Top-Anwältin holt vermeintlichen Mörder aus Knast und spricht über „Hexenjagd“

Regina Rick ist die härteste Strafverteidigerin Deutschlands. Wer sie vor Gericht erlebt hat, weiß: Diese Frau gibt nie auf. Regelmäßig legt sich die 56-jährige Top-Juristin aus München mit Polizisten, Sachverständigen, Staatsanwälten und Richtern an – und weist ihnen mitunter krasse Fehler nach. Fehler, durch die unschuldige Menschen jahrelang ins Gefängnis mussten.

  • Etwa im Fall des Landwirts Rudolf Rupp aus Oberbayern. Laut Ermittlern war der 2001 verschwundene Bauer von seiner Familie ermordet, zerstückelt und an die Hunde verfüttert worden. Regina Rick bezweifelte die Version der Ermittler und deckte einen großen Justizskandal auf.
  • Oder im Fall Manfred Genditzki. Nachdem er 13 Jahre zu Unrecht in Haft gesessen hatte, kam er im Sommer 2023 aus dem Gefängnis. Der Freispruch im wiederaufgenommenen Verfahren um den sogenannten „Badewannen-Mord“ erfolgte auf Betreiben von Regina Rick.
  • Vor wenigen Tagen wurde Sebastian T. nach zweieinhalb Jahren aus der JVA Traunstein entlassen. Er war im Frühjahr 2024 als angeblicher Mörder der Studentin Hanna W. verurteilt worden. Regina Rick erreichte, dass der Prozess um den „Eiskeller-Mord“ im September wegen Verfahrensfehlern neu aufgerollt wird.
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Regina Rick (r.) mit ihrem Kollegen Klaus Wittmann (l.) und dem freigesprochenen Manfred Genditzki, der als vermeintlicher „Badewannen-Mörder“ 13 Jahre zu Unrecht im Gefängnis saß. dpa

Mit FOCUS online spricht die Rechtsanwältin erstmals ausführlich über ihren aktuellsten Fall und die Schwachstellen im deutschen Justizwesen.

FOCUS online: Sie haben mehrere Wiederaufnahmeverfahren erzwungen und verurteilte angebliche Mörder aus dem Gefängnis geholt. Verspüren Sie in solchen Momenten Triumphgefühle? 

Regina Rick: Natürlich sind das Erfolge. Aber nach solchen Augenblicken, in denen ein Unschuldiger aus den Gefängnistoren tritt und von seinen weinenden Familienangehörigen in die Arme genommen wird, werde ich eher zornig auf eine Justiz, die solch ein Leid verursacht. 

Im Mordfall Hanna haben Sie in einem Nebenordner der Akte zufällig eine brisante E-Mail gefunden. Darin schrieb die Richterin an den Staatsanwalt, dass die belastende Aussage eines Zeugen „ganz wichtig ist“. Außerdem deutete sie ihr späteres Urteil an. Was haben Sie beim Lesen gedacht?

Rick: In dem Moment war mir klar, dass dieser Fund den Prozess oder jedenfalls das Urteil zu Fall bringen wird. Gleichzeitig hat es mich schon ein bisschen fassungslos gemacht, mit welcher Selbstverständlichkeit da hinter dem Rücken der Verteidigung gemauschelt wird. 

Mit der „ganz wichtigen“ Aussage des Zeugen hatte die Richterin einen Knastkumpel des Angeklagten gemeint. Der Häftling hatte der Polizei erzählt, Sebastian T. habe ihm gegenüber den Hanna-Mord gestanden. Dabei ist der Zeuge als notorischer Lügner bekannt. Warum stützt sich ein Gericht auf eine solche zweifelhafte Aussage? 

Rick: Weil man unbedingt einen Schuldigen für dieses tragische Ereignis finden wollte. Ausgangspunkt war – wie auch im Fall Genditzki – die frühzeitige Festlegung der Kripo auf ein Tötungsdelikt. Vor den Tatsachen, die immer deutlicher auf einen Unfall hindeuteten, hat man dann offensichtlich die Augen verschlossen. Die Stimmung dort vor Gericht war hochemotional. Das Ganze hat ein bisschen an eine mittelalterliche Hexenjagd erinnert. 

Wenn Sie diese Mail nicht gefunden und entsprechend gehandelt hätten, würde Ihr Mandant noch viele Jahre in Strafhaft sitzen…

Rick: …das würde ich so nicht sagen. Wenn die Befangenheitsrüge nicht durchgegangen wäre, wäre das Landgericht Traunstein über einen anderen Verfahrensfehler oder über seine hanebüchene Beweiswürdigung gestolpert. Wir hatten ja insgesamt 21 Anträge gestellt. Die Revisionsbegründung, die ich zusammen mit dem Hamburger Revisionsspezialisten Yves Georg eingereicht habe, war etwa 1800 Seiten stark.

Dennoch: Was sagt der Fall über den Zustand der deutschen Justiz insgesamt aus? 

Rick: Die Mängel sind strukturell bedingt. Längst überfällige Reformen werden seit Jahrzehnten nicht angepackt, allen voran die Dokumentation der Hauptverhandlung. Solange die Politik sich dagegen sperrt, die zahlreichen Probleme anzupacken, wird es immer wieder zu Fehlurteilen kommen. 

Als normaler Bürger denkt man: Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter handeln absolut neutral und fühlen sich nur der Wahrheitsfindung verpflichtet. Ist das gar nicht so? 

