ZiNK in Kempten: hoher Bedarf, engagiertes Personal – aber keine Zukunft?
Etwa 350 Kinder mit neurologischen Erkrankungen werden im Zentrum für interdisziplinäre Neuropädiatrie Kempten (ZiNK) betreut. Nun soll es geschlossen werden.
Kempten – In einem Besprechungszimmer des ZiNK sitzen die 17-jährige Lilly Haller mit ihrer Mutter Heike, der achtjährige Elias Wölfle mit seiner Mutter Carolin und seiner Pflegekraft Carolin Gessel, sowie Caroline Rehm mit ihrer Mutter Nicky. Alle sind davon überzeugt, dass Dr. Andreas Sprinz 2015 hier etwas Einzigartiges geschaffen hat und betonen, dass dieses auf keinen Fall zu Ende gehen dürfe. Zurzeit deutet jedoch alles darauf hin, dass die Einrichtung schließen muss, weil eine geeignete Trägerschaft fehlt.
Unsichere Zukunft des ZiNK: Schließung hätte schwerwiegende Folgen
Nach dem plötzlichen Tod von Dr. Sprinz im August 2023 übernahm seine Frau, Brigitte Meier-Sprinz, im Rahmen der sogenannten Witwenquartale die Leitung. Diese Genehmigung läuft Ende Juni aus. Eine junge Ärztin wäre bereit, die ärztliche Leitung zu übernehmen, aber nur im Angestelltenverhältnis. Für einen großen Teil der etwa 350 Kinder und Jugendlichen sowie derer Familien, die im ZiNK versorgt werden, hätte die Schließung schwerwiegende Folgen. Betreut werden hier Kinder und Jugendliche aus dem ganzen Allgäu mit neurologischen Erkrankungen.
Die Kinder erfahren in der Einrichtung eine ganzheitliche Betreuung in familiärer Atmosphäre, heben alle hervor. „Hier wird Familie als Ganzes gesehen, Geschwister sind oft bei der Therapie dabei. Die Mädchen und Jungen haben zu den Teammitgliedern Vertrauen aufgebaut. Deswegen bringen sie Leistung und können sich weiterentwickeln“, sagt Carolin Wölfle. Sie habe anderswo oft erlebt, dass die Kinder nicht als ein Mensch, sondern als eine Diagnose wahrgenommen werden. Diese heißt im Falle von Elias „Wachkoma“. Sie müsse immer mit Videos und Fotos beweisen, dass er Gefühle zeigen und mit seiner Mimik kommunizieren könne. Außer daheim habe sich Elias nur im ZiNK und teilweise in der Schule geöffnet. „Es braucht Zeit, bis man den Ausdruck im Gesicht eines Kindes erkennt“, fügt Meier-Sprinz hinzu.
Lange Fahrtwege und viele Termine
„Hier glaubt man an die Kinder und zeigt ihnen das auch glaubhaft“, erklärt Gessel. Bei einem Termin versuche man, alle dabei zu haben, die mit der Familie zusammenarbeiten. Um den Kindern und den Eltern die mühevollen langen Fahrtwege zu ersparen, hat Dr. Sprinz Sprechstunden mit Spezialisten aus Kompetenzzentren aufgebaut. „Der Alltag in den Familien ist voller Herausforderungen“, schildert Heike Haller. Da bleibe nicht viel Zeit übrig. Die Fahrt von ihrem Wohnort Grünenbach im Westallgäu nach Marktoberdorf dauere viel zu lang. „Und die Termine fallen dauernd an.“
Wie berichtet, hatte die Kassenärztliche Vereinigung Bayern kürzlich grünes Licht gegeben für ein neues Sozialpädiatrisches Zentrum in Marktoberdorf. Dessen Betriebsbeginn ist für 1. Januar 2025 angekündigt.
Wenn der Weg zum Arzt Gefahr bedeutet
Schon eine Fahrt „von Kempten nach Kempten“ sei schwierig, erklärt Carolin Wölfle. Wenn Elias‘ Kopf unterwegs nach vorne fällt oder man bei ihm Sekret absaugen müsse, könne sie trotzdem in einer Bushaltestelle kurz anhalten und ihn schnell versorgen. „Aber auf der B12 kann ich nicht stehen bleiben. Und das kann für ihn gefährlich werden.“ Da die Termine im Krankenhaus oft außerhalb der Arbeitszeiten der Pflegekräfte stattfinden würden, zwinge man die Mütter, allein zu fahren, sagt Gessel. „Wenn wir um acht in Augsburg einen Termin wahrnehmen, müssen wir Elias zwischen vier und fünf aus dem Bett holen, er wird nachts beatmet. Wir dürfen keine Gerätschaften vergessen und diese funktionieren nur 2,5 Stunden lang ohne Strom“, schildert Carolin Wölfle.
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Vertraute Umgebung schafft Sicherheit
Viel Angst bereitet den Familien der Wechsel mitten in einer laufenden und einer sich verändernden Therapie. Bei Caroline Rehm könnte der Verlust der vertrauten Umgebung und der vertrauten Menschen wieder dazu führen, dass sie sich „von den Menschen enttäuscht in ihre Höhle zurückzieht“. Sie hat daheim tatsächlich eine gebaut und diese war nicht einmal für die Eltern zugänglich. Nach dem Tod von Dr. Sprinz ist das autistische Mädchen „in ein Loch gefallen, das kein Außenstehender sich vorstellen kann“, erzählt ihre Mutter. Kaum haben sie es geschafft, sie aus der Höhle zu locken, „fängt es wieder an, in die verkehrte Richtung zu laufen“. Erste Anzeichen seien bereits da: Bei der letzten Blutabnahme habe man vier Erwachsene gebraucht, um sie festzuhalten. Außerdem seien sie mitten in einer Medikamentenumstellung, die etwa alle zwei Jahre anfalle. „Das Kind wächst. Wie kommt man an die speziellen Medikamente? Passt die Dosierung? Macht ihr Gehirn mit?“, fragt sich die Mutter.
