Kommentar von Hugo Müller-Vogg - Zu wenig Zeit für Kinder? Baerbocks Job-Coup lässt tief blicken

  • Im Video: Baerbock soll Präsidentin der UN-Generalversammlung werden

Was genau unter „feministischer Außenpolitik“ zu verstehen ist, konnte Noch-Außenministerin Annalena Baerbock nie überzeugend erklären. Machtpolitik in eigener Sache zählt für die Grünen-Politikerin offenbar dazu. Mit derselben Robustheit, mit der sie 2021 ihrem Parteifreund Robert Habeck die Kanzlerkandidatur wegschnappte, hat sie sich jetzt einen neuen Posten gesichert: Präsidentin der UN-Generalversammlung in New York.

Zu der viel kritisierten „Aktion Abendsonne“, bei der abgewählte Regierungen möglichst viele Getreue noch schnell mit lukrativen Posten versorgen, passt dies nicht so recht. Denn das Amt, das Baerbock im September antreten soll, ist auf ein Jahr begrenzt. Aber es ist ein geeignetes Sprungbrett, um sich anschließend eine dieser vielen hochbezahlten Positionen bei einer internationalen Organisation zu ergattern.

Von wegen mehr Zeit für die Kinder

Vor diesem Hintergrund erscheint der Brief, mit dem sich Baerbock nach der verlorenen Wahl aus der ersten Reihe der Grünen zurückzog, in einem anderen Licht. Es ging ihr offenbar nicht in erster Linie darum, künftig mehr Zeit für ihre beiden Töchter (9 und 13 Jahre) zu haben. Vielmehr wollte sie sich erst gar nicht in das Gerangel um die wenigen, den Grünen verbliebenen Spitzenpositionen begeben; sie war bereits auf dem Absprung.

Apropos Kinder: Spitzenpolitiker haben zwangsläufig viel weniger Zeit für ihre Kinder als Eltern in „normalen“ Berufen, zahlen also einen hohen persönlichen Preis. Ob Baerbock in New York viel mehr Zeit für ihre Töchter haben wird, erscheint fraglich. Und ebenso, ob es den Kindern gefällt, wenn der Vater – der mit der Mutter in Trennung lebt – in Berlin bleiben will, wie „Bild“ berichtet.

Über den Autor: Hugo Müller-Vogg

Dr. Hugo Müller-Vogg ist Journalist, Buch-Autor und ehemaliger Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ).

Baerbock bleibt der Weltpolitik erhalten

Jedenfalls hat Baerbock es geschafft: Sie bleibt in der nächsten Zukunft in der Welt, an der sie seit 2021 so sehr Gefallen gefunden hat: Viele Begegnungen mit den Großen der Welt, viele Fernsehkameras und viele Statements, in denen sie gerne – meist in verschwiemelten Sätzen – ihre eigene Bedeutung für die Weltpolitik betonen kann.

Baerbock wird vom noch im Amt befindlichen Kabinett Scholz/Habeck nach New York entsandt. Ihre Wahl durch die UN-Vollversammlung gilt als sicher, da diese Position wieder einmal der Bundesrepublik zusteht – zum zweiten Mal seit 1980.

Der potentielle nächste Kanzler soll in dieses Postengeschacher eingeweiht gewesen sein. Einspruch dürfte Friedrich Merz (CDU) nicht eingelegt haben. Schließlich war er seit Tagen um die Zustimmung der Grünen zu seiner XXL-Verschuldung bemüht. Da war das Abnicken dieser Personalie sicher kein Schaden.

Schmid wird durch „Auslaufmodell“ Baerbock ersetzt

Den Schaden hat dagegen die Diplomatin Helga Schmid, die bereits im vergangenen Sommer von der Ampel-Regierung für das hohe, eher repräsentative UN-Amt nominiert worden war. Die Topdiplomatin war einst Büroleiterin des grünen Außenministers Joschka Fischer und später Generalsekretärin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Der ehemalige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, ein eher zurückhaltender Diplomat, kommentierte Schmids Verdrängung mit drastischen Worten: Es sei „eine Unverschämtheit, die beste und international erfahrenste deutsche Diplomatin durch ein Auslaufmodell zu ersetzen“, sagte Heusgen dem „Tagesspiegel“.

Sigmar Gabriel hielt nie viel von Baerbock

Der frühere Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hielt von Baerbocks Arbeit als Außenministerin nie viel. Das spiegelt sich jetzt in seiner Äußerung über das neue Amt der Grünen wider: Helga Schmid sei „eine großartige Diplomatin“. Und: „Frau Baerbock kann viel von ihr lernen.“ Vernichtender kann ein Urteil nicht ausfallen.

Selbst aus dem Umfeld der Grünen kommt scharfe Kritik. Volker Beck, von 1994 bis 2017 einer der führenden Grünen im Bundestag, spottete auf „X“: Na, masel tov, @ABaerbock! Da hat sich die Haltung zur @UNRWA doch ausgezahlt. Wer eine Karriere bei der @UN anstrebt, disqualifiziert sich, wenn er Terrorverstrickungen oder korruptiven Zusammenhängen anprangert, kritisiert oder abstellt.“

Wenn jede Frau zuerst an sich denkt, ist an alle Frauen gedacht

Beck, seit drei Jahren sehr engagierter Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, hatte Baerbock immer wieder vorgeworfen, die Zahlungen an das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) nicht eingestellt zu haben.

UNWRA-Mitarbeiter stehen nämlich unter dem Verdacht, mit der palästinensischen Terrororganisaiton zusammenzuarbeiten. Auch hat Baerbock häufig das Vorgehen Israels im Gaza-Streifen kritisiert und zur Hilfe der lebenden Palästinenser aufgerufen.

Diese Haltung hat bei der israelischen Regierung Kritik ausgelöst, dürfte aber Baerbocks Wahlchancen in der UN-Vollversammlung nicht schmälern. Dort sind die Unterstützer Israels in der Minderheit. Ihrer „Anschlussverwendung“ dürfte also nichts im Weg stehen. Sie kann ein neues Kapitel „feministischer Außenpolitik“ aufschlagen: Wenn jede Frau zuerst an sich denkt, ist an alle Frauen gedacht. Und ganz nebenbei: Ihr Englisch wird nach einem Jahr New York sicher besser sein als heute.