Neues Wahlrecht teils gekippt: Das Bundesverfassungsgericht rettet die CSU
Das Bundesverfassungsgericht kippt Teile des neuen Wahlgesetzes der Ampel. Für die CSU als Klägerin bringt das Freude – aber auch Frust.
Karlsruhe/München – Es ist ein ungewöhnlich leiser Auftritt für einen sonst harten Oppositionsführer, aber er hallt nach. Ende März 2023, Plenardebatte des Bundestags zum Wahlrecht, da meldet sich kurz vor Ende Friedrich Merz zu Wort. „Ich möchte die Ampel fragen“, hebt er an, doch es folgt keine politische Gemeinheit, keine Schelte wie so häufig, sondern: „Ob die Möglichkeit besteht, dass wir noch einmal innehalten.“ Ob man die Abstimmung wenigstens um zwei Wochen verschieben könne, bittet der CDU-Chef.
Er blitzt ab, und zwar sofort. „Wird nicht besser“, wenn man noch 14 Tage lang rede, lässt SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich knapp wissen. Nun ja: Spätestens jetzt haben alle Beteiligten gelernt, dass man doch noch mal hätte reden sollen, sich vertagen vielleicht. Denn gut 15 Monate nach der Entscheidung des Bundestags, mit Ampel-Mehrheit gegen die Opposition durchgesetzt, stoppt das Bundesverfassungsgericht Teile des neuen Wahlrechts: Sie seien verfassungswidrig.

Urteil zu neuem Wahlrecht hat zwei Teile – beide sind brisant
Der Richterspruch aus Karlsruhe hat zwei große Teile. Brisant sind beide. Recht bekommt die Ampel mit ihrem Plan, den Bundestag zu verkleinern, zurück auf eine Richtgröße von 630 Abgeordneten, und selbst das ist im internationalen Vergleich exorbitant viel. Gelingen soll das, indem das komplizierte Geflecht aus Erst- und Zweitstimme, aus Direkt-, Listen-, Ausgleichs- und Überhangmandaten durchschlagen wird.
Bisher bekam jeder Sieger im Wahlkreis sein Mandat, und der Rest des Bundestags wurde so lange aufgefüllt und vergrößert, bis die Gesamtzahl der Abgeordneten dem Ergebnis der Wahl entspricht. Das führte zu einem Riesen-Parlament mit über 730 Abgeordneten; Platznot im Reichstag.
Urteil durchgesickert
Für Doris König, die stellvertretende Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, war es eine ungewöhnliche Situation. Sie verkündete am Dienstagvormittag ein Urteil, das schon bekannt war, weil der Urteilstext bereits Montagnacht kurzzeitig im Internet abrufbar war. „Das Gericht ist gerade dabei zu prüfen, wie es dazu kommen konnte“, sagte König bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. „Eventuell“, so König, habe es sich um „einen technischen Fehler“ gehandelt.
Die Ampel verfügt, dass nicht mehr jeder direkt Gewählte ein Mandat bekommt. Vereinfacht gesagt: Wenn es insgesamt nicht aufgeht, werden die Kandidaten mit dem niedrigsten Ergebnis gestrichen. Dagegen laufen vor allem städtische Abgeordnete der CSU Sturm. In heterogenen, bunten Städten wie München, Augsburg, Nürnberg holen die CSU-Kandidaten – wenn überhaupt – nur wenige Pünktchen mehr als der beste Gegenkandidat.
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Der Münchner Stephan Pilsinger im Westen zum Beispiel hatte nur 0,1 Prozent Vorsprung vor den Grünen, gerade mal 146 Stimmen. Auf dem Land fallen die schwarzen Siege höher aus, bis zu 32 Punkte Vorsprung, satte Ergebnisse zwischen 40 und 50 Prozent. In Ostdeutschland könnte die Regelung AfD-Bewerber treffen, die im Wahlkreis vielleicht knapp vor der CDU liegen. Passt so, urteilt Karlsruhe.
Sperrklausel hätte im Extremfall CSU aus dem Bundestag schleudern können
Der Teil, den die Richter stoppen, ist mindestens genauso kompliziert. Es geht um die „Grundmandatsklausel“. Bisher zog in den Bundestag ein, wer entweder bundesweit fünf Prozent holt („Fünf-Prozent-Hürde“) oder mindestens drei Direktmandate. Die Ampel wollte die Hürde erhalten, aber die Sache mit den drei Mandaten kippen. Das hätte im Extremfall dazu führen können, dass die CSU die Wahlkreise in Bayern gewinnt, bundesweit hochgerechnet aber unter fünf Prozent bleibt – dann wäre sie komplett aus dem Bundestag geflogen.
