In diesem Alter ist Ihr Gehirn psychisch am leistungsfähigsten

Dem Älterwerden blicken viele Menschen mit Sorge entgegen. Sei es aufgrund schwindender Jugend oder des steigenden Krankheitsrisikos. 

Doch manchmal verhält es sich mit dem Altern wie mit manch gutem Wein: je älter, desto besser. Das beweist einmal mehr eine neue Studie der University of Western Australia, die nun in der Fachzeitschrift "Intelligence" erschien. Die Wissenschaftler haben untersucht, zu welchem Zeitpunkt im Leben die psychische Leistungsfähigkeit ihren Höhepunkt erreicht. Das Ergebnis: im Alter zwischen 55 und 60 Jahren. 

Zwar hatten vorherige Studien gezeigt, dass die fluide Intelligenz, also die Fähigkeit, logisch zu denken sowie Informationen zu erinnern und zu verarbeiten, bereits mit Anfang 20 abnimmt. "Betrachtet man jedoch mehr als nur die reine Rechenleistung, ergibt sich ein anderes Bild", sagte Gilles E. Gignac, einer der Studienhauptautoren, dem Nachrichtenportal "Science Alert". 

Forscher untersuchen, wann die geistige Leistungsfähigkeit im Leben am höchsten ist

In ihrer Studie haben Gignac und sein Team etablierte psychologische Merkmale analysiert, die über die Denkfähigkeit hinausgehen. Dabei handle es nicht um vorübergehende Zustände, sondern um dauerhafte Eigenschaften, deren Altersverläufe gut dokumentiert sind, sodass sie die Leistung in der realen Welt vorhersagen können.

Die Forscher identifizierten schließlich 16 psychologische Dimensionen, auf die diese Definition zutrifft. Darunter sind auch die "Big Five" der Persönlichkeitsmerkmale

  • Extraversion
  • Emotionale Stabilität
  • Gewissenhaftigkeit
  • Erfahrungsfreudigkeit
  • Verträglichkeit

Außerdem zählen folgende kognitive Kernfähigkeiten dazu:

  • Schlussfolgerung
  • Gedächtnisspanne
  • Verarbeitungsgeschwindigkeit
  • Kenntnisse
  • emotionale Intelligenz
  • finanzielle Kompetenz
  • moralisches Urteilsvermögen
  • kognitive Flexibilität
  • kognitive Empathie
  • Widerstandsfähigkeit gegenüber Versteckte-Kosten-Fallen (eine Haupt-Unterdimension der Entscheidungsfähigkeit)
  • Bedürfnis nach Erkenntnis (ein Motivationsmerkmal)

"Viele der Merkmale, die wir gemessen haben, erreichten ihren Höhepunkt viel später im Leben"

Um diese 16 Ebenen zu untersuchen, trugen die Forscher bereits bestehende, großangelegte Studien zusammen. Sie standardisierten diese auf eine gemeinsame Skala. Dadurch konnten sie direkte Vergleiche anstellen und darstellen, wie sich jedes Merkmal im Laufe des Lebens entwickelt.

Das Ergebnis: "Viele der Merkmale, die wir gemessen haben, erreichten ihren Höhepunkt viel später im Leben", erklärt Gignac. Demnach gipfelte die Gewissenhaftigkeit im Alter von 65 Jahren, emotionale Stabilität hingegen mit 75 Jahren.

Auch weniger bekannte Dimensionen wie das moralische Urteilsvermögen schienen erst im späteren Erwachsenenleben ihren Höhepunkt zu erreichen. Zudem zeigte sich, dass sich die Fähigkeit, kognitiven Verzerrungen zu widerstehen, also "mentalen Abkürzungen, die uns zu irrationalen oder weniger akkuraten Entscheidungen verleiten können", bis ins hohe Alter von über 80 Jahren weiter verbessern kann.

Bei der Kombination der altersabhängigen Verläufe aller 16 Dimensionen zu einem Index ergab sich schließlich ein herausstechendes Muster: "Die gesamte geistige Leistungsfähigkeit gipfelte zwischen 55 und 60 Jahren, ehe sie ab 65 Jahren abzunehmen begann", sagt Gignac. "Dieser Rückgang wurde ab einem Alter von 75 Jahren deutlicher, was vermuten lässt, dass sich die Abnahme der Leistungsfähigkeit im späteren Leben beschleunigen kann, wenn sie einmal eingesetzt hat."

Forscher: Arbeitgeber sollten Arbeitnehmer über 50 Jahre stärker berücksichtigen

Die Wissenschaftler betonen, ihre Studienergebnisse würden auch erklären, warum viele herausfordernde Führungspositionen in Wirtschaft, Politik und dem öffentlichen Leben oft von Menschen in ihren späten 50ern und frühen 60ern bekleidet werden. 

"Zahlreiche Fähigkeiten nehmen mit dem Alter ab, allerdings werden sie durch die Entwicklung anderer wichtiger Merkmale ausgeglichen. Zusammengenommen sorgen diese Stärken für ein besseres Urteilsvermögen und eine besonnene Entscheidungsfindung – Fähigkeiten, die in Führungspositionen von entscheidender Bedeutung sind", sagt Gignac.

Trotz dieser Erkenntnisse hätten in der Realität insbesondere ältere Arbeitnehmer im Bewerbungsprozess oft das Nachsehen. Viele Arbeitgeber empfinden das Einstellen von Über-50-Jährigen angesichts des nahenden Renteneintrittalters als Kurzzeitinvestition. Darüber hinaus gebe es in manchen Berufen, etwa bei Piloten oder Fluglotsen, nach oben hin Altersbeschränkungen. 

Blick auf die Lebensmitte sollte sich ändern

Das Alter sage aber per se nichts über die geistige Leistungsfähigkeit aus, argumentieren die Forscher. "Bewertungen und Assessments sollten sich also auf die tatsächlichen Fähigkeiten und Merkmale einer Person statt auf die altersbezogenen Annahmen konzentrieren."

Das Forscherteam plädiert daher für mehr altersinklusive Einstellungspraktiken – und verweist auf Größen der Wissenschaft, Musik und Technik, die erst in der zweiten Lebenshälfte mit ihrem Können brillierten. "Die Geschichte ist voll von Menschen, die ihre größten Durchbrüche erst weit nach dem Alter, das die Gesellschaft als 'Höhepunkt-Alter' bezeichnet, erreicht haben", sagt Gignac. "Vielleicht ist es Zeit, dass wir aufhören, die Lebensmittel als Countdown zu behandeln – und anfangen, sie als Höhepunkt anzusehen."