Zwischen Heimat, Demokratie und Zukunft: Der Allgäu Tag fragt, wie wir die Werte der Memminger Zwölf Artikel von 1525 heute leben und bewahren.
Kempten/Allgäu – Welche Verantwortung tragen die Menschen in unserer Region heute für die Erhaltung der Werte, die 1525 in den Memminger Zwölf Artikeln formuliert wurden? Das war das Hauptthema des diesjährigen Allgäu Tages im Kornhaus. Oberbürgermeister Thomas Kiechle als Aufsichtsratsvorsitzender der Allgäu GmbH sprach in seiner Einführung über die Chancen, die die Region trotz vieler aktueller Unsicherheiten bietet: Das Allgäu könnte seiner Meinung nach zum nachhaltigsten Gebiet Deutschlands werden. Nicht nur für den Wintersport sei man hier hervorragend aufgestellt, sondern auch für Wandern, Radfahren, Freizeit in der Stadt.
Nur vier Prozent der weltweiten Tourismusgebiete bieten im ganzen Jahr eine Vielfalt von Möglichkeiten. Das Allgäu gehöre dazu und man könne stolz darauf sein. „Niemand braucht Angst vor der Zukunft zu haben“, betonte er. „Wir können alle Herausforderungen angehen, wenn wir vernetzt bleiben und Verständnis füreinander haben.“ Die Demokratie sei die Grundlage für alle richtigen Entscheidungen. Er bekannte sich als „glühender Vertreter der europäischen Einigung“.
Verkehrsverbund und ICE-Anschluss
Kiechle überraschte mit zwei Versprechen: Er will eine ICE-Verbindung Ulm-Memmingen-Kempten-Oberstdorf einfordern und sich als Aufsichtsratsvorsitzender erfolgreich dafür einsetzen, dass beim Thema Verkehrsverbund keine Trennlinie mitten durch das Allgäu zugelassen werde.
Das Hauptthema des Tages war die Verbindung zwischen dem Bauernkrieg vor 500 Jahren und der Gegenwart. Das Improtheater „Die Wendejacken“ näherte sich dem Thema spielerisch-humorvoll an. Mit großer Spannung wurde der Vortrag von Prof. Heribert Prantl erwartet. Der ehemalige Richter und Staatsanwalt ist im zweiten Abschnitt seines Berufslebens als Journalist und als einer der Chefredakteure der Süddeutschen Zeitung vor allem durch seine Kolumnen zu einer Art sozialen Gewissens der Republik geworden.
Heimat und Provinz
„Die Festwoche ist eine Heimatwoche und der Allgäu Tag ist ein Heimattag“, mit dieser Aussage begann er seine Rede. Das Wort „Heimat“ gehöre zu den schönsten der deutschen Sprache. Es sei trotzdem jahrzehntelang suspekt gewesen, weil die Falschen damit Politik gemacht hätten. Verklärt und verkitscht habe man dieses Wort der Geborgenheit in ein Wort der Verlogenheit umgewandelt. Der Begriff „Heimat“ dürfe nicht denen überlassen werden, die damit „Schindluder treiben“, forderte Prantl. Deshalb sei es erfreulich, dass dieses wertvolle Wort zurzeit eine Renaissance erlebe.
Er spreche gerne von den Vereinigten Provinzen von Europa und verstehe darunter die Gesamtheit aller Regionen von Piemont über das Allgäu bis nach Pannonien. Auf dieser Ebene könne Heimatpolitik gemacht werden. Diese sei eine Politik gegen Extremismus, weil sie den Menschen die Unsicherheit nehme und ihnen Halt gebe. In der Provinz bestehe dafür die Möglichkeit, weil dort die Zusammenhänge überschaubar seien.
Allgäuer Wurzeln der deutschen Demokratie
„Die Wurzeln geben Halt“, sagte der Referent. Deswegen wolle er über die Wurzeln unserer Demokratie sprechen. „Die Geschichte der deutschen Demokratie beginnt 1525 mit einer spektakulären Urkunde, mit einem Freiheits- und Gerechtigkeitsmanifest, mit den Zwölf Artikeln von Memmingen.“ Die Bauernkriege seien der gescheiterte Versuch gewesen, diese umzusetzen.
