
Bildquelle: Thomas Druyen
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Unter dem Dach der Zukunftspsychologie sprechen wir dauernd mit Menschen. Es wird immer deutlicher, dass sie zunehmend genervt sind. Drei Beispiele sind stellvertretend für die wachsende Angst vor einem Verlust der allgemeinen Vernunft.
1. Da ist der amerikanische Präsident Donald Trump, der verkündet, was er will, unabhängig vom Wahrheitsgehalt. Er wiegelte Menschen auf, das eigene Regierungszentrum zu überfallen. Er verhängt und droht weltweit mit widersinnigen Zollerhöhungen und lähmt die weltweite Versorgung von Bedürftigen. Gleichzeitig bringt er sich ernsthaft für den Friedensnobelpreis ins Spiel. Dass sich fast alle Regierungen der Welt auf dieses furchterregende Schauspiel einlassen, irritiert die meisten Bürgerinnen und Bürger, und sie vermissen die ausgehebelte Vernunft.
2. Und Wladimir Putin, der lügende Herrscher und Kriegsverbrecher verbietet der eigenen Bevölkerung den Krieg Krieg zu nennen und bestraft jede Artikulation drastisch. Viele Menschen können absolut nicht verstehen, dass all seine menschenrechtlichen Totalverfehlungen von unterschiedlichen Nationen anders beurteilt oder sogar unterstützt werden. Die bange Frage wird immer lauter: Wo ist die Vernunft geblieben?
3. Die Unterstützung der Menschen in Israel ist historisch bedingt ohne jeden Zweifel. Aber dass ihr Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gegen die überwiegende Mehrheit der eigenen Bevölkerung ganze Landstriche in Gaza mit Säuglingen, Kindern, Menschen aller Generationen ausradiert, ist völlig irrational.
Als Soziologe forscht Thomas Druyen seit 30 Jahren die psychologischen Auswirkungen von Wandel und leitet zwei Institute an der Sigmund Freud Universität in Wien. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Neben diesen zentralen Angriffen auf die Vernunft erleben wir alle ständig Vorkommnisse, die unbegreifbar sind. Wir stellen uns Fragen, die nahezu nicht beantwortet werden können:
Wie sollen wir die Künstliche Intelligenz nutzen, wenn sie nicht verstanden wird?
Die herrschenden Tech-Konzerne wie Google, Microsoft, Meta und so weiter gestalten und dominieren unsere Lebens- und Kommunikationsadern. Dass die Politik und die Juristen diesen Konzernen hinterherhinken und gar nicht genau überschauen, was passiert, kommt einem weiteren Vernunftsbeben gleich.
Während die Besitzer der Plattformriesen über das All, den Mars und die Unsterblichkeit nachdenken, wird die alte Weltordnung wie bei einem Sturm auf dem Ozean auf und niedergedrückt und niemand weiß, was morgen geschieht oder wer mit wem paktiert.
In Nordkorea, Jemen, Sudan, Taiwan, Myanmar, Haiti und so weiter überall finden wir Zustände jenseits aller Vernunft. Es ist hier kein Platz über das weite Feld der Vernunft zu sprechen, aber immer hatte sie mit Sinn, Wahrheit und Ordnung zu tun.
Ihr Gegenteil ist die Unvernunft, die Irrationalität, die Willkür. Für alle drei Faktoren finden wir jeden Tag schlagende Beweise.
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Was macht das mit uns? Unvernunft ist kein harmloses Phänomen, sie ist eine schleichende und extreme Gefahr für unser Gehirn und damit für unser ganzes Leben. Sobald die Welt um uns herum chaotisch, unsicher und bedrohlich wirkt, hat nicht mehr die Vernunft das Kommando, sondern der archaische Überlebensmodus.
Die Amygdala feuert wie ein Daueralarm, Stresshormone fluten den Körper, und das klare Denken wird blockiert.
Der präfrontale Kortex, jener Bereich, der uns zu reflektierten, verantwortlichen Menschen macht, tritt in den Hintergrund. Zurück bleiben Kurzschlussreaktionen, Tunnelblick und ein Denken, das nur noch zwischen Flucht, Stillstand oder Angriff manövriert.
Langfristige Überlegungen, kluge Strategien, kreative Lösungen ersticken im Nebel der Bedrohung und der Überforderung.
