Berichte über Angriffsplanungen: Ein Satz über Putins "Phase 0" ist entscheidend

"Phase 0" - dieser Begriff prägte zuletzt viele Schlagzeilen über Kreml-Chef Wladimir Putin und seine vermeintlichen Nato-Pläne. Hintergrund war eine Analyse der US-amerikanischen Denkfabrik "The Institute for the Study of War", kurz "ISW", vom 6. Oktober. 

Russland sei dabei, den Grundstein für eine mögliche zukünftige Auseinandersetzung mit dem Verteidigungsbündnis zu legen, heißt es darin. Verschiedene Aktivitäten würden darauf hindeuten - darunter verdeckte Angriffe, militärische Provokationen, gezielte Desinformation sowie das Schüren von Misstrauen in der Bevölkerung.

"Die Analyse des ISW ist eine Analyse der sogenannten Informationskonfrontations-Doktrin (IKD), die seit Anfang der 2000er-Jahre eine zentrale Bedeutung in der russischen Militärstrategie hat", sagt Klemens Fischer im Gespräch mit FOCUS online.

"Russland versucht, seine Dominanz auszubauen"

Er arbeitet als Professor für Internationale Beziehungen und Geopolitik an der Universität zu Köln und gehörte rund 30 Jahre lang der österreichischen EU-Botschaft in Brüssel an. 

Fischer sagt: "Aufgrund dieser Doktrin sieht sich Russland in einem ständigen Zustand der Informationskonfrontation mit dem Westen." Moskau versuche, "seine Dominanz auszubauen und Gegner daran zu hindern, Einfluss zu gewinnen". Das übergeordnete Ziel, so erklärt er es, sei eine Veränderung der europäischen Sicherheitsordnung. 

Diese soll Hand in Hand mit einem Machtzuwachs Moskaus herbeigeführt werden. "Die Analyse des ISW zeigt ganz klar, welche Maßnahmen Russland im Rahmen dieser Doktrin bereits gesetzt hat, welche Ziele es damit erreicht hat und welche potentiellen weiteren Schritte folgen könnten", sagt der Professor.

So heißt es im ISW-Bericht beispielsweise, dass Russland in den vergangenen Jahren an einer Vielzahl offener und verdeckter Angriffe auf Nato-Staaten beteiligt war. Darunter Sabotageakte, Störungen der elektronischen Kriegsführung (EW), GPS-Störungen und Brandstiftungen.

Fischer: Ein ISW-Schlüsselsatz muss hervorgehoben werden

In der jüngsten Vergangenheit hätten die Russen diese Angriffe intensiviert - unter anderem mit den Drohnen und Kampfjets, die in Nato-Luftraum eindringen. Auch von der "Umstrukturierung der russischen Militärbezirke an der Westgrenze" und dem Aufbau von Militärstützpunkten an der Grenze zu Finnland ist die Rede.

Die Angriffe haben laut den ISW-Analysten ein klares Ziel: die europäische Bevölkerung zu verängstigen und die Entschlossenheit der Nato zu schwächen. Das mag bedrohlich klingen. Fischer weist aber auf einen zentralen Punkt hin.

"Der Schlüsselsatz kommt vom ISW selbst und muss ganz klar hervorgehoben werden: Die Denkfabrik hat keine Anzeichen dafür festgestellt, dass Russland sich derzeit aktiv auf einen unmittelbar bevorstehenden Konflikt mit der Nato vorbereitet", sagt er. 

In vielen Berichten würde das Statement teilweise oder sogar komplett ignoriert. "Vielmehr wird dem ISW nahezu unterstellt, vor einem drohenden Angriff Russlands auf die Nato zu warnen", so Fischer. Dabei seien die als "Phase 0" bezeichneten Vorgänge, von denen die ISW-Analysten schreiben, weder neu noch überraschend.

Darum sind die Inhalte des ISW-Berichts eigentlich nicht neu

Fischer betont: "Die russische Strategie der Verunsicherung des – ideologischen und geopolitischen – Gegners fand während des Kalten Kriegs statt, erlebte eine Pause während der Neu- und Umorientierung Moskaus, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war, steigerte sich im Vorfeld der Krim-Okkupation und hat seit der Invasion der Ukraine sprungartig zugenommen."

Eine Shahed-Drohne iranischer Bauart, die im Ukraine-Krieg zum Einsatz kommt.
Eine Shahed-Drohne iranischer Bauart, die im Ukraine-Krieg zum Einsatz kommt. picture alliance / Middle East Images | Anonymous

Russland ist in Fischers Augen bereit, das Völkerrecht auszureizen. Er weist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Luftraumverletzungen, die in den vergangenen Wochen gemeldet wurden. So war im September eine große Zahl von Drohnen in den Luftraum Polens und damit der Nato eingedrungen. 

Estland meldete drei russische MiG-31-Kampfjets im eigenen Luftraum. Und in Dänemark und Deutschland wurden Drohnen über Flughäfen und kritischer Infrastruktur gesichtet. Es steht die Vermutung im Raum, dass Russland etwas mit den Ereignissen zu tun hat. Der Kreml wies die Anschuldigungen zurück.