Prantl bezeichnete die Zwölf Artikel als „einen Verfassungsentwurf von menschenrechtlicher Kraft“, der eine bis heute moderne Vision von Brüderlichkeit und Gerechtigkeit beinhalte. Er sprach von einem im Allgäu errichteten „Monument der Freiheitsgeschichte“. Deshalb sei das Allgäu das „Tor zur deutschen Demokratie“. Auch der Artikel 1 des Grundgesetzes über die Unantastbarkeit der Menschen und ihrer Würde sei „ein fernes Echo der Bauernartikel von 1525“, beschlossen vom ersten deutschen „Volksparlament“.
Der „Aufstand der mitteleuropäischen Provinzen“ im Jahre 1525 sei noch immer zu wenig bekannt und werde zu wenig geschätzt. Das habe auch damit zu tun, dass die deutsche Demokratie eine schüchterne sei, die sich nicht traue, stolz darauf zu sein, was sie könne und woher sie komme. „Das Jahr 2025 ist das Jahr, um das gründlich zu ändern“, forderte der frühere SZ-Chefredakteur. In die Erinnerung einbezogen werden sollte auch „die lange Reihe von Mutmachern und Aufklärern“, an deren Beginn Sebastian Lotzer und Christoph Schappeler stünden, die als Hauptverfasser der Memminger Artikel gelten.
Prantl zählte einige der erhalten gebliebenen Allgäuer Originalschauplätze auf, die als Erinnerungsorte für das 16. Jahrhundert dienten: die Predigerbibliothek in Isny, die Martinskirche in Memmingen, die Waldburg bei Wangen und die Blasiuskirche in Kaufbeuren.
Die Rolle der „Gemeinen Frau“
„Dieser Bauernkrieg war nicht nur die Revolution des Gemeinen Mannes, sondern auch der Gemeinen Frau“, korrigierte der Referent den von Peter Blickle geprägten Begriff. Jeder kenne Götz von Berlichingen und seinen berühmten Satz aus Goethes Drama. In seiner Burg eingekesselt, ruft er aus dem Fenster dem Anführer der überlegenen kaiserlichen Truppen zu: „Von Ihro Kayserliche Majestät, hab ich, wie immer schuldigen Respect. Er aber, sag‘s ihm, er kann mich im Arsche lecken.“ (Ab der 2. Auflage wurden die letzten drei Worte durch drei Punkte ersetzt –Anm. Red.) Aber niemand kenne Magdalena Scherer, die gleichermaßen deftig protestierte, als sie ihren Gegnern ihr entblößtes Hinterteil präsentierte. „Das war Agitation, das war Provokation, das war Revolution“, hieß die Wertung von Prantl. Magdalena Schrerer betrieb in Stuttgart ein öffentliches Badehaus, das sie zu einer lokalen Kommunikationszentrale verwandelte, wo sie Menschen für den Aufruhr mobilisierte.
Als zweite Frau nannte der Gastredner Margarete Renner, die bereits vor dem Bauerkrieg durch ihren Widerstand gegen Frondienste auffiel. Sie schloss sich dem Neckartaler Haufen an. „Sie war für die kämpfende Truppe eine spirituelle Autorität.“ Bei der Weinsberger Bluttat sei sie eine mobilisierende Kraft gewesen. Dieses Ereignis bezeichnete Prantl als einen der wenigen Triumphe der Bauern 1525. Obervogt Graf Ludwig von Helfenstein hatte angedroht, aufständische Bauern verbrennen zu lassen. Laut Prantl sei das der Grund dafür gewesen, dass am Ostermontag 6.000 von ihnen unter der Führung von Jäcklein Rohrbach die Burg und die Stadt Weinsberg stürmten, den Grafen und seine Landsknechte überwältigten und durch die Spieße jagten. In der Fachliteratur findet man allerdings niemanden, der die Bezeichnung Triumph teilen würde, ohne das Adjektiv „zweifelhaft“ davor zu setzen. Gerd Schwerhoff („Der Bauernkrieg. Geschichte einer wilden Handlung“, C.H.Beck 2024) weist darauf hin, dass die Bauern wussten, dass die Burg lediglich acht Mann Besatzung hatte und sie kaum mit Gegenwehr rechnen mussten. Lyndal Roper („Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525“, S. Fischer 2024) schreibt sogar von einer „Gräueltat“, von der „schlimmsten Gewalttat, die von einem Bauernhaufen begangen wurde“. Zu den Toten zählten 16 Adelige und eine ungewisse Zahl von Knechten und Reisigen. Schwerhoff hebt hervor, dass es sich dabei im ganzen Bauernkrieg um eine einmalige Aktion gehandelt habe, nirgendwo sei es zu einer Wiederholung gekommen. Aber alle