Wartezeiten auf Termine von über einem Jahr
Lilly Haller braucht etwa alle zwei Jahre einen neuen Rollstuhl. „Die Anträge werden von den Krankenkassen zunächst abgelehnt. Nur eine fristgerechte ärztliche Stellungnahme hilft“, berichtet ihre Mutter. Einen Ersatz für die vom ZiNK früher angebotene Hilfsmittelstunde gibt es in Kempten nicht.
„Aber wie bekommt man einen Termin? Kempten ist bis August voll.“ Lilly Haller hatte zunächst Glück: Für Mitte Juni bekam sie einen ersten Kinderarzttermin in Memmingen, der wieder mit einer langen Fahrt verbunden ist. „So weit bin ich erst gar nicht gekommen“, sagt Carolin Wölfle. In Memmingen wurde sie gleich am Telefon „abgewimmelt“, die Wartezeit betrage 16 Monate.
Da Elias infolge des letzten Arztwechsels „beinahe verstorben ist“, weil durch die plötzliche Umstellung der Medikation alles zerstört worden sei, die man bis dahin aufgebaut habe, wie seine Mutter berichtet, wäre für die Familie Wölfle eine Umstellung mit einer zusätzlichen psychischen Belastung verbunden. „Elias ist gewachsen und hat eine große OP hinter sich“, erklärt Gessel. „Ich als Teamleiterin weiß und kann viel, aber irgendwann ist meine Kompetenz zu Ende.“ Sie brauche einen Arzt, mit dem sie sich besprechen könne. „Im Moment gibt es nur Fragezeichen.“ Sie wollten eine stationäre Behandlung unbedingt umgehen, nicht nur weil diese für alle Beteiligten eine unheimliche Belastung bedeute, sondern auch weil Kinder mit Beatmung immer einen Intensivplatz brauchen, der anderen dann fehle.
Hoher Bedarf
„Warum diskutiert man überhaupt darüber, ob man das ZiNK erhalten soll? Die Einrichtung ist super, besser geht es gar nicht! Alles funktioniert. Und die anderen Häuser sind überall voll“, sagt Heike Haller. In einer selbst entwickelten „Sprache“ übersetzt sie die Worte ihrer Tochter, die dieses Jahr mit dem Titel „Aus dem Herzen, für die Seele“ ihr erstes Buch veröffentlichte: „Ich bin sehr traurig, dass Andreas nicht mehr bei uns ist. Aber es muss für uns weitergehen. Gerade darum, weil das dem Doktor eine Herzenssache gewesen wäre.“
Stellungnahmen zu der aktuellen Situation
Der Oberbürgermeister von Kempten: „Ich kann die Sorgen und Nöte der betroffenen Familien gut nachvollziehen. Aus diesem Grund habe ich mich über die Klinikleitung nochmals an den Zulassungsausschuss der kassenärztlichen Vereinigung gewandt, um eine Verlängerung der Zulassung der Klinik ZiNK zu erreichen, bis das SPZ in Marktoberdorf seine Arbeit aufnehmen kann. Leider ohne Erfolg. Ich bedaure diese Reaktion sehr. Deshalb wird es umso wichtiger sein, an den Kinderkliniken Kempten, Kaufbeuren und Memmingen Versorgungsangebote zu organisieren, um den stark chronisch kranken Kindern so gut wie möglich helfen zu können.“
Brigitte Meier-Sprinz, übernahm im Rahmen der Witwenquartale die Leitung des ZiNK: „Den Sonderbedarfssitz ‚Neuropädiatrie‘ musste ich neu beantragen. Dieser Sonderbedarf wurde von der KV im Februar eindeutig wieder bestätigt (trotz Planung SPZ Marktoberdorf!) und unbefristet bewilligt. Das ,Versorgungsdilemma‘ wäre recht einfach zu lösen, wenn die Klinik das ZiNK in ihre MVZ-Stuktur übernehmen würde. Leider wurde diese Option scheinbar niemals ernsthaft geprüft.“
Dr. Steffen Gass von der Kassenärztlichen Vereinigung: „Wäre ein Nachfolger da, der das ZiNK übernehmen würde, wäre die Zulassung schon längst ausgesprochen und wir hätten kein Problem. Dass hier jetzt ein Träger fehlt, der das ZiNK übernimmt und dann mit der jungen Kollegin weiterführt, ist auch kein Zulassungsproblem, es könnte sofort vollzogen werden.“
BR Fernsehen zu Gast beim ZiNK – Beitrag geht bald auf Sendung
Kürzlich war der BR im ZiNK und hat für die Sendung „quer“ einen Beitrag zu der aktuellen Lage gedreht. Zu sehen ist er am Donnerstag, 23. Mai, um 20.15 Uhr. Wiederholt wird die Sendung Freitag, 24. Mai, um 04.40 Uhr und Sonntag, 26. Mai, um 12 Uhr im BR Fernsehen, Freitag, 24. Mai, um 23:35 Uhr auf tagesschau24 und Samstag, 25. Mai, um 13:20 Uhr auf 3sat.
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