Partei gewinnt Tausende Mitglieder - Habeck-Fan Henri tritt den Grünen bei – dann macht er eine bedenkliche Ansage

Mit dem Aus der Ampel-Koalition hat sich auch das Leben von Henri Tietz verändert, zumindest sein politisches. Kurz nachdem Kanzler Olaf Scholz (SPD) seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) aus dem Kabinett schmiss , stellte Tietz einen Mitgliedsantrag bei den Grünen. Damit gehört der 55-Jährige aus Saalfeld in Thüringen zu mehr als 15.000 Neumitgliedern in der Partei, die seit jenem 6. November hinzugekommen sind.

Tietz hatte nach diesem historischen Tag das Gefühl, etwas tun zu müssen „gegen die Spaltung der Gesellschaft, die Schwurbelei und die AfD“, erzählt er im Gespräch mit FOCUS online. Eigentlich habe er schon lange mit dem Gedanken gespielt, Mitglied bei den Grünen zu werden. „Aber das Ampel-Aus war der Punkt, an dem für mich klar war: Jetzt mache ich’s!“

Für Christian Stecker, Politikwissenschaftler an der Universität Darmstadt, ist das ein typisches Muster: „Es ist häufig so, dass Parteien Mitglieder gewinnen, wenn die Zeiten politisierter und polarisierter werden.“ In der Vergangenheit habe man das zum Beispiel nach der ersten Trump-Wahl 2016 gesehen oder nach Veröffentlichung der Recherchen zum Remigrations-Treffen in Potsdam. „Vielen ist auch nach dem Ampel-Aus bewusst geworden, dass es jetzt um viel geht in der Politik und vielleicht die Demokratie insgesamt in Gefahr ist“, erklärt Stecker.

„Habeck gönnt man nicht einmal das Schwarze unter den Fingernägeln“

Warum Henri Tietz sich ausgerechnet für die Grünen entschieden hat, erklärt er unter anderem mit seiner privaten Technik-Begeisterung: „Ich bin ein kleiner Nerd und habe mich aus dieser Perspektive mit der Energiewende beschäftigt. Ich bin mir sehr sicher, dass die Pläne der Grünen und von Wirtschaftsminister Robert Habeck in diesem Bereich am Ende aufgehen werden.“

Leider sähen das nicht alle so: „Manchen Politikern zum Beispiel bei der CSU wird so viel verziehen, aber Habeck gönnt man nicht einmal das Schwarze unter den Fingernägeln“, beschwert sich Tietz. Dass die Grünen genau dieses Gefühl zum Motto einer selbstironischen Mitgliederkampagne gemacht haben, gefällt dem Saalfelder und war ebenfalls ein Argument für den Beitritt. „Willst du auch für alle Probleme der letzten 30 Jahre verantwortlich gemacht werden? Jetzt Mitglied werden!“, warb die Partei nämlich.

Mitgliederzuwachs ist gut für die Demokratie, aber ein Warnzeichen

Nicht nur bei den Grünen schnellen die Mitgliedszahlen gerade nach oben. Auch SPD, CDU, FDP und Linke verzeichnen seit dem Ampel-Aus Tausende neue Anträge. Politikwissenschaftler Stecker wertet das zunächst als „gutes Zeichen für die Demokratie, wenn Menschen bereit dazu sind, sich in Parteien zu engagieren“. Ohne Parteien würde das repräsentative System der Bundesrepublik nicht funktionieren.

Der Professor für das politische System Deutschlands warnt aber auch: „Gleichzeitig ist der Mitgliederzuwachs ein Warnzeichen dafür, dass die Polarisierung steigt und die Politik vielleicht ein bisschen zu wichtig geworden ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“

Über diese Polarisierung macht sich auch Henri Tietz Gedanken. Nach seinem Grünen-Beitritt habe es zwar keine offenen negativen Reaktionen gegeben. „Aber wenn ich mich im Umfeld so umhöre, sind die Grünen schnell immer die Blöden. Das kann ich aber aushalten. Da muss man einfach mal Rückgrat zeigen.“

Grünen-Neumitglied fürchtet Angriffe

Bei einem Punkt macht Tietz dann aber eine klare Ansage: „Ich will draußen keine Plakate aufhängen im Wahlkampf. Ich habe schon Angst davor, was dann passieren könnte.“ Unbegründet ist dieses Gefühl nicht: Im Europawahlkampf wurde zum Beispiel in Dresden der SPD-Politiker Matthias Ecke körperlich angegriffen, später wurden weitere Übergriffe bekannt.

Vor allem in Ostdeutschland machen sich die Grünen Sorgen vor solchen Vorfällen. Im Dunkeln zu plakatieren, will man eigentlich vermeiden – in einem Winterwahlkampf erschwert das die Abläufe aber erheblich. Denn der Großteil der Arbeit wird eigentlich von Ehrenamtlichen geleistet, die wie Tietz aber tagsüber ihrem Beruf nachgehen. Im Osten haben die Grünen aber ohnehin schon deutlich weniger Mitglieder als im Westen.

Tietz führt seine Bedenken auch direkt auf eine Partei zurück: Bei der Thüringer Landtagswahl im September erzielte die AfD in Saalfeld nämlich knapp 34 Prozent. „Das ist schon erschreckend“, erzählt er. Er habe den Thüringer Landeschef Björn Höcke vor Ort im Wahlkampf erlebt. „Selbst wenn man mal die Frage außen vor lässt, ob er ein Nazi ist – inhaltlich ist sein Programm eine Katastrophe.“ Wirtschaftlich führe das AfD-Programm in den Abgrund.

Grüne Neumitglieder werben für pragmatischen Kurs

Stattdessen setzt Tietz auf Habeck. Er ist nicht nur aufgrund seiner Idee Fan des grünen Kanzlerkandidaten, sondern auch wegen dessen Kommunikationstalent und seiner pragmatischen Herangehensweise. „Ich habe früher auch schon einmal CDU gewählt unter Ministerpräsident Dieter Althaus. Er war einfach ein pragmatischer Mann.“

„Habeck ist ebenfalls ein Pragmatiker vor dem Herrn und er kann auch mal über Parteigrenzen hinweg mit anderen zusammenarbeiten. Es ist doch nicht gleich etwas schlecht, weil es von den Schwarzen, Roten oder Grünen kommt“, betont Tietz.

Tatsächlich scheinen die Grünen sehr viele pragmatisch denkende Neumitglieder bekommen zu haben. Zu ihnen lässt sich auch Joachim Mohr zählen. Der pensionierte Jurist aus Bonn war sogar schon auf dem Parteitag dabei, weil er seine bereits in der Partei aktive Frau begleitete. „Man muss jetzt die demokratische Mitte stärken, das ist mein Hauptziel“, erklärt er im Gespräch mit FOCUS online.

Wie das dann nach der Wahl aussehen könnte? „Wir haben in Nordrhein-Westfalen eine geräuschlos regierende schwarz-grüne Regierung. Das wünsche ich mir auch für den Bund.“ Kanzler werde Habeck wahrscheinlich nicht, „aber vielleicht kann er ja Vizekanzler bleiben.“

Als positive Personalie wertet Mohr auch den neuen Parteivorsitzenden Felix Banaszak: „Er macht auf mich einen energischen Eindruck, scheint aber auch zu Kompromissen bereit zu sein. Das sind ganz wichtige Eigenschaften für eine Koalition.“