Kessler-Zwillinge sterben gemeinsam: Was wir daraus lernen können

Ich möchte sterben. Natürlich nicht gleich. Mir geht’s gut, ehrlich. Danke der Nachfrage! Aber „langfristig sind wir alle tot“, wusste schon der Ökonom John Maynard Keynes. Und ich würde über mein Ableben gern mitentscheiden, wenngleich ja dummerweise niemand weiß, ob man dann noch dazu in der Lage ist, wenn’s wirklich ernst wird. 

Es geht da um wichtige Fragen wie Selbstbestimmung und Menschenwürde, woran mich ausgerechnet die Kessler-Zwillinge jetzt posthum erinnert haben. Die eineiigen Geschwister waren mal so etwas wie die doppelte Heidi Klum, nur in mondän und weniger laut: ein eleganter Export-Hit der deutschen Nachkriegsrepublik. Irgendwann habe ich sie aus den Augen verloren, bis jetzt die Nachricht kam von ihrem „gemeinsamen“ Tod.

Seit 2020 hat Selbstmord neue Regeln

„Assistierter Suizid“ heißt das heute – und es wurde vor fünf Jahren vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich erlaubt. Der Selbstmord ist hier an klare Regeln gebunden. Eine spontane Depression reicht nicht. Aber man muss auch nicht mehr nachweisen, dass man eh todkrank ist. 

Alice und Ellen Kessler waren 89 Jahre alt. Und ich kann mir ziemlich gut vorstellen, was das bedeutete und weshalb sie sich entschieden, ihren Tod selbst in die Hand zu nehmen, wenngleich unter ärztlicher Aufsicht. Es geht da auch um Unabhängigkeit.

Der Mediziner Hendrik Streeck hat jüngst mit Verweis aufs Sterben seines eigenen Vaters empfohlen, ab einem bestimmten Stadium von Krankheit nicht mehr alles zu unternehmen, was medizinisch vielleicht noch möglich, aber sehr teuer und vor allem nicht mehr sonderlich hilfreich wäre. Sofort fielen selbst CDU-Parteifreunde über ihn her, als wolle er alle Rentner auf einer Eisscholle in die Nordsee schubsen.

Ist „Longevity“ wirklich erstrebenswert?

Dabei will Streeck gar nicht an den Patienten sparen. Er will aber den Patienten ersparen, zu Tode therapiert zu werden mit Mitteln, die oft nur noch Leid verlängern. Das hat auch mit falschen Anreizen im Gesundheitssystem zu tun. Vor allem aber: Wir haben das Leben mit dem Tod verlernt, scheint mir. 

Überall ist heute von „Longevity“ die Rede, als sei es ein Menschheitstraum, mindestens 150 Jahre alt zu werden. Das Sterben findet zwar weiter statt, wird aber nicht nur von Stadtmenschen längst gekonnt tabuisiert. Dabei sollten wir viel mehr darüber sprechen, weil es uns als Gesellschaft eh noch große Debatten bescheren wird.

Der Grund: Wir Boomer, die geburtenstärksten Jahrgänge der Republik, gehen allmählich in Rente. Viele von uns werden fröhlich alt oder wachen eines Morgens einfach nicht mehr auf. Glückwunsch! Aber es wächst eben auch die Wahrscheinlichkeit von Pflegebedürftigkeit, Krebserkrankungen und langwieriger Demenz.

Ich habe das alles erlebt im Verwandten- und Bekanntenkreis. Auch wie sich Menschen in kürzester Zeit in Fallpauschalen verwandelten. Schön war das nicht.

Nicht jede OP bringt noch Besserung

Zwar verstehe ich, wenn sich jemand ans Leben klammert. Dann darf natürlich nichts zu teuer sein. Aber ich verstehe eben auch, wenn jemand sagt, dass er das eigene Leid und den Schmerz weder sich noch anderen aufbürden möchte. 

Die Statistik verheißt mir wie auch Ihnen, dass die Gesundheitsversorgung in der Spätherbstphase unseres Lebens mehr kostet als all die Jahrzehnte davor. Die Arbeit, den Stress und die Kosten würde ich gern nicht nur mir ersparen, sondern auch meiner Familie und dem Staat.

Ein assistierter Suizid kostet 4000 Euro, habe ich jetzt rund um den Fall der Kessler-Zwillinge gelernt. Viele Krebstherapien sind heute nur noch für sechsstellige Summen zu haben – jährlich. Und sie versprechen allenfalls Linderung. Für mich wäre das nichts. Für Sie?

Sie merken es vielleicht: Selten ist man so bei sich selbst wie bei dieser Frage. Warum also sollte ich das nicht entscheiden dürfen?

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