Rick: Es gibt sehr viele Beamte, die sich an Recht und Gesetz halten und um Objektivität bemüht sind. Aber die Nähe zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht ruft bisweilen einen Korpsgeist hervor, der der Wahrheitsfindung hinderlich ist. Wenn die Polizei mal jemanden als Täter auserkoren hat, dann wird der am Ende oft auch verurteilt und die Revision hält das meist. 

Wie kann das sein?

Rick: Leider fehlt es in der Strafjustiz an zulänglicher Kontrolle. In jedem Unternehmen gibt es eine Qualitätskontrolle, aber Beamte müssen sich selbst für grobe Fehler in aller Regel nicht verantworten. 

Was treibt Sie an, mal abgesehen vom Gerechtigkeitssinn? Ehrgeiz? Der Drang, es den juristischen Vertretern des Staats mal so richtig zu zeigen?

Rick: Mir wäre es lieber, wenn die Justiz gut funktionieren würde, dann wäre mein Leben leichter. Aber das tut sie nicht. Und wenn ich mich mal verbissen habe, dann lasse ich halt nicht mehr los. Ich kann schwer aufgeben. 

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Hanna W. war am 3. Oktober 2022 nach dem Besuch der Diskothek „Eiskeller“ in Aschau ums Leben gekommen. Die Frage ist: War es Mord oder ein Unfall? privat

Sie treten gegen Staatsanwälte, Richter und Nebenkläger an und kämpfen wie ein verwundeter Löwe. Macht es Ihnen Spaß, die Böse, die Nervige, die Bissige zu sein?

Rick: Dass ich offenbar so wahrgenommen werde, habe ich sinngemäß schon öfter gehört, aber ich empfinde das nicht so. Ich finde mich meistens sehr nett. Wenn es jemand persönlich nimmt, dass ich nachbohre, dann ist das ja sein oder ihr Problem.

Staunen Sie manchmal selbst über die Schlampereien von Ermittlern der Polizei, Rechtsmedizinern, Anklägern und Richtern?

Rick: In 25 Jahren Strafverteidigung habe ich zwar schon viel erlebt, aber ja: Es erstaunt mich schon, dass die immer noch eins draufsetzen.

Auch Richter sind nur Menschen. Gehen Sie aufgrund Ihrer beruflichen Erfahrungen davon aus, dass sich manche Richter teilweise sehr naiv, man könnte auch sagen trottelig, verhalten? So wie bei der Mail im Fall Hanna? 

Rick: Die Vorsitzende im „Eiskeller-Fall“ war schon extrem emotional. So was erlebt man selten. Solche Fehlleistungen haben nicht immer etwas mit der intellektuellen Leistungsfähigkeit zu tun. 

Und Staatsanwälte? Wie viel Voreingenommenheit und Verbohrtheit auf Seiten der Ankläger haben Sie erlebt?

Rick: Wie gesagt: Es gibt auch viele faire Richter und Staatsanwälte. Aber manch einer ist offensichtlich nicht in der Lage, die erforderliche Distanz zu wahren. Die sind für Positionen, in denen man über die Freiheit von anderen Menschen entscheidet, dann aber nicht geeignet.

Wenn Sie Ermittlungsakten durchlesen – wie gehen Sie da vor? Suchen Sie ganz gezielt nach Schwächen und Angriffspunkten und sagen dann: Da grätsche ich dazwischen, da bricht die Anklage zusammen?

Rick: Ganz genau.

Sind Sie ganz sicher, dass Sebastian T., den Sie gerade aus dem Gefängnis rausgeboxt haben, nicht der Mörder von Hanna ist? 

Rick: Ja. Ganz sicher. Das war ein Unfall und selbst wenn es keiner gewesen wäre: Sebastian könnte es nicht gewesen sein. Wer die Akten akribisch liest, dem muss das auch klar sein. 

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Die 56-jährige Top-Juristin Regina Rick aus München, neuerdings mit kürzeren Haaren privat

Macht es Sie nicht traurig, dass die Familie von Hanna W. keine Ruhe findet und noch einmal die Tortur eines Prozesses über sich ergehen lassen muss? Haben Sie kein Mitleid mit den Opfern?

Rick: Aus meiner Sicht ist Frau W. ein Ertrinkungsopfer, aber kein Opfer einer Straftat. Als solches tut sie mir ebenso wie ihre Eltern natürlich leid. Den Eltern ist das Schlimmste widerfahren, was einem passieren kann: ein Kind zu verlieren. Aber deswegen kann man ja keinen Unschuldigen verurteilen. Das sehen auch die Eltern sicher nicht anders. 

Wie sehen Sie dem im September beginnenden neuen Verfahren entgegen?

Rick: Mit Herrn Dr. Georg als Mitverteidiger an meiner Seite: gelassen. Wir sind sicher, dass unser Mandant freigesprochen wird.

Wenn Sebastian T. auch in einem neuen Prozess verurteilt werden sollte – fühlen Sie sich dann als Verliererin? 

Rick: Nein. Verlierer wäre dann der Rechtsstaat. 

Nach Ihren viel beachteten Erfolgen und der Würdigung durch Kollegen und Öffentlichkeit wird jetzt sehr viel von Ihnen erwartet, fast schon Wunderdinge. Spüren Sie Druck? Haben Sie Angst zu versagen?

Rick: Nein.