Wissenschaftler stimmen mit Prantls Aussage überein, dass die Feudalherren diese Tat absichtlich und mit Berechnung dazu nutzten, die Bauern zu dämonisieren. Margarete Renner soll beispielsweise die Aufständischen aufgefordert haben, das Bauchfett des getöteten Grafen zur Pflege ihrer Waffen und Schuhe zu verwenden. Solche Geschichten hätten eine Macht, die eine Revolutionärin zu einer blutrünstigen Frau verwandle, betonte Prantl. Es sei ein großer Verdienst der Jubiläumsausstellungen, die Rolle der Frauen zu präsentieren und ihre Marginalisierung zu beenden (Der Kreisbote berichtete anhand der Landesausstellung in Bad Schussenried darüber). Allerdings gebe es keine Hinweise darauf, dass unter den 50 Vertretern in der Memminger Kramerzunft Frauen gewesen wären, 1848 in der Paulskirche saßen sie nur in den Zuhörerrängen, auch bei den Grundgesetzberatungen auf Herrenchiemsee fehlten sie. Und im neu gewählten Bundestag ist ihre Zahl geringer als im alten. Das Fazit des Gastredners: „Die Revolution der Gemeinen Frau ist noch nicht zu Ende.“
Die Demokratie und ihre Feinde
„Demokratie will, dass alle gemeinsam entscheiden. Demokratie heißt, dass die Schwachen genauso viele Rechte haben wie die Starken“, sagte Prantl. Das würden die Leute, die viel Land, viel Geld und viel Macht hätten, nicht gut finden. Gegen diese „Starken“ habe es die Demokratie schon immer schwer gehabt, sich zu behaupten. Wie es einem ergehen könne, wenn man das Ende des Rechts des Stärkeren fordere, hätten die schwäbischen Bauern 1525 bei der Niederschlagung ihrer Revolution erfahren. „Der preußische König sagte noch 1849, gegen Demokraten helfen nur Soldaten.“ Gegen diese Kräfte habe man die Demokratie mühsam ankämpfen müssen. Und man müsse sie immer wieder durchsetzen gegen diejenigen, die immer alles alleine bestimmen wollten. „Und davon gibt es derzeit etliche“, warnte der Gastredner. „Auch in Ländern, die als Kernstaaten der Demokratie gelten.“ Eine demokratische Wahl sorge nicht per se für demokratische Zustände. Wenn in den USA ein Recht- und Machthaber jeden Tag seinen Filzstift zücke, um selbstherrliche Dekrete zu unterschreiben, sei dieser längst kein Demokrat, er demonstriere lediglich seine autokratische Sucht. Trump stehe für einen weltweiten Trend zum autokratischen Autoritären, auch in demokratischen Staaten. Die Rechtsaußenparteien in Europa würden davon stimuliert.
Die „große“ und die „kleine“ Politik
„Politik ist ein Prozess, in dem sich die Gesellschaft darauf verständigt, wie sie ihr Zusammenleben organisiert und was ihr dabei am wichtigsten ist“, lautete die Definition Prantls im letzten Teil seines Vortrages. Das könne man nirgendwo so gut beobachten wie in der Kommunalpolitik. Wenn man das, was man in Brüssel und in Berlin tue, als „große“ Politik bezeichne, liege es auf der Hand, die Kommunalpolitik als „kleine“ Politik zu titulieren. Wenn man diese als „Schule der Demokratie“ benenne, klinge das ein wenig herablassend und nach Schülermitverwaltung. „In Wahrheit ist die ‚kleine‘ Politik die hohe Schule“, betonte der Referent. Nirgendwo sonst müsse sich ein Politiker auf Schritt und Tritt verantworten und Anfeindungen aushalten. Nirgendwo sei die eigene Lebenswelt so unmittelbar berührt. „Kommunalpolitik ist demokratische Basispolitik.“ Es gehe dabei darum, „das Leuchten in der Provinz“ zu organisieren. Dafür halte auch die Geschichte Leuchtmittel bereit, wie er in seinem Vortrag aufzuzeigen versuchte, diese beleuchte nämlich die Gegenwart und scheine in die Zukunft. Heute gelte es, den Mut der Bauern von damals als Vorbild zu nehmen. Prantl schloss seine Rede mit den Worten: „Demokratie ist Heimat. Verteidigen wir also unsere Heimat!“ und bekam lange anhaltenden Applaus.
Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.
Mit dem Kreisbote-Newsletter täglich zum Feierabend oder mit der neuen „Kreisbote“-App immer aktuell über die wichtigsten Geschichten informiert.