EU in den kommenden Jahren massiv aufrüsten. Bei ihrem Frühjahrsgipfel in dieser Woche erklärten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, dass Europa bis 2030 in der Lage sein müsse, selbstständig einen potenziellen russischen Angriff abzuwehren.

Laut einem Plan von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sollen in den kommenden vier Jahren 800 Milliarden Euro mobilisiert werden.

Derartige Aufrüstungsmaßnahmen sind nach Gressels Einschätzung auch dringend notwendig. Europa hinke nämlich auch in anderen militärischen Bereichen noch deutlich hinterher – etwa bei der Drohnenproduktion und -abwehr.

„In den ersten Kriegswochen wäre mit horrenden europäischen Verlusten zu rechnen“

Die Russen stellen pro Jahr mehr als eine Million sogenannter First-Person-View-Drohnen her, die mit speziellen Kameras ausgestattet sind und dem Drohnenpiloten eine Sicht aus der Ich-Perspektive ermöglichen, erklärt Gressel. Die Ukraine hat sich darauf in den vergangenen Kriegsjahren eingestellt, ist regelrecht zu einem europäischen Vorreiter bei der Produktion und beim Einsatz der unbemannten Flugkörper geworden.

Doch Gressel betont: „Jenseits der Ukraine ist man im Drohnenkrieg völlig ungeübt.“ In Europa gebe es einen deutlichen Mangel an Systemen elektronischer Kriegsführung ebenso wie an sogenannten Hardkill-Geräten, mithilfe derer feindliche Drohnen abgewehrt werden können. „Daher wäre in den ersten Kriegswochen mit horrenden europäischen Verlusten zu rechnen.“

Das werde sich im Laufe eines potenziellen Krieges zwar ausgleichen. „Nach den großen Verlusten der Anfangszeit wird man taktisch adaptieren. Und die Europäer werden wie die Ukrainer lernen, selbst massenhaft Drohnen zu bauen“, sagt Gressel. „Aber das braucht Zeit. Und dieser Zeitfaktor könnte die Russen überzeugen, lieber früher als später loszuschlagen.“

4. Wo könnte Russland zuschlagen?

In Alarmbereitschaft sind vor allem Russlands Nachbarn Finnland und Norwegen sowie die baltischen Staaten Estland und Lettland.

Finnland trat – ebenso wie Schweden – als Antwort auf Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine überhaupt erst in die Nato ein. Doch auch in Polen und Litauen, die an die russische Ostsee-Exklave Kaliningrad grenzen, sind längst historische Ängste wieder erwacht.

Wie aber könnte ein Angriff Moskaus auf Nato-Gebiet aussehen? „Es entsteht zuweilen der Eindruck, dass ein erneuter russischer Angriff zwingend zu einem regionalen bis großen europäischen Krieg führen würde“, sagt Fregattenkapitän Helge Adrians, der derzeit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik unter anderem zu Russlands Verteidigungspolitik forscht.

„Das muss aber nicht sein“, erklärt er. "Denkbar wären auch sogenannte local wars, also auf einen einzelnen Staat begrenzte Kampfhandlungen."

"Wir brauchen in erster Linie mehr Aufklärungsfähigkeiten – gerade vor dem Hintergrund, dass die USA in diesem Bereich als Partner wegfallen könnten" Helge Adrians, Fregattenkapitän und Militärexperte

Adrians fügt hinzu: „Die russische Regierung unter Wladimir Putin hat in der Vergangenheit oft Gelegenheiten ausgenutzt, die sich ihr geboten haben.“

Ein eindrückliches Beispiel hierfür sei die Besetzung der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim im Jahr 2014 gewesen, sagt Adrians: Damals schickte Moskau die berühmten „grünen Männchen“ – russische Soldaten ohne Abzeichen – vor, um die eigene Verantwortung zu verschleiern.

Was auf manche Beobachter damals noch nicht hochdramatisch gewirkt haben mag, endete nur wenige Wochen später in der Annexion der Krim. Es folgte ein jahrelanger Krieg in der Ostukraine – und schließlich Russlands Großinvasion ins Nachbarland.

Als größte Herausforderung für europäische Staaten sieht Adrians deshalb die Frage, wie sie solchen Überraschungen durch die russische Seite in Zukunft rechtzeitig entgegentreten können.

„Wie können wir verhindern, dass wir Russland Möglichkeiten bieten? Wie können wir bestimmte geostrategische wichtige Punkte bestmöglich verteidigen?“, fragt der Militärexperte – und gibt zumindest einen Teil der Antwort selbst.

„Wir brauchen in erster Linie mehr Aufklärungsfähigkeiten – gerade vor dem Hintergrund, dass die USA in diesem Bereich als Partner wegfallen könnten.“ Und: „Wir müssen ein gutes Frühwarnsystem etablieren. Nicht nur in Bezug auf die Aktivitäten von Landstreitkräften, sondern auch zur Luftverteidigung.“

Von Hannah Wagner