Er lebte die Grenzerfahrung: Vor 30 Jahren verunglückte der Kemptener Astronaut Reinhard Furrer

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Die Wissenschaftsastronauten Reinhard Furrer (l.) und Wubbo Ockels an Bord der Raumfähre Challenger während der deutschen Spacelab-Mission D-1 vom 30. Oktober bis 6. November 1985. Ockels führt das „Ei des Kolumbus“ vor: In der Schwerelosigkeit gelingt es, ein Ei auf seine Spitze zu stellen. © Foto: ESA/NASA

Vom Fluchttunnel bis ins All: Der Kemptener Reinhard Furrer führte ein Leben zwischen Mut, Wissenschaft und Tragik.

Kempten – „Three, two, one, zero – lift off!“ Am 30. Oktober 1985 startete das Space Shuttle Challenger zu seinem letzten erfolgreichen Flug ins All, mit an Bord das von der European Space Agency entwickelte Spacelab D-1 und eine achtköpfige Crew, unter ihnen die Deutschen Ernst Messerschmid und Reinhard Furrer.

Ungewöhnlich an der Mission war, dass erstmals Europäer beteiligt sind und die Bundesrepublik sie größtenteils finanzierte und durchführte. Die NASA war verantwortlich für die Flugsicherheit, die DFVLR (Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt, heute DLR) für die Steuerung und Überwachung des Spacelab D-1 vom German Space Operations Center (GSOC) in Oberpfaffenhofen aus.

Hauptaufgabe der Mission war es, 76 Experimente aus den Bereichen Materialwissenschaften, Physik, Biologie und Medizin in der Schwerelosigkeit durchzuführen. Furrer untersuchte als Wissenschaftsastronaut etwa deren Auswirkung auf den menschlichen Körper.

„Ich flieg da mit“, soll er schon vor seiner Bewerbung 1982 für die erste deutsche Spacelab Mission gesagt haben. Eigentlich standen seine Chancen schlecht, da die Amerikaner als ausgeglichener geltende Familienväter bevorzugten. Doch am Ende setzte sich der 42-jährige Junggeselle gegen 699 Mitstreiter durch. Und dies lag nicht zuletzt an seiner herausragenden Qualifikation.

Reinhard Furrer besucht den Vorläufer des Allgäu-Gymnasiums

Der am 25. November 1940 im österreichischen Wörgl geborene Furrer fand nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie in Kempten eine neue Heimat. Dort wuchs er auf und machte 1960 an der naturwissenschaftlichen Oberrealschule (heute Allgäu-Gymnasium) das Abitur. Nach dem Abschluss seines Physikstudiums mit dem Diplom (1969), das er zunächst in Kiel begann und 1962 an der Freien Universität Berlin fortführte, ging seine Karriere steil bergauf.

1972 wurde er mit einem Thema aus dem Gebiet der Festkörperphysik promoviert, dann wissenschaftlicher Assistent am Institut für Atom- und Festkörperphysik – als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft wohlgemerkt. Schon bald leitete er dort einen Sonderforschungsbereich. 1974 wechselte er als Assistenzprofessor an die Universität Stuttgart. Nach seiner Habilitation (1979) ging er in die USA, wo er bis 1981 lehrte und forschte. 1983 begann er dann zusammen mit Ernst Messerschmid und dem Niederländer Wubbo Ockels die Raumfahrerausbildung in Houston, Texas. Furrer war der dritte Deutsche im All.

Furrer gräbt am legendären „Tunnel 57“

Furrers Biografie ist aber nicht nur von wissenschaftlichen Höhenflügen geprägt. Schon in den 1960er-Jahren bewies der junge Physikstudent als Fluchthelfer im geteilten Berlin Mut und Idealismus. Empört über die 1961 errichtete Mauer, schloss er sich einer Gruppe von Studenten an, die Fluchttunnel für DDR-Bürger grub.

Gemeinsam mit dem bekannten Fluchthelfer Wolfgang Fuchs war der 24-Jährige 1964 am legendären „Tunnel 57“ beteiligt. Über 145 Meter führte dieser von einer leerstehenden Bäckerei in West-Berlin bis zu einem Toilettenhaus in einem Ost-Berliner Hinterhof. 57 DDR-Bürgern, 31 Frauen, drei Kindern und 23 Männern – daher der Name – gelang damit die Flucht in den Westen.

Reinhard Furrer war für die technischen Ausführungen zuständig. Er baute etwa ein Mikrofon mit speziellem Verstärker, das jeden Schritt auf der Ostseite registrierte, oder ein Belüftungsrohr aus Konservendosen. Seine Spezialität waren Einsätze, die besonders starke Nerven erforderten.

Schießerei am Tunneleingang

In der Nacht des 4. Oktober 1964 stand Furrer persönlich auf der Ost-Berliner Seite am Tunneleingang bereit. Zwei Stasi-Mitarbeiter in Zivil gaben sich ihm gegenüber als Flüchtlinge aus. Unter dem Vorwand, noch einen „direkt aus Bautzen Entlassenen“ (Stasi-Gefängnis) holen zu wollen, alarmierten sie die Grenztruppen. Es kam zu einer Schießerei, bei der der Grenzer Egon Schultz tödlich getroffen wurde.

Furrer und die übrigen Helfer konnten entkommen – unter dem Feuerschutz eines Studenten, wie spätere Untersuchungen ergaben, seine eigene Pistole blieb aber unbenutzt. Dieser Zwischenfall wurde zum deutsch-deutschen Politikum. Lange war ungewiss, wer Schultz damals erschossen hatte. Erst nach dem Mauerfall enthüllten Stasi-Akten, dass die Kugel aus dem Lauf eines Kollegen stammte.

Zeitgenossen beschrieben Furrer als abenteuerlustig und stets offen für neue Herausforderungen. Wenn er nicht gerade segelte, tauchte oder Geige spielte, zog es ihn immer wieder in die Luft. Schon 1974 erwarb er eine Privatpilotenlizenz, in den 1980er-Jahren flog er über Grönland oder nach Quito (Ecuador).

Am Dienstag, 9. September, legt die Stadt Kempten einen Kranz an Furrers Grab nieder

Seine Passion wurde Furrer zum Verhängnis. Am 9. September 1995 nahm der 54-Jährige als Ehrengast an einer Flugschau auf dem historischen Flugplatz Johannisthal in Berlin teil. Im Anschluss unterhielt er sich mit dem Piloten eines Oldtimer-Flugzeugs vom Typ Messerschmitt Bf 108 Taifun. Ihr spontaner Entschluss: ein kurzer Rundflug; Furrer war als Passagier dabei. Doch kurz nach dem Start geschah das Unglück: Das Flugzeug zeigte ein „gewagtes Manöver“ und stürzte plötzlich ab, beide Insassen waren sofort tot.

In seiner Heimatstadt Kempten ist Reinhard Furrer bis heute unvergessen. Die letzte Ruhestätte fand er auf dem Evangelischen Friedhof unterhalb der Burghalde, wo seine Urne neben jenen seiner Eltern beigesetzt wurde. Am kommenden Dienstag um 11 Uhr findet dort anlässlich seines 30. Todestages eine Kranzniederlegung statt.

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