Getrickst und gestritten wird seit 1949
Schon bei der ersten Bundestagswahl 1949 wurde über das Wahlsystem debattiert. Der Parlamentarische Rat wollte eine Parteienzersplitterung wie in Weimarer Zeiten vermeiden. Die SPD plädierte für ein Verhältniswahlrecht, wonach jede Partei Sitze entsprechend dem Stimmenanteil erhält. Konrad Adenauer (CDU) sah es ganz pragmatisch und wollte ein System, das der Union am ehesten eine Mehrheit sichert. Adenauer warb für ein relatives Mehrheitswahlrecht. Die CDU konnte sich intern aber nicht einigen. So setzte sich am Ende (gegen die Stimmen von CDU/CSU) ein Vorschlag der SPD durch, die Hälfte der Abgeordneten durch Mehrheitswahlrecht und die andere Hälfte durch Bundeslisten unter Anrechnung der Direktmandate zu bestimmen. Die alliierten Siegermächte setzten noch eine Sperrklausel durch, nach der eine Partei nur in einem Bundesland die Fünf-Prozent-Hürde überspringen musste. Der bis heute gültige Grundsatz der personalisierten Verhältniswahl galt somit schon bei der ersten Bundestagswahl 1949.
Nicht wenige in der Ampel fanden diese Aussicht sehr unterhaltsam, man schätzt dort das selbstbewusste bis breitbeinige Auftreten nur wenig. Und trägt der Union nach, dass sie seit vielen Jahren keine mehrheitsfähigen Reformvorschläge vorlegte.
Das Gericht aber stellt klar: das geht zu weit. Die Bundesregierung, welche dann auch immer, soll nachbessern. Eine Lösung mit einer anderen Sperrklausel oder einer Art Zusammenrechnung von CDU und CSU wäre denkbar. Für die Wahl im Herbst 2025 ist nun wieder die Grundmandatsklausel in Kraft.
CSU-Chef Söder nennt Wahlrecht-Urteil eine „Klatsche für die Ampel“
In der Bundespolitik sehen sich nun beide Seiten als Gewinner. Hinter den Kulissen der Ampel wurde noch in der Nacht die Devise ausgegeben, das Urteil als Erfolg zu werten. „Voll und ganz“ sei man „in der entscheidenden Frage der Verkleinerung des Bundestags“ bestätigt worden, triumphiert FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle, der nach Karlsruhe gereist ist. Die Verkleinerung sei „vollbracht und verfassungsgemäß“, sagt SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese.
Eine „Klatsche für die Ampel“, man habe eine „angedachte Wahlmanipulation“ gestoppt, kontert CSU-Chef Markus Söder. Seine Partei, seine Staatsregierung und 195 Mitglieder der Unionsfraktion waren die Kläger, übrigens kurioserweise an der Seite der Linken. CSU-Politiker drohen zudem offen damit, nach der nächsten Wahl das Recht wieder so zu ändern, dass alle Direktmandate zugeteilt werden.
CDU-Chef Merz will Wahlrecht erneut reformieren – noch vor Bundestagswahl
Merz schlägt trotzdem vor, die nächste Reform doch noch gemeinsam anzupacken, sogar zügig. Das könne „noch vor der nächsten Bundestagswahl“ und sogar „umfassend“ gelingen. Zielgröße: 600 Abgeordnete, darunter aber alle Wahlkreis-Sieger. Tatsächlich warnen besonnenere Köpfe in beiden Lagern vor einem Sittenverfall, dass fortan jede Regierung nach Gutdünken ein ihr passendes Wahlrecht mit einfacher Mehrheit im Bundestag durchboxt.

Lauter Gewinner also? Tatsächlich reihen sich auch zwei kleine Parteien bei den angeblichen Siegern ein. Die Linke, nach der BSW-Abspaltung zerrupft, hofft auf eine Rettung, indem sie wieder drei Direktmandate holt. 1994 gelang das dem Vorläufer PDS, 2021 der Linken in Berlin und Leipzig. Dann würde sie trotz Umfragewerten von drei Prozent im Bundestag bleiben. Von „Aufwind“ spricht der Abgeordnete Gregor Gysi.
Ein ähnliches Kunststück versuchen Optimisten bei den Freien Wählern. Auch hier ist die Fünf-Prozent-Hürde bundesweit fern. Parteichef Hubert Aiwanger hätte in Niederbayern gute Chancen auf ein Direktmandat. Einige bekannte Kommunalpolitiker sollen es zudem in Bayern, Brandenburg und vielleicht Rheinland-Pfalz versuchen; zwei weitere würden ja reichen. Die wahren Gewinner dieses Tages wären dann die Freien Wähler. Aiwanger jedenfalls klingt sehr munter: „Der Vorstoß der Ampel war ein undemokratischer Rohrkrepierer“, verbreitet er. Und: „Ich halte das Urteil für vernünftig.“ (Christian Deutschländer, Wolfgang Hauskrecht)