An deutschen Hochschulen: Professoren warnen vor Lesekrise bei Studenten: "Die glauben zum Teil alles"

Michael Sommer ist besorgt über die Entwicklungen an den deutschen Hochschulen. Besser gesagt: Über das, was er bei einigen seiner Studenten beobachtet. Sommer arbeitet als Professor für Alte Geschichte an der Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg.

In einem aktuellen Interview mit der "Welt" erklärte er: "Es gibt eine Gruppe von 20 bis 25 Prozent, bei der man sagt, die gehören nicht an die Uni." Weitere 20 Prozent seien spitze, "die lesen und machen alles mit".

"Und dann gibt es eine Mittelgruppe von etwa 60 Prozent, wo man früher gesagt hätte: Ja, die sind vielleicht nicht ‚super‘, aber mit denen kann man eigentlich ganz gut arbeiten." Genau diese Gruppe ist laut dem Professor zum Sorgenkind geworden.

Sommer beobachtet eine "Lesekrise" an deutschen Universitäten

"Die sind vielfach nicht mehr kompatibel mit den Erwartungen, die man in einer akademischen Institution an Studenten hat", so Sommer. "Sie erfüllen zum einen nicht die Eingangsvoraussetzungen, haben aber zum anderen auch nicht das Entwicklungspotenzial, dahin zu kommen, wo man sie haben will."

Gründe dafür gibt es in seinen Augen mehrere. Zum Beispiel die Rolle des "Lesens" im Leben der heutigen Studenten. In den Elternhäusern werde Kindern "oftmals nicht mehr vorgelesen", so der Professor. "Später in den Schulen gibt es dann als Feedback sinngemäß vor allem: Ja, ihr seid super, mit euch ist nichts falsch." 

Dazu kommt in seinen Augen eine Gesellschaft, die leistungsorientiertes Verhalten unter Generalverdacht stellt. "Wer gut ist, wer sich streckt und viel arbeitet, der ist ein Streber." Diese Dynamik sei allerdings vor allem in Deutschland zu beobachten. In vielen anderen Ländern "sind die Leistungsstarken die ‚Cool Kids‘", so Sommer.

"Man hat sich zu viele Leute reingeholt, die Unis viel zu groß gemacht"

Als Geschichtsprofessor beobachtet er die Folgen dieser Entwicklung. Im Uni-Alltag sei es für viele Studenten heutzutage schon ein Problem, "eineinhalb Stunden Lehrveranstaltung zu überstehen, ohne ständig auf dem Handy rumzuwischen, auf dem Laptop bei X rumzusurfen und Ähnliches".

Dass sich die bloße Präsenz von Smartphones auf die Aufmerksamkeit auswirkt, zeigt eine Studie der Uni Paderborn aus dem Jahr 2023. Dabei kam heraus, dass selbst ausgeschaltete Handys die Produktivität einschränken.

Sommer bemängelt aber noch andere Punkte. Einem Großteil der Hochschulgänger bereite das Lesen von, "sagen wir mal, mäßig schweren Texten Schwierigkeiten". Die Lesekrise kann in Sommers Augen gravierende Konsequenzen haben. 

"Ich sehe es an meinen Studenten. Die glauben zum Teil alles", warnte er im Gespräch mit der "Welt". "Ich habe einem Kollegen gegenüber mal behauptet, ich könnte die, wenn ich das wollte, zu fanatischen Nationalsozialisten machen – weil sie kaum Kritikfähigkeit haben."

Trend zur Akademisierung in Deutschland

Grundsätzlich glaubt Sommer, dass die Universitäten "überdehnt" wurden. "Man hat sich zu viele Leute reingeholt, die Unis viel zu groß gemacht", erklärte er. Menschen, die in einem Ausbildungsberuf besser aufgehoben wären, kommen an die Hochschulen.

Nach Ansicht des Historikers hätten das die Fachkräfte werden können, "die wir so dringend benötigen". "Zum anderen überfordert man aber auch viele Menschen total." Spätzünder, die an der Uni erst so richtig durchstarten, gebe es zwar – das sind dem Professor zufolge aber eher wenige.

Laut Statistischem Bundesamt waren im Wintersemester rund 2,9 Millionen Studenten an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Gegenüber dem Vorjahr hat sich der Wert leicht erhöht.

Der Trend zur Akademisierung, über den verschiedene Medien seit Jahren berichten, zeigt sich beim Blick auf eine von Statista erstellte Grafik. Im Vergleich zu den Nullerjahren ist die Anzahl der Studenten in Deutschland deutlich angestiegen. Damals lag das Niveau bei knapp zwei Millionen.

Drittel der Studenten "überfordert, unmotiviert, sich selbst überschätzend"

Mit seinem harten Urteil ist Sommer übrigens nicht allein. Die Juraprofessorin Zümrüt Gülbay-Peischard, die an der Hochschule Anhalt in Bernburg lehrt, beschreibt ganz ähnliche Zustände. Sie hat sogar ein Buch über ihre Beobachtungen im Uni-Alltag geschrieben. Es heißt "Akadämlich".

Die Kernaussagen spiegeln sich in einigen Interviews wider. Dem "Spiegel" sagte Gülbay-Peischard im April zum Beispiel: "Was ich beschreibe, erlebe ich täglich: Desinteresse, der ständige Griff zum Handy, Schwierigkeiten bei den einfachsten Absprachen."

Und weiter: "Heute geben viel weniger Studierende ihre Arbeiten rechtzeitig ab als noch vor zehn Jahren. Stattdessen bitten immer mehr um eine Fristverlängerung – mit den kreativsten Begründungen." 

Ihre Beobachtungen beziehen sich auf rund ein Drittel der Studierenden. Dieses Drittel ist der Juraprofessorin zufolge "überfordert, unmotiviert, sich selbst überschätzend, also absolut fehl am Platz".

Bleibt die intellektuelle Freude auf der Strecke?

Auch solide Rechtschreibkenntnisse vermisst Gülbay-Peischard bei vielen Studenten. "Ich habe zuletzt 400 Klausuren korrigiert – keine davon war fehlerfrei, was ich grundsätzlich nicht dramatisch finde. Aber etwa die Hälfte hatte ernsthafte Probleme mit Satzbau und Ausdruck", sagte sie dem "Spiegel". 

Insgesamt gibt es also heftige Kritik an den heutigen Studenten. Sommer erkennt im Gespräch mit der "Welt" allerdings auch eine Mitschuld an den jetzigen Zuständen beim Uni-Personal.

"Wir versuchen, sie mit irgendwelchen hochschuldidaktischen Methoden wie Gruppenarbeit und anderem Pipapo dort abzuholen, wo sie sind", so der Geschichtsprofessor. "Und ich habe den Verdacht, dass bei diesem Ansatz die Freude am intellektuellen Erlebnis völlig auf der Strecke bleibt."