Jonathan wurde wegen Habeck zum Grünen – jetzt rechnet er mit ihm ab
Im vergangenen Herbst erlebten die Grünen einen Mitglieder-Boom. Nach dem Ampel-Aus und der Nominierung Robert Habecks zum Kanzlerkandidaten traten innerhalb weniger Wochen mehr als 15.000 Menschen der Partei bei – viele davon, um den damaligen Wirtschaftsminister im anstehenden Wahlkampf zu unterstützen.
Ein Dreivierteljahr später verdauen die Grünen immer noch das dürftige Bundestagswahlergebnis von 11,6 Prozent – und Habeck hat am Montag seinen Rückzug aus dem Bundestag angekündigt. Bei denen, die damals auch seinetwegen zu Grünen-Mitgliedern geworden sind, löst das höchst unterschiedliche Gefühle aus.
Habeck hat Grüne "von linker Partei zu reiner Realo-Partei verändert"
Als FOCUS online bei Jonathan nachfragt, was er von Habecks Ankündigung hält, zeigt sich der politisch engagierte Schüler aus Bonn belustigt. Er ist nach dem Ampel-Aus der Partei beigetreten, um im anstehenden Wahlkampf ein Zeichen zu setzen. Mittlerweile hat er sich aber bei den Grünen zurückgezogen – wegen Habeck.
"Er hat aus meiner Sicht die Grünen von einer linken Partei mit starkem inhaltlichem Profil zu einer reinen Realo-Partei verändert, weshalb ich auch die Grünen und die Grüne Jugend verlassen habe", erklärt Jonathan. Der Schüler rechnet hart mit dem Politiker ab: Habeck sei für "den inhaltlichen Wandel und die zu starke Kompromissfähigkeit" der Grünen maßgeblich verantwortlich.
Jonathan ist von den Grünen zu den Linken gewechselt
Er hält den Rückzug des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers für eine gute Sache: "Es ist gut, dass Habeck nun die Politik verlässt", sagt Jonathan. "Ich glaube, dass sein Rücktritt für die Grünen eine Chance darstellen kann, da sie sich nun von einer Partei, die um jeden Preis regieren will, in eine Partei verwandeln können, mit der auch scharfe Opposition möglich ist."
Jonathan selbst berührt das nur noch indirekt: Er ist jetzt Mitglied bei der Linken. Die hat mit der Fraktionsvorsitzenden Heidi Reichinnek eine beliebte Führungsfigur, die im Gegensatz zu Habeck auf Konfrontation statt Kompromisse setzt.
"Authentische Person, von denen es bei den Grünen nicht viele gibt"
Während Jonathan die Ankündigung Habecks "relativ nüchtern wahrgenommen" hat, war die Reaktion bei einem ehemaligen Parteifreund im Bonner Kreisverband eine andere: "Wie schade!", habe er im ersten Moment gedacht, erzählt Joachim, der ebenfalls anonym bleiben möchte. Der pensionierte Jurist ist den Grünen im vergangenen Herbst beigetreten und immer noch Mitglied.
Für die Grünen sei Habecks Entscheidung "ungünstig, da er eine sehr authentische Persönlichkeit ist, von denen es in unserer Partei – und in anderen – wenige gibt". Empathie und Aufrichtigkeit seien Habecks Stärken gewesen, die jetzt bei den Grünen weniger vorhanden seien.
Für Habeck-Fan Michael war die Rückzugsnachricht ein "Schock"
Noch deutlicher wird Habeck-Fan Michael (Name geändert) aus Thüringen. Die Nachricht über den Rückzug am Montag sei ein "Schock" gewesen. Zwar könne er nachvollziehen, dass Habeck sich angesichts von Anfeindungen zu dem Schritt entschlossen hat. "Aber ich hätte mir erhofft, dass er ein Korrektiv in der deutschen Politik bleibt", so Michael im Gespräch mit FOCUS online.
"Habeck ist jemand, der auch mal unliebsame Entscheidungen getroffen hat", erklärt der Thüringer und meint das Lob. "Er hat das dann auch erklärt und ist dafür eingestanden. Er konnte den Menschen auch komplizierte Zusammenhänge deutlich machen."
In der Riege der aktuellen Spitzenpolitiker sei das eine Seltenheit, stattdessen herrsche eine "Rattenfänger-Mentalität" – die Leute würden denen hinterherlaufen, die die dümmsten Dinge erzählen.
Damit stößt Michael ins selbe Horn wie Habeck bei seinem Rückzugsinterview in der "taz". Der Ex-Kanzlerkandidat ging dort scharf mit Politikern der Union ins Gericht. Über den CSU-Chef sagte er beispielsweise: "Dieses fetischhafte Wurstgefresse von Markus Söder ist ja keine Politik."
"Wenn Grüne Fundamentalopposition betreiben, würde ich austreten"
Obwohl Michael einer der 450.000 Menschen war, die Habeck nach der Bundestagswahl in einer Petition zum Weitermachen aufforderten, ist er von dem Politiker nicht enttäuscht.
Wegen seines Rückzugs die Partei wieder zu verlassen, kommt für Michael nicht in Frage. Ganz ausschließen will er den Schritt aber nicht: "Wenn die Grünen plötzlich Fundamentalopposition betreiben, würde ich austreten." Denn das ginge gegen Habecks Erbe als selbsterklärter Bündnispolitiker.
Sowohl Joachim als auch Michael hoffen auf Habecks Rückkehr in die Politik. Beide Grünen-Mitglieder sind sich einig, in welcher Rolle das am besten geschehen solle: als Kanzler. Jonathan, der zu den Linken gewechselt ist, will Habeck hingegen nicht mehr in der aktiven Politik sehen. "Die Grünen würden somit ihre Chance zur inhaltlichen Neuausrichtung verlieren", glaubt er.
Reaktionen auf Habeck-Rückzug zeigen Spaltung der Grünen
Die gegensätzlichen Ansichten über den Habeck-Rückzug spiegeln eine Spaltung der Grünen wider, die die Partei voraussichtlich noch länger beschäftigen wird. Der linke Flügel will sich stärker vom einstigen Gesicht der Partei emanzipieren und lehnt es ab, sich mit schmerzhaften Kompromissen an die Union anzunähern. Die Realos hingegen fürchten, dass wichtige Errungenschaften Habecks jetzt verloren gehen könnten, nämlich in die Mitte hinein Menschen für die Partei zu erreichen.

Der Parteiführung um Franziska Brantner und Felix Banaszak sowie den Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge und Britta Haßelmann ist es bislang noch nicht gelungen, das Profil in die eine oder andere Richtung zu schärfen.
Das hält Grünen-Mitglied Michael für problematisch: "Ehrlich gesagt fehlt uns im Moment eine Führungsfigur, wie Habeck sie war. Dadurch ist die Oppositionsarbeit im Moment nicht so richtig wahrnehmbar."
Im Text werden nur die Vornamen genannt, weil die Grünen-Mitglieder aus Sorgen vor Anfeindungen anonym bleiben wollen.