Wer permanent unter Stress steht, verliert nicht nur Erinnerungen, sondern auch die Fähigkeit, sich zu verorten und Sinn zu finden. Gleichzeitig versiegt das Dopaminsystem, das uns normalerweise Freude, Motivation und Antrieb schenkt. Statt Begeisterung und Neugier erleben wir Zynismus, Apathie oder Aggression. Und je länger dieser Zustand andauert, desto tiefer gräbt er sich ein: Das Gehirn gewöhnt sich an die Unvernunft wie an ein Gift, das langsam alle Zukunftsfähigkeit zerstört.
Das Ergebnis ist fatal: Wir verlieren nicht nur unsere geistige Klarheit, sondern auch unsere Freiheit. Eine Gesellschaft, die von Unvernunft durchtränkt ist, wird unfähig zu entscheiden, zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Sie wird gelähmt! Wer das unterschätzt, ignoriert, dass der wahre Feind nicht nur draußen lauert, sondern in unseren Köpfen. Es ist die Kapitulation der Vernunft vor dem permanenten Alarmzustand.
Und jetzt? Können wir diese Sätze nicht alle auf unsere Eindrücke der letzten Monate übertragen? Was können wir tun? Der Teufelskreis der Unvernunft ist kein unabwendbares Schicksal, sondern eine Dynamik, die wir zumindest in freien und stabilen Kontexten unterbrechen können.
Aber wir dürfen uns nichts vormachen: nicht jeder Mensch kann mit den gleichen Mitteln ausbrechen. Wer im Krieg lebt, unter akuter Not oder schwerer Krankheit leidet, braucht andere Hilfen und Schutz. Für die große Mehrheit aber, die im Alltag zwar verunsichert, aber nicht existenziell bedroht ist, gilt: Vernunft lässt sich wiederbeleben, wenn man bewusst handelt.
Der erste Schlüssel liegt in der Beruhigung des Nervensystems. Das klingt unspektakulär, ist aber von größter Tragweite. Schlaf, Bewegung, bewusste Pausen, das sind keine Lifestyle-Tipps, sondern neurologische Interventionen. Sie schalten den Daueralarm der Amygdala herunter und öffnen dem präfrontalen Kortex die Tür zurück. Nur so entsteht wieder Raum für Nachdenken, für klare Entscheidungen, für Menschlichkeit.
Der zweite Schlüssel heißt, die Handlungsmacht zurückerobern. Unvernunft lähmt, weil sie uns das Gefühl nimmt, Einfluss zu haben. Wer aber anfängt, kleine Entscheidungen bewusst zu treffen, nicht hundert, sondern eine am Tag, die trägt, der trainiert das Gehirn neu. Diese Schritte sind nicht immer spektakulär: Nein sagen, wo man sich überfordert fühlt. Ein Projekt beginnen, das Sinn stiftet. Verantwortung übernehmen, wo andere sich wegducken. Jede bewusste Handlung ist ein Bruch mit der Ohnmacht.
Der dritte Schlüssel ist die Zukunftsperspektive. Ein Gehirn im Dauerstress verliert den Horizont. Alles wird auf die unmittelbare Bedrohung fokussiert. Vernunft aber wächst aus der Frage: „Was trägt noch in zehn Jahren“ in meinem Leben, in meiner Familie, in meinem Beruf, in unserer Gesellschaft. Wer sich dieser Frage stellt, entzieht sich dem Sog der Panik des Momentes. Das ist keine Vertröstung auf später, sondern eine radikale Gegenwartspraxis: Zukunft bewusst denken, jetzt.
Natürlich sind diese Impulse nicht universell und überall wirksam. Menschen, die durch Bombennächte gehen, die um ihr Überleben kämpfen oder von Krankheit aufgezehrt werden, brauchen Nähe, Schutz, Solidarität, nicht Appelle zur Selbstregulation. Aber gerade dort, wo wir die Wahl haben, ist es unverantwortlich, im Nebel der Unvernunft stehenzubleiben.
Vernunft ist keine trockene Theorie, sie ist eine Praxis. Sie verlangt Mut, Selbstkontrolle und den Willen, den eigenen inneren Kompass immer wieder neu auszurichten. Wer das tut, schützt nicht nur sich selbst, sondern trägt dazu bei, dass eine Gesellschaft handlungsfähig bleibt. Denn die größte Gefahr ist nicht die Unvernunft draußen, sondern die Bereitschaft, sie drinnen einfach gewähren zu lassen.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.