Interview mit Generalleutnant - Nato-General rasiert „Zeitenwende“ und fordert ganz andere Kehrtwende – wegen Putin
Napoleon Bonaparte war ein Feldherr, der von Politikern keine allzu hohe Meinung besaß: „In der Politik ist Dummheit kein Handicap“, sagte er. 200 Jahre nach dem Tod Napoleons blickt man in der Führung der Bundeswehr etwas höflicher, aber ähnlich skeptisch auf das Wirken der Politiker. Das liegt auch daran, dass diese Berufsgruppe dazu neigt, große Reden zu schwingen (Scholz: „Wir erleben eine Zeitenwende“), denen im Alltag kleine bis keine Aktivitäten folgen.
Unsere Verteidigungsminister kennen ihr Einsatzgebiet oft nur vom Hörensagen oder aus dem Fernsehen (Lambrecht, von der Leyen, Kramp-Karrenbauer) und gelten in den Medien als Experten, wenn sie – wie der Jurist Boris Pistorius – vor Jahrzehnten ihren Grundwehrdienst geleistet haben.
Pistorius denkt und spricht volkstümlich und richtig
Fest steht: SPD-Politiker Pistorius ist der Mann, das hat er als Oberbürgermeister von Osnabrück gelernt, der volkstümlich denkt und spricht. Auf dem Bundeswehr-YouTube-Kanal sagt er lauter richtige Sachen, zuletzt am 7. Februar den denkwürdigen Satz: „Ohne die Menschen in Uniform ist das alles nichts, was wir tun.“
Zuvor hatte er die Bundesbürger im Parlament mit dem Satz aufgeschreckt: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“ Den Kontext – warum bis 2029? Und in welchem Zustand befindet sich die Truppe heute? – lieferte er nicht. Grund genug, bei einem Mann nachzufragen, der sein Leben dem Militär gewidmet hat, der es bis in die Führungsebene der Streitkräfte schaffte und zuletzt in Stettin als Kommandeur der Nato-Truppen entlang der Nordostflanke diente.

Chelsea Spieker hat mit Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart für den „Pioneer“-Podcast gesprochen. Hier die Kurzfassung eines Interviews, das man nur als Warnung verstehen kann – als Warnung vor russischen Aktivitäten, denen keine entsprechende europäische Ambition gegenübersteht.
Pioneer: Herr Generalleutnant von Sandrart, Sie waren bis November für die Nordostflanke der Nato zuständig, eine 2.200 Kilometer lange Grenze der Nato-Staaten zu Russland. Wie sind die Streitkräfte dort aufgestellt?
Generalleutnant v. Sandrart: History and Geography matters: Seit über 1.000 Jahren ist der Korridor von Zentralasien nach Zentraleuropa und umgekehrt kriegerisch wie auch handelsmäßig gekennzeichnet durch die Strecke Moskau, St. Petersburg, Minsk, Warschau, Berlin. Die Streitkräfte, die dort stationiert sind, teilen sich im Wesentlichen in zwei Gruppen auf: die nationalen Verteidigungskräfte der drei baltischen Staaten und Polen und die Kräfte, die insgesamt 20 Nato-Partner dort zur Unterstützung stationiert haben.
Und diese Militäreinheiten sind auch tatsächlich einsatzbereit?
Generalleutnant v. Sandrart: Diese Streitkräfte sind einsatzbereit. Sie sind nach den Entwicklungen und der rechtswidrigen Eroberung der Krim seitens Russland 2014 dorthin verlegt worden und stellen gemeinsam mit den nationalen Verteidigungskräften sehr glaubwürdig eine Verteidigungsbereitschaft her. Die allerdings – das sage ich ganz ehrlich – auf ein neues Level gehoben werden muss, nachdem wir feststellen mussten, dass Russland mit dem Angriff auf die Krim das Thema Krieg als Mittel seiner Politik auf eine neue Ebene gehoben hat. Dafür reichen die Kräfte, die wir derzeit dort haben, nicht mehr aus.
„Ich halte die Kriegsgefahr für hoch“
Viele Experten gehen davon aus, dass Russland bis 2029 in der Lage sein könnte, die Nato herauszufordern. Wie groß ist die Kriegsgefahr?
Generalleutnant v. Sandrart: Ich halte die Kriegsgefahr, auch wenn ich derzeit einen Angriff für unwahrscheinlich halte, für hoch.
Warum?