Richter: Luftraumverletzungen auch schon in der Vergangenheit

Wolfgang Richter, Oberst a. D. und Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP), sieht die ISW-Analyse ähnlich kritisch wie Fischer. "Sie interpretiert Einzelereignisse, deren Ursachen weitgehend ungeklärt sind und vermutet ein russisches Gesamtkonzept dahinter", sagt er zu FOCUS online.

Gelegentliche Luftraumverletzungen über der Ostsee gab es laut dem Militärexperten auch in der Vergangenheit. "Vor allem in den engen internationalen See- und Luftkorridoren zwischen finnischen, russischen und estnischen Territorialgewässern im finnischen Meerbusen, aber auch zwischen Kaliningrad und Gotland kam es zu unbeabsichtigten und meistens geringfügigen Abweichungen auf beiden Seiten."

Richter weist auch darauf hin, dass bei den Drohnensichtungen über Dänemark oder Deutschland bis heute unklar ist, wer die Fluggeräte gesteuert hat. "Die Geografie im Norden legt die Steuerung von Schiffen aus nahe; in Deutschland spricht Vieles dafür, dass es sich um private Betreiber im Lande handelt", sagt er.

"Wirkliche Geheimnisse nicht unter freiem Himmel zur Schau gestellt"

Der Meinung des Ex-Oberst zufolge muss erst Ursachenforschung betrieben werden, bevor über ein russisches Konzept und eine angebliche "Phase 0" spekuliert wird. Er sagt: "Zweifellos wird in Spannungszeiten die Spionagetätigkeit aller Seiten intensiviert. Aber dass sporadisch auftauchende Drohnen geeignete Mittel sind, um Anlagen wie Flughäfen auszuspähen, ist weniger plausibel."

Viele europäische Staaten hätten den "Vertrag über den Offenen Himmel" (Open Skies) unterzeichnet, der jährlich eine bestimmte Anzahl vereinbarter Beobachtungsflüge über dem Staatsgebiet anderer Vertragsstaaten ermöglicht. Die USA und Russland sind inzwischen aus der Vereinbarung ausgestiegen. "Wirkliche Geheimisse werden nicht unter freiem Himmel zur Schau gestellt", sagt Richter.

Für ihn ist klar: Wenn es das Ziel Russlands wäre, durch "Nadelstiche" Angst im Westen zu schüren und die Entschlossenheit der Nato zu schwächen, dann wäre dieses Manöver gescheitert. Denn: "Die Politik ist alarmiert, die Verteidigungsbereitschaft wächst und die Kriegstüchtigkeit nimmt stetig zu."

Geopolitische Hintergründe für Russlands Vorgehen

Geopolitik-Experte Fischer geht noch auf einen anderen Aspekt ein. "Das international und vor allem in sicherheitspolitischen Kreisen äußerst anerkannte RAND Institut verweist bereits seit drei Jahren auf den immer massiveren Informationskrieg, der zwischen Russland und dem Westen ausgetragen wird", sagt er.

Trotzdem: Dass sich Russland auf eine Auseinandersetzung mit der Nato vorbereitet, ist nicht aus der Luft gegriffen, wie Militärexperte Richter betont. Allerdings eher reaktiv als aktiv im Sinne eines Angriffskrieges. Durch den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands habe sich Moskaus strategische Lage in Nordeuropa erheblich verschlechtert.

"Mit der Wiedereinführung des Militärbezirks Leningrad entlang der finnisch-norwegischen Grenze will Russland seine regionale Militärpräsenz erhöhen. Allerdings fehlen dort ausreichende Bodentruppen, da sie überwiegend in der Ukraine gebunden sind", so Richter.

Ihm zufolge ist Russland den europäischen Nato-Verbündeten außerdem nicht nur personell, sondern auch "in den wesentlichen konventionellen Waffenkategorien deutlich unterlegen". Das gelte vor allem für die Luft- und Seestreitkräfte. 

Dazu kommt, dass die "russische Armee noch jahrelang in der Ukraine gebunden sein wird, selbst wenn es dort kurzfristig zu einem Kriegsende kommen würde". Für Richter steht fest: Ein plausibles Szenario für einen russischen Angriff auf Nato-Verbündete existiert nicht.

Geopolitische Hintergründe für Russlands Vorgehen

Geopolitisch lässt das russische Vorgehen der vergangenen Wochen, das der ISW-Analyse zugrunde liegt, in Fischers Augen zwei Schlüsse zu. Im Kern geht es um die Ukraine. Zum einen versuche Russland, die "Schwächen der Nato-Verteidigungsfähigkeiten öffentlichkeitswirksam aufzudecken". 

Damit, so erklärt es Fischer, soll das Verteidigungsbündnis möglicherweise gezwungen werden, die vorhandenen Mittel für die eigene Aufrüstung zu verwenden, anstatt sie der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Er spricht von einer Art "Verteilungskampf" zwischen der Nato und der Ukraine, aus dem die Ukraine geschwächt hervorgehen soll.

Zum anderen dient der "hybride Krieg gegen die Nato der Verunsicherung und Destabilisierung, die darauf abzielt, im Westen ein politisches Umfeld zu schaffen, das die Unterstützung der Ukraine nicht mehr mitträgt", sagt Fischer.