Generalleutnant v. Sandrart: Weil Russland bereits jetzt die Fähigkeit hätte, parallel zu seiner Bindung im Ukraine-Krieg Kräfte frei zu machen für einen limitierten, räumlich und zeitlich begrenzten Einsatz gegen Nato-Territorium, zum Beispiel in Estland, Lettland, Litauen oder in der berühmten Suwałki-Lücke – dem Landkorridor, der Kaliningrad von Weißrussland trennt.
Warum Russland mehr produziert als für die Ukraine nötig
Was genau tut Russland derzeit?
Generalleutnant v. Sandrart: Russland rekonstituiert sich von seiner Bindung im Ukraine-Krieg, baut also parallel dazu Kräfte auf und produziert bereits mehr als es für den Ukraine-Krieg braucht. Mit jedem Deal, der zulasten der Ukraine unter den Konditionen Russlands erfolgt, steigt die Kriegsgefahr in unserem Raum an der Nordostflanke signifikant.
Das bedeutet auch, dass die Nato-Mitgliedsstaaten in Europa nicht unbedingt bis 2029 die Zeit hätten, sich darauf vorzubereiten, richtig?
Generalleutnant v. Sandrart: Das ist sehr richtig. Diese Zahl 2029 ist im Wesentlichen politisch motiviert. Russland weiß ganz genau, dass sein Window of Opportunity in dem Moment schließt, wo die ganzen Programme, die die Nato aufgelegt hat, zur Wirkung kommen.
Heißt was?
Generalleutnant v. Sandrart: Russland nutzt die Zeit bis 2029, um die Allianz zu testen – auch mit kriegerischen Mitteln. Die Zeit bis 2029 ist die, um die wir uns Sorgen machen müssen. Es geht um heute Nachmittag und um Tonight und das sollten wir in allem, was wir tun, ernsthaft berücksichtigen.
Beschaffung neuer Systeme wirkt sich erst im nächsten Jahrzehnt aus
Wenn Sie von Tonight sprechen: Wäre die Nato heute Nacht handlungsfähig, um einen russischen Überraschungsangriff effektiv abzuwehren?
Generalleutnant v. Sandrart: Als Kommandeur der Nato-Nordostflanke sage ich, dass wir einsatzbereit waren gegen die derzeit existierende, verbliebene Bedrohung auf der russischen Seite. Aber in dem Moment, wo das Muster in der Ukraine von Angriff auf Halten schaltet und Russland einsatzbereite Kräfte freimachen kann, um sie woanders zu nutzen, ändert sich das signifikant.
Der Bundestag hat bereits zum zweiten Mal den Weg für ein Sondervermögen, also massive Investitionen im dreistelligen Milliardenbereich, freigemacht. Reicht das?
Generalleutnant v. Sandrart: Die Beschaffung von neuen Systemen, die sich erst im nächsten Jahrzehnt auswirken, macht uns im Moment nicht kriegs- und verteidigungsbereit.
„Ich kann den Begriff ‚Zeitenwende‘ nicht mehr hören“
Spüren Sie seit der „Zeitenwende“-Rede von Olaf Scholz einen Wandel in der Allianz?
Generalleutnant v. Sandrart: Ich kann den Begriff „Zeitenwende“ nicht mehr hören. Und auch „Kriegstauglichkeit“ nicht. Das alles verpufft am Ende und das liegt an uns. Wir brauchen eine Kehrtwende, die sich nicht ausschließlich auf den monetären Aspekt bezieht. Es sind die Prozesse und die darin involvierten Menschen, die den Systemfortschritt verhindern. Das gilt es, neu zu organisieren.
Heißt, es braucht auch personelle Veränderungen?
Generalleutnant v. Sandrart: Nun stehe ich hier noch in Uniform und ich werde das nicht nutzen, um mich dazu konkret zu äußern. Ich sage dazu nur so viel: Neues schaffen Sie nur mit Neuem. Ich vergleiche das immer mit dem Maschinenbau: Wenn Verbrennungs-Bauingenieure versuchen, einen Elektromotor zu bauen, dann wird das vermutlich genauso wenig gut klappen, wie mit einem alten Team, das ausgedient hat, zu versuchen, schnell Neues zu schaffen. Ich hoffe sehr, dass diese Erkenntnis sich auch personell umsetzt.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Generalleutnant v. Sandrart.

Fazit: Hier spricht die militärische Rationalität, die wir nicht überhören sollten. Sie kontrastiert mit vielem, was Politiker dem Publikum mitteilen. Dieses Interview bietet das, was die Amerikaner First-Hand-Information